Alors, klappt eure Tablets auf! NZZ, 28.11. von Robin Schwarzenbach
«Nimmst du es auf? Du musst es aufnehmen.» – «Nein, wir müssen zuerst
üben!» – «Ok, dann üben wir’s.» Roberta und Céline* haben sich im Schulhaus
Rotweg in Wädenswil mit ihren Tablets in einen Gruppenarbeitsraum
zurückgezogen. Die Sekundarschülerinnen wollen zusammen eine Hörgeschichte auf
Französisch aufnehmen, über die frühen Morgenstunden an einem Schultag.
Geschrieben haben sie den kurzen Text bereits, auf Papier. Doch jetzt
geht es darum, ihn zu vertonen, am Computer. Beziehungsweise zu proben. Also
los: «Louise, tu te lèves! C’est six heures.» – «Ensuite, ma mère allume la
radio.» – Und dann beide zusammen: «Louise! Tu te lèves! Mange le petit
déjeuner . . .!»
Die beiden Mädchen müssen fest kichern. Doch dann machen sie zielstrebig
weiter. Und dann noch einmal von vorne. Und dann – nachdem sie das richtige
Programm nach mehreren Versuchen endlich gefunden haben auf dem Tablet –
starten sie die Aufnahme: «Louise, tu te lèves . . .!»
Jedem Kind ein Tablet
Seit den Sommerferien arbeiten Roberta, Céline und die anderen Schüler
der ersten Sek in Wädenswil nicht nur mit Büchern und Heften, sondern auch mit
Tablets. Ihr Jahrgang ist der erste in der Stadt am Zürichsee, der «1:1»
ausgerüstet wurde: Jedes Kind hat beim Eintritt in die Oberstufe ein
aufklappbares Gerät samt Tastatur bekommen. «Wir wollen beim digitalisierten
Unterricht vorne mit dabei sein», sagt Paolo Castelli, der Schulleiter. Daher
habe er sich für 1:1 starkgemacht.
Das trifft sich gut, denn seit diesem Schuljahr verwenden Schüler und
Lehrer am Rotweg das Französischlehrmittel «Dis donc!», das nach 2017 und 2018
für die fünfte und sechste Primarklasse nach den Sommerferien in Zürich und in
weiteren Kantonen der Ost- und der Zentralschweiz auch für die Oberstufe
erschienen ist. Wädenswil hat sich – wie mehr als die Hälfte der «Dis
donc!»-Gemeinden – für «100 pour cent digital» entschieden, wie es in der Broschüre des Lehrmittelverlags
Zürich heisst, also für die volldigitalisierte Version.
Was bedeutet das, «volldigitalisiert»? Ist damit auch eine völlig neue
Form des Unterrichts gemeint?
Tippen direkt am Bildschirm
Im Schulhaus in Wädenswil bedeutet «Dis donc!» zunächst, dass die
Schülerinnen und Schüler kein gebundenes Französischbuch mehr haben. Das
Lehrmittel, in der gedruckten Ausgabe 130 Seiten stark, ist komplett und über
ein Log-in nur am Bildschirm einsehbar. Schreibaufgaben können mit dem Cursor
direkt am Bildschirm gelöst werden.
Zudem stehen den 13-Jährigen am Touchscreen weitere Elemente zur
Verfügung. Vor der Aufnahme ihrer Hörgeschichte beispielsweise tippen Roberta
und Céline auf einen Button, der ihnen anzeigt, wie die Lehrerin ihr Stück
später bewerten wird (Verständlichkeit, Korrektheit, Aussprache und so weiter).
Nachher stehen in der Französischstunde sogenannte «Mini-Histoires» auf
dem Programm: Die 24 Schülerinnen und Schüler der Sek-A-Klasse hören sich auf
ihren Tablets kurze Sätze an; dann müssen sie entscheiden, ob das Geräusch, das
darauf folgt, dazu passt oder nicht – und falls nicht, sollen sie (auf Deutsch)
ein Geräusch notieren, das zur Aussage passt.
Gegen Ende des Schuljahrs werden sich die Schüler für eine weitere
Aufgabe nicht nur einen Comic, sondern auch einen französischen Werbefilm mit
einem Goldfisch anschauen, der in einer Apotheke notfallmässig mit einem
(erstaunlich elastischen) Kondom als Ersatz-Behälter vorliebnehmen muss, da
sein Wasserglas kurz vorher auf der Strasse zerbrochen ist. Der Fisch überlebt
die dramatische Szene. Die Botschaft, die am Ende eingeblendet wird: «Un
préservatif peut sauver une vie.»
«Créative», «amusante», «choquante» oder «nulle»? Die Schüler können
danach mit einem oder mehreren Häkchen kundtun, was sie von der «campagne»
halten – und mit der lustigen Pointe am Schluss bekommen sie augenscheinlich
demonstriert, wie simple Werbetexte zu verstehen sind und wie man «pouvoir»
verwenden kann in einem Satz. Beides gehört zu den Lernzielen dieses Kapitels.
Positive Emotionen, lebensnahe Inhalte
Sprechen, Hören, Filme schauen – oder Lernlieder singen mit dem
Freiburger Sänger Gustav in der Primarschule: «Chouette! / C’est la rentrée!» –
oder singen die Kinder statt «Chouette!» (Toll!) vielleicht doch lieber «Zut!»,
wenn sie nach den Ferien wieder in die Schule müssen? In dem Lied kommen beide
Möglichkeiten vor.
Das Ziel ist auch hier klar: Positive Emotionen, lebensnahe, empathisch
aufbereitete Inhalte und eine Prise Humor sollen zum Lernen motivieren. Bei der
Ausgestaltung des Lehrmittels haben die Macher auch die Meinung von 250 Schülerinnen
und Schülern einfliessen lassen.
Doch auch hier geht es nicht darum, einfach auf Play zu tippen und sich
zurückzulehnen in der Französischstunde. Die Schüler haben einen Auftrag zu
erfüllen: So sollen sie beim Hören oder Mitsummen von Gustavs Lied in den
Kopfhörern auf die Aussprache achten, konkret auf «ch», «z», «ou» und «u» in
«chouette» und «zut».
«Dis donc!» erhält gute Noten.
Bettina Imgrund, Leiterin des Fachbereichs Fremdsprachen an der Pädagogischen
Hochschule Thurgau, hält den Medienmix, den das neue Lehrmittel realisiert
habe, für eine «unglaubliche Leistung». Die Elemente aus Bewegtbild und Ton am
Touchscreen seien «für die weitere Entwicklung des Französischunterrichts von
grosser Bedeutung». Eine Fallstudie aus dem Kanton Thurgau zeige zudem, dass
der digitale Zugang zu Französisch den Schülern gefalle.
Erste Erkenntnisse der PH Zürich deuten in eine ähnliche Richtung. Über
90 Prozent der befragten Fünftklässler gaben an, dass ihnen die Übungen am
Tablet eher oder sehr gefallen. Am Schulhaus Rotweg in Wädenswil klingelt die
Pausenglocke. Die Zeit in der «Lernlandschaft», in der sich Schüler
verschiedener Klassen in einem grossen Raum mit Arbeitsplätzen (oder wie Céline
und Roberta im Gruppenraum) möglichst selbständig mit ihren Aufgaben in
mehreren Fächern beschäftigen, ist um. Jetzt folgt die eigentliche
Französischstunde in einem Klassenzimmer nebenan.
Regina Hartmann, die Lehrerin, nimmt das Thema der Hörgeschichte noch
einmal auf: Die Jugendlichen sollen sich jeweils zu zweit erzählen, was sie zu
Hause machen nach dem Aufstehen an einem Schultag. «Au moins six phrases; das
ist ein Lernziel», sagt Hartmann in die Runde. Interaktion von Schüler zu
Schülerin ist gefragt. Die Arbeit an den Tablets soll den Unterricht nicht
komplett dominieren.
Wenn das WLAN überlastet ist
Doch wenn man nicht aufpasst, könnte genau das passieren. Die
Französischdidaktikerin Bettina Imgrund lobt zwar die klare Struktur des
Lehrmittels: Übung für Übung, Auftrag für Auftrag, Kapitel für Kapitel können
die Schüler den Stoff selbständig erarbeiten und dabei – wie es dem Geist des
Lehrplans 21 entspricht – auch immer wieder dokumentieren, wie sie sich selber
einschätzen. Oder Vokabeln üben über den Online-Karteikarten-Anbieter Quizlet,
was die Jugendlichen in Wädenswil zwischendurch an ihren Touchscreens ebenfalls
tun.
Imgrund allerdings fragt sich: Wie viel Digitalisierung, wie viel
Selbständigkeit in der Schulstunde ist zu viel? Und was bedeutet das für die
Lehrerinnen und Lehrer – deren Position im Klassenzimmer von computerisierten,
weitgehend selbsterklärenden Materialien zumindest zum Teil bedrängt werden
könnte, wie häufig befürchtet wird?
Die Realität in der Klasse von Regina Hartmann indes vermittelt ein
anderes Bild. Das Schulzimmer ist mit einem riesigen Bildschirm ausgestattet,
der mit dem Computer der Lehrerin verbunden ist. Hartmann will ihren Schülern
zeigen, wie sie ihre Selbsteinschätzung am Ende des ersten Kapitels ausfüllen
können – doch es funktioniert nicht. Das Netzwerk des Schulhauses ist wegen der
vielen aufgestarteten Tablets im Raum überlastet. Wenn das passiert, geht auf
den webbasierten Plattformen von «Dis donc!» gar nichts mehr.
Doch Hartmann, 60, seit Jahrzehnten im Beruf, bringen solche Pannen
nicht aus der Ruhe. Eine weitere Übung aus dem Lehrmittel hat sie vor der Stunde
ausgedruckt. Nicht weil sie der Internetverbindung von vornherein nicht traute,
sondern weil sie will, dass ihre Schüler (mit Blick auf die handschriftlichen
Prüfungen) auch auf Papier arbeiten – ein Back-up freilich, das sich bei
technischen Problemen besonders bezahlt macht.
Oldschool zieht nach wie vor
Hartmann war zunächst skeptisch, als sie erfuhr, dass ihre Schule die
komplett digitalisierte Version einführen werde. Und dann noch diese
ärgerlichen Störungen! Trotzdem sagt die Lehrerin: «Ich bin begeistert – das
Lehrmittel holt die Schüler in ihrer Welt ab, und die vielen unterschiedlichen
Übungen am Compi machen es möglich, dass sie individuell vorgehen und schneller
da weitermachen können, wo sie in der letzten Stunde stehengeblieben sind.»
Sofern das Internet funktioniert.
Falls sich die Schüler wieder nicht einloggen können, kennt Hartmann den
einen oder anderen Trick: drei von vier Geräten im Raum wieder zuklappen lassen
zum Beispiel; den Browser wechseln oder einem Knaben, der auf seinem Smartphone
ein unlimitiertes Abo hat, einen Handypass geben, damit er sein Gerät in der
Französischstunde benutzen darf und sich damit einen Hotspot einrichten kann.
Einfacher dürfte Schulunterricht mit Tablets und digitalisierten
Materialien nicht werden. Die Lehrer müssen weiterhin ein Auge dafür haben, wer
sich den Stoff selbständig erarbeiten kann und wer Unterstützung braucht, sei
es durch andere Schüler oder – ganz altmodisch – von ihnen, im direkten
Austausch. Lehrer und Schüler sollten einander auch vertrauen für einen guten
Umgang mit Chat-Tools: Die Lehrer kontrollieren nicht, und die Schüler
verwenden die Software auf ihren Tablets nicht für private Zwecke, sondern um
Gruppenarbeiten voranzutreiben.
In der ersten Sekundarklasse von Regina Hartmann klappt das gut. Die
einen Schüler schreiben an diesem Nachmittag auf Papier, die anderen tippen am
Touchscreen, wieder andere gehen mit der Lehrerin einen Text durch, den sie von
Hand geschrieben haben. Doch mit dem Englischbuch (100 Prozent nichtdigital)
arbeiteten sie ebenfalls gerne, sagen die Schüler. Und die nagelneuen Tablets?
«Ja, cool», meint ein Knabe. «Aber mein Laptop zu Hause ist besser.»
* Namen
der Schülerinnen geändert.
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