2. Dezember 2019

Unterricht, digitalisiert

Der digitale Wandel werde den Schulunterricht revolutionieren, heisst es. Was ändert sich wirklich, wenn Jugendliche vor allem am Bildschirm lernen? Ein Besuch in einer Französischklasse am linken Zürichseeufer gibt Antworten.
Alors, klappt eure Tablets auf! NZZ, 28.11. von Robin Schwarzenbach

«Nimmst du es auf? Du musst es aufnehmen.» – «Nein, wir müssen zuerst üben!» – «Ok, dann üben wir’s.» Roberta und Céline* haben sich im Schulhaus Rotweg in Wädenswil mit ihren Tablets in einen Gruppenarbeitsraum zurückgezogen. Die Sekundarschülerinnen wollen zusammen eine Hörgeschichte auf Französisch aufnehmen, über die frühen Morgenstunden an einem Schultag.

Geschrieben haben sie den kurzen Text bereits, auf Papier. Doch jetzt geht es darum, ihn zu vertonen, am Computer. Beziehungsweise zu proben. Also los: «Louise, tu te lèves! C’est six heures.» – «Ensuite, ma mère allume la radio.» – Und dann beide zusammen: «Louise! Tu te lèves! Mange le petit déjeuner . . .!»

Die beiden Mädchen müssen fest kichern. Doch dann machen sie zielstrebig weiter. Und dann noch einmal von vorne. Und dann – nachdem sie das richtige Programm nach mehreren Versuchen endlich gefunden haben auf dem Tablet – starten sie die Aufnahme: «Louise, tu te lèves . . .!»

Jedem Kind ein Tablet
Seit den Sommerferien arbeiten Roberta, Céline und die anderen Schüler der ersten Sek in Wädenswil nicht nur mit Büchern und Heften, sondern auch mit Tablets. Ihr Jahrgang ist der erste in der Stadt am Zürichsee, der «1:1» ausgerüstet wurde: Jedes Kind hat beim Eintritt in die Oberstufe ein aufklappbares Gerät samt Tastatur bekommen. «Wir wollen beim digitalisierten Unterricht vorne mit dabei sein», sagt Paolo Castelli, der Schulleiter. Daher habe er sich für 1:1 starkgemacht.

Das trifft sich gut, denn seit diesem Schuljahr verwenden Schüler und Lehrer am Rotweg das Französischlehrmittel «Dis donc!», das nach 2017 und 2018 für die fünfte und sechste Primarklasse nach den Sommerferien in Zürich und in weiteren Kantonen der Ost- und der Zentralschweiz auch für die Oberstufe erschienen ist. Wädenswil hat sich – wie mehr als die Hälfte der «Dis donc!»-Gemeinden – für «100 pour cent digital» entschieden, wie es in der Broschüre des Lehrmittelverlags Zürich heisst, also für die volldigitalisierte Version.

Was bedeutet das, «volldigitalisiert»? Ist damit auch eine völlig neue Form des Unterrichts gemeint?

Tippen direkt am Bildschirm
Im Schulhaus in Wädenswil bedeutet «Dis donc!» zunächst, dass die Schülerinnen und Schüler kein gebundenes Französischbuch mehr haben. Das Lehrmittel, in der gedruckten Ausgabe 130 Seiten stark, ist komplett und über ein Log-in nur am Bildschirm einsehbar. Schreibaufgaben können mit dem Cursor direkt am Bildschirm gelöst werden.
Zudem stehen den 13-Jährigen am Touchscreen weitere Elemente zur Verfügung. Vor der Aufnahme ihrer Hörgeschichte beispielsweise tippen Roberta und Céline auf einen Button, der ihnen anzeigt, wie die Lehrerin ihr Stück später bewerten wird (Verständlichkeit, Korrektheit, Aussprache und so weiter).

Nachher stehen in der Französischstunde sogenannte «Mini-Histoires» auf dem Programm: Die 24 Schülerinnen und Schüler der Sek-A-Klasse hören sich auf ihren Tablets kurze Sätze an; dann müssen sie entscheiden, ob das Geräusch, das darauf folgt, dazu passt oder nicht – und falls nicht, sollen sie (auf Deutsch) ein Geräusch notieren, das zur Aussage passt.
Gegen Ende des Schuljahrs werden sich die Schüler für eine weitere Aufgabe nicht nur einen Comic, sondern auch einen französischen Werbefilm mit einem Goldfisch anschauen, der in einer Apotheke notfallmässig mit einem (erstaunlich elastischen) Kondom als Ersatz-Behälter vorliebnehmen muss, da sein Wasserglas kurz vorher auf der Strasse zerbrochen ist. Der Fisch überlebt die dramatische Szene. Die Botschaft, die am Ende eingeblendet wird: «Un préservatif peut sauver une vie.»

«Créative», «amusante», «choquante» oder «nulle»? Die Schüler können danach mit einem oder mehreren Häkchen kundtun, was sie von der «campagne» halten – und mit der lustigen Pointe am Schluss bekommen sie augenscheinlich demonstriert, wie simple Werbetexte zu verstehen sind und wie man «pouvoir» verwenden kann in einem Satz. Beides gehört zu den Lernzielen dieses Kapitels.

Positive Emotionen, lebensnahe Inhalte
Sprechen, Hören, Filme schauen – oder Lernlieder singen mit dem Freiburger Sänger Gustav in der Primarschule: «Chouette! / C’est la rentrée!» – oder singen die Kinder statt «Chouette!» (Toll!) vielleicht doch lieber «Zut!», wenn sie nach den Ferien wieder in die Schule müssen? In dem Lied kommen beide Möglichkeiten vor.

Das Ziel ist auch hier klar: Positive Emotionen, lebensnahe, empathisch aufbereitete Inhalte und eine Prise Humor sollen zum Lernen motivieren. Bei der Ausgestaltung des Lehrmittels haben die Macher auch die Meinung von 250 Schülerinnen und Schülern einfliessen lassen.
Doch auch hier geht es nicht darum, einfach auf Play zu tippen und sich zurückzulehnen in der Französischstunde. Die Schüler haben einen Auftrag zu erfüllen: So sollen sie beim Hören oder Mitsummen von Gustavs Lied in den Kopfhörern auf die Aussprache achten, konkret auf «ch», «z», «ou» und «u» in «chouette» und «zut».

 «Dis donc!» erhält gute Noten. Bettina Imgrund, Leiterin des Fachbereichs Fremdsprachen an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, hält den Medienmix, den das neue Lehrmittel realisiert habe, für eine «unglaubliche Leistung». Die Elemente aus Bewegtbild und Ton am Touchscreen seien «für die weitere Entwicklung des Französischunterrichts von grosser Bedeutung». Eine Fallstudie aus dem Kanton Thurgau zeige zudem, dass der digitale Zugang zu Französisch den Schülern gefalle.

Erste Erkenntnisse der PH Zürich deuten in eine ähnliche Richtung. Über 90 Prozent der befragten Fünftklässler gaben an, dass ihnen die Übungen am Tablet eher oder sehr gefallen. Am Schulhaus Rotweg in Wädenswil klingelt die Pausenglocke. Die Zeit in der «Lernlandschaft», in der sich Schüler verschiedener Klassen in einem grossen Raum mit Arbeitsplätzen (oder wie Céline und Roberta im Gruppenraum) möglichst selbständig mit ihren Aufgaben in mehreren Fächern beschäftigen, ist um. Jetzt folgt die eigentliche Französischstunde in einem Klassenzimmer nebenan.

Regina Hartmann, die Lehrerin, nimmt das Thema der Hörgeschichte noch einmal auf: Die Jugendlichen sollen sich jeweils zu zweit erzählen, was sie zu Hause machen nach dem Aufstehen an einem Schultag. «Au moins six phrases; das ist ein Lernziel», sagt Hartmann in die Runde. Interaktion von Schüler zu Schülerin ist gefragt. Die Arbeit an den Tablets soll den Unterricht nicht komplett dominieren.

Wenn das WLAN überlastet ist
Doch wenn man nicht aufpasst, könnte genau das passieren. Die Französischdidaktikerin Bettina Imgrund lobt zwar die klare Struktur des Lehrmittels: Übung für Übung, Auftrag für Auftrag, Kapitel für Kapitel können die Schüler den Stoff selbständig erarbeiten und dabei – wie es dem Geist des Lehrplans 21 entspricht – auch immer wieder dokumentieren, wie sie sich selber einschätzen. Oder Vokabeln üben über den Online-Karteikarten-Anbieter Quizlet, was die Jugendlichen in Wädenswil zwischendurch an ihren Touchscreens ebenfalls tun.

Imgrund allerdings fragt sich: Wie viel Digitalisierung, wie viel Selbständigkeit in der Schulstunde ist zu viel? Und was bedeutet das für die Lehrerinnen und Lehrer – deren Position im Klassenzimmer von computerisierten, weitgehend selbsterklärenden Materialien zumindest zum Teil bedrängt werden könnte, wie häufig befürchtet wird?

Die Realität in der Klasse von Regina Hartmann indes vermittelt ein anderes Bild. Das Schulzimmer ist mit einem riesigen Bildschirm ausgestattet, der mit dem Computer der Lehrerin verbunden ist. Hartmann will ihren Schülern zeigen, wie sie ihre Selbsteinschätzung am Ende des ersten Kapitels ausfüllen können – doch es funktioniert nicht. Das Netzwerk des Schulhauses ist wegen der vielen aufgestarteten Tablets im Raum überlastet. Wenn das passiert, geht auf den webbasierten Plattformen von «Dis donc!» gar nichts mehr.

Doch Hartmann, 60, seit Jahrzehnten im Beruf, bringen solche Pannen nicht aus der Ruhe. Eine weitere Übung aus dem Lehrmittel hat sie vor der Stunde ausgedruckt. Nicht weil sie der Internetverbindung von vornherein nicht traute, sondern weil sie will, dass ihre Schüler (mit Blick auf die handschriftlichen Prüfungen) auch auf Papier arbeiten – ein Back-up freilich, das sich bei technischen Problemen besonders bezahlt macht.

Oldschool zieht nach wie vor
Hartmann war zunächst skeptisch, als sie erfuhr, dass ihre Schule die komplett digitalisierte Version einführen werde. Und dann noch diese ärgerlichen Störungen! Trotzdem sagt die Lehrerin: «Ich bin begeistert – das Lehrmittel holt die Schüler in ihrer Welt ab, und die vielen unterschiedlichen Übungen am Compi machen es möglich, dass sie individuell vorgehen und schneller da weitermachen können, wo sie in der letzten Stunde stehengeblieben sind.» Sofern das Internet funktioniert.

Falls sich die Schüler wieder nicht einloggen können, kennt Hartmann den einen oder anderen Trick: drei von vier Geräten im Raum wieder zuklappen lassen zum Beispiel; den Browser wechseln oder einem Knaben, der auf seinem Smartphone ein unlimitiertes Abo hat, einen Handypass geben, damit er sein Gerät in der Französischstunde benutzen darf und sich damit einen Hotspot einrichten kann.

Einfacher dürfte Schulunterricht mit Tablets und digitalisierten Materialien nicht werden. Die Lehrer müssen weiterhin ein Auge dafür haben, wer sich den Stoff selbständig erarbeiten kann und wer Unterstützung braucht, sei es durch andere Schüler oder – ganz altmodisch – von ihnen, im direkten Austausch. Lehrer und Schüler sollten einander auch vertrauen für einen guten Umgang mit Chat-Tools: Die Lehrer kontrollieren nicht, und die Schüler verwenden die Software auf ihren Tablets nicht für private Zwecke, sondern um Gruppenarbeiten voranzutreiben.

In der ersten Sekundarklasse von Regina Hartmann klappt das gut. Die einen Schüler schreiben an diesem Nachmittag auf Papier, die anderen tippen am Touchscreen, wieder andere gehen mit der Lehrerin einen Text durch, den sie von Hand geschrieben haben. Doch mit dem Englischbuch (100 Prozent nichtdigital) arbeiteten sie ebenfalls gerne, sagen die Schüler. Und die nagelneuen Tablets? «Ja, cool», meint ein Knabe. «Aber mein Laptop zu Hause ist besser.»

* Namen der Schülerinnen geändert.


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