Freitagmorgen in der
Informatikstunde in der Primarschule Attinghausen in Uri. Am Tag davor war
Zukunftstag, und die Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse hatten die
Möglichkeit, eine Bezugsperson im Berufsalltag zu begleiten. Der Lehrer will zu
Beginn der Stunde anhand einer typischen Bewegung erraten, welchen Beruf die
Kinder kennenlernen durften. Von Bäcker über Pflegefachmann bis zur
Versicherungsfachfrau ist fast alles dabei – Informatiker hingegen fehlt.
Die Prinzipien von Informatik können ebenfalls auf Zetteln vermittelt werden, Bild: Karin Hofer
Informatik: Wie Primarschüler Geheimschriften entschlüsseln lernen - ganz ohne Computer, NZZ, 28.11. von Philipp Golmer
Knifflige Aufgabe auf Papier
Dann beginnt der Unterricht. Die Schülerinnen und Schüler erhalten
einen Zettel mit einem Text in Geheimsprache: «BEGI BDIC HZU RSCHAUKE LA
MSPIELPLATZ!» In Zweiergruppen sollen sie diesen entschlüsseln. Schnell haben
die Ersten das Problem erkannt – der letzte Buchstabe eines Wortes ist an das
nächste angehängt worden. Die Lösung: «Begib dich zur Schaukel am Spielplatz!»
Was auf den ersten Blick wie Sprachunterricht aussieht, soll ein Verständnis
dafür schaffen, dass Informationen aus einer Reihe von Symbolen bestehen – ein
fundamentales Prinzip von Informatik. Seit diesem Jahr haben Fünft- und
Sechstklässler im Kanton dafür eine zusätzliche Schulstunde in der Woche
bekommen.
Das war nicht immer so. Lange Zeit fehlte in Uri und der übrigen
Schweiz ein eigentlicher Informatikunterricht. Gelehrt wurde lediglich die
Benutzung von Computern und Programmen, nicht aber die Prinzipien dahinter, wie
Juraj Hromkovic, Professor für Informationstechnologie und Ausbildung an der
ETH Zürich, im Gespräch erläutert. 2005 gründete er das Ausbildungs-
und Beratungszentrum für den Informatikunterricht (ABZ) mit dem Ziel,
die Einführung von Informatik als Schulfach zu fördern.
Im
Schatten von Medienkunde
An Schweizer Schulen indes hat das Thema trotz Verankerung im
Lehrplan 21 nach wie vor einen sehr unterschiedlichen Stellenwert. In einigen
Kantonen ist die Wissenschaft «der automatischen Informationsverarbeitung»
(Hromkovic) bereits etabliert, in anderen steht Informatik immer noch im
Schatten von Medienkunde. Diese Vermischung kritisiert Hromkovic stark: «Der
Unterricht dreht sich zu oft um das Anwenden von Programmen, anstatt dass die
Kinder entdecken, was hinter dem Aufbau einer Software steht.»
Dazu hat Hromkovic das Lehrmittel «Einfach
Informatik» entwickelt. Während andere Unterrichtsmaterialien Medien
und Informatik im Paket behandeln, fokussiert
sich dieses Schulbuch auf den oft vernachlässigten Teil. Das Lehrmittel aus dem
Klett-Verlag führt die Schüler von den Wurzeln von Sprache in der Antike bis zu
den Prinzipien der Verschlüsselung von Informationen beim Online-Banking.
Auch das Komprimieren von Daten wird behandelt, wobei viel Wert auf
selbständiges Lernen gelegt wird. Die dabei vermittelte Herangehensweise an
Probleme soll den Kindern auch in anderen Fächern nützen. «Programmieren ist am
Ende nichts anderes, als Sprache zur Steuerung der Technik zu erschaffen», sagt
Hromkovic.
Thomas Walker, Schulleiter und Fachlehrer Informatik in
Attinghausen, lernte den Fachbereich über das ABZ kennen. Das Zentrum
unterstützt Lehrpersonen und Schulen bei der Einführung des Unterrichts.
Walkers Primarschule war vor etwas mehr als sieben Jahren Teil eines
Pilotprojekts im Kanton Uri.
Er selbst war überrascht, wie Informatikunterricht in der Praxis
aussieht. «Es hat zunächst sehr wenig mit Programmieren oder Robotik zu tun»,
sagt Walker. Ein Computer werde oft nicht benötigt. «Es geht nicht darum,
künftige Informatiker auszubilden, sondern den Kindern das Rüstzeug mitzugeben,
die Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft zu meistern.»
Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Schulhaus
strukturiert Walker den Stoff und klärt ab, welche Themen in anderen Fächern
behandelt werden können und was in der zusätzlichen Stunde Medien und
Informatik thematisiert werden soll. Vieles, was unter Medien falle, könne in
anderen Fächern aufgefangen werden, sagt Walker.
Die Trennung zwischen den beiden Bereichen sei vor allem für die
Lehrperson wichtig. «Beim einen geht es darum, mündige Menschen zu erziehen,
beim anderen, Problemlösungen zu finden.» Für die Schülerinnen und Schüler
hingegen ist es laut Walker weniger von Bedeutung, ob sie etwas im Bereich
Medien oder in Informatik lernen, solange sie die richtigen Kenntnisse und
Kompetenzen erlangen.
Nicht alle erreichen das gleiche Niveau
Walker arbeitet im Unterricht mit dem von Hromkovic entwickelten
Lehrmittel. Er weiss zu schätzen, dass das Buch keine fertigen Lösungen
präsentiere, sondern auf deren Herleitung eingehe. Zudem sei es von der
Komplexität her nach oben hin offen. «Viele Themen werden selbständig oder in
kleinen Gruppen erarbeitet», sagt Walker. «Das lässt zu, dass die Kinder ihr
eigenes Tempo einschlagen können. Nicht alle werden am Schluss das gleiche
Niveau beim Programmieren erreichen.»
Das zeigt sich beim Entschlüsseln der eingangs erwähnten
Geheimsprache: Während einige Schüler die Lösung bereits nach wenigen Minuten
gefunden haben, müssen andere länger grübeln. Auf jene, die das Rätsel gelöst
haben, wartet die nächste Übung: Sie erhalten einen weiteren Zettel mit
demselben Text, allerdings in einer komplexeren Geheimsprache. Das Ziel ist
wiederum, die unverständlichen Zeilen zu entschlüsseln.
Diese Aufgabe ist bereits etwas kniffliger. Die Kinder kritzeln
mit Bleistift Buchstaben auf ihr Papier. Eine Gruppe hält den Zettel gar ans
Fenster, um das Geheimnis zu lüften.
«Und wozu sind Geheimsprachen gut?», fragt Walker die Klasse zum
Schluss der Stunde. Ein Schüler hat die Antwort: So könne sein
Playstation-Account geschützt werden.
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