29. Januar 2020

Cramer sperrt sich gegen Kleinklassen

Die Lehrer in Basel­Stadt haben langsam die Nase voll von den Auswüchsen der integrativen Schule. Sie stehen jedes Jahr vor einer Herkulesaufgabe: Sie müssen Schüler und Schülerinnen in den Unterricht einbinden, die von ihren kognitiven Fähigkeiten her meilenweit hinter allen anderen herhinken.

Will Kleinklassen verhindern: Erziehungschef Conradin Cramer, Bild: Pino Covino
Alle wollen die Kleinklassen zurück - ausser der Basler Regierung, Basler Zeitung, 29.1. von Katrin Hauser


Samuel Lerch, früherer Kleinklassenlehrer aus Basel, erzählt: «In ersten Oberstufenklassen kommt es häufig vor, dass ein Schülerden10er­Übergang(also 9 + 8 beispielsweise) noch nicht beherrscht, während andere bereits die ersten algebraischen Gleichungen lösen.» Eine Spannweite, mit der es erst einmal umzugehen gilt. Dazu kommt, dass es gemäss Aussagen der Lehrer viel schwieriger wurde, verhaltensauffällige Kinder aus einer Regelklasse zu nehmen. 

Therapie-Stafetten 
Auch die Freiwillige Schulsynode Basel­Stadt kritisiert das jetzige System. Es sei mittlerweile kein Ausnahmefall mehr, so Präsident Jean­Michel Héritier, dass manche Kinder in derselben Woche zur Logopädie, Psychomotorik und zur Deutschförderung gehen müssen. «Mit solchen Therapiestafetten überfordert man die Kinder, anstatt sie wirkungsvoll zu unterstützen.»

Nicht nur Lehrer und Schulsynode wollen die Kleinklassen zurück: Politiker von den Grünen bis zur SVP stehen hinter der Motion «Aufhebung des Kleinklassenverbots», die im Juni 2019 von Martina Bernasconi (FDP) eingereicht und wenige Monate später mit 76 Ja­Stimmen an die Regierung überwiesen wurde. Nur Erziehungsdirektor Conradin Cramer und seine Partei, die LDP, wollen diesem Anliegen partout nicht nachgeben. So stimmte die gesamte LDP­Fraktion als einzige gegen das Anliegen. Und auch die Basler Regierung will die Motion nicht umsetzen. Dies liest sich aus einem Schreiben des Regierungsrats, das Mitte Januar publiziert wurde. 

Die Regierung stellt sich darin auf den Standpunkt, Basel-Stadt würde die Aufgaben, die in sämtlichen anderen Kantonen die Kleinklassen übernehmen, bereits abdecken. Schliesslich gebe es Sonderschulen, in welche nicht normal beschulbare Kinder überwiesen werden könnten. Diese bieten laut Regierung den Vorteil, dass auch ohne die Einwilligung der Eltern eine Überweisung stattfinden kann. Weniger schwerwiegende Fälle fange man mithilfe der Integrierten Schulförderung (ISF) auf.

Unqualifizierte Betreuer
Genau dieses «Auffangen» bereitet den Lehrpersonen in Basel Mühe. Die Unterschiede seien teilweise so gross, dass die ganze Klasse unter der Betreuung lernschwacher Schüler zu leiden habe. Auch gehe es extrem lange, bis Schülerinnen und Schüler, bei denen abzusehen ist, dass sie nicht normal beschult werden können, aus einer Regelklasse genommen werden. «Ich erinnere mich an ein Kind, das zwanghaft andere Schüler geplagt hat», erzählt eine Lehrperson. Die Angriffe seien auch körperlicher Natur gewesen. 

Genaueres möchte sie zum Schutz des Kindes nicht erzählen. «Es vergingen Jahre, bis die ganzen Abklärungen abgeschlossen waren und das Kind aus der normalen Schule genommen wurde.» Gemäss Jean­Michel Héritier sind vier bis fünf verhaltensauffällige Kinder pro Klasse mittlerweile der Normalfall im Kanton Basel­Stadt. Eine Lehrperson erzählt des Weiteren von einem autistischen Kind, das zwar innerhalb der Klasse seine eigene Betreuungsperson hatte – diese sei jedoch nicht vom Fach gewesen.«Es ist gut, dass uns zusätzliche Betreuungspersonen zur Seite gestellt werden. Oftmals handelt es sich dabei jedoch um Personen ohne Qualifizierung.» Das Erziehungsdepartement (ED) Basel­Stadt bestreitet diesen Vorfall: «Wir haben vereinzelt Vorpraktikanten oder Zivildienstleistende, die die Kinder begleiten»,schreibt Mediensprecherin Valerie Rhein. Diese würden jedoch einfache Aufgaben übernehmen wie beispielsweise beim Schuhe­Binden helfen. In den allermeisten Fällen handle es sich um «qualifizierte Assistenzen». Der Vorwurf, die Abklärungen würden Jahre dauern, weist das ED ebenfalls zurück: «Natürlich dauert es eine gewisse Zeit, weil wir die Abklärungen durch den Schulpsychologischen Dienst seriös durchführen möchten und auch der anschliessende Entscheidungsprozess Zeit braucht.» Ganz sicher nicht möglich sei jedoch eine über drei Jahre dauernde Wartezeit.

Bestrafung für Schüler
Fakt ist, dass die Anzahl der Abklärungen auf dem Schulpsychologischen Dienst in den letzten Jahren wieder zugenommen hat (siehe Grafik). 2018 wurden1853 Schüler dort abgeklärt. 2017 waren es noch 1636 Kinder. Wie viele davon an Sonderschulen überwiesen wurden, kann man den Daten nicht entnehmen. Gemäss Samuel Lerch liegt die Schwelle, um in eine Kleinklasse überwiesen zu werden, wesentlich tiefer als bei Sonderschulen. Dabei wäre eine solche Überweisung für viele Schüler besser: «Wenn ich als ISF­Lehrperson einen Schüler aus dem Unterricht in ein separates Zimmer nehmen wollte, nahm dieser Schüler das oft als Bestrafung wahr.» Damit würde offensichtlich, dass er «anders» ist als die anderen. «Diese Kinder hängen dann ab. Sieverlieren die Freude am Lernen und entwickeln nicht selten Verhaltensauffälligkeiten.»

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