2. Dezember 2019

Informatikunterricht ist mehr als das Anwenden von Programmen

Freitagmorgen in der Informatikstunde in der Primarschule Attinghausen in Uri. Am Tag davor war Zukunftstag, und die Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse hatten die Möglichkeit, eine Bezugsperson im Berufsalltag zu begleiten. Der Lehrer will zu Beginn der Stunde anhand einer typischen Bewegung erraten, welchen Beruf die Kinder kennenlernen durften. Von Bäcker über Pflegefachmann bis zur Versicherungsfachfrau ist fast alles dabei – Informatiker hingegen fehlt.
Die Prinzipien von Informatik können ebenfalls auf Zetteln vermittelt werden, Bild: Karin Hofer

Informatik: Wie Primarschüler Geheimschriften entschlüsseln lernen - ganz ohne Computer, NZZ, 28.11. von Philipp Golmer


Knifflige Aufgabe auf Papier
Dann beginnt der Unterricht. Die Schülerinnen und Schüler erhalten einen Zettel mit einem Text in Geheimsprache: «BEGI BDIC HZU RSCHAUKE LA MSPIELPLATZ!» In Zweiergruppen sollen sie diesen entschlüsseln. Schnell haben die Ersten das Problem erkannt – der letzte Buchstabe eines Wortes ist an das nächste angehängt worden. Die Lösung: «Begib dich zur Schaukel am Spielplatz!» Was auf den ersten Blick wie Sprachunterricht aussieht, soll ein Verständnis dafür schaffen, dass Informationen aus einer Reihe von Symbolen bestehen – ein fundamentales Prinzip von Informatik. Seit diesem Jahr haben Fünft- und Sechstklässler im Kanton dafür eine zusätzliche Schulstunde in der Woche bekommen.

Das war nicht immer so. Lange Zeit fehlte in Uri und der übrigen Schweiz ein eigentlicher Informatikunterricht. Gelehrt wurde lediglich die Benutzung von Computern und Programmen, nicht aber die Prinzipien dahinter, wie Juraj Hromkovic, Professor für Informationstechnologie und Ausbildung an der ETH Zürich, im Gespräch erläutert. 2005 gründete er das Ausbildungs- und Beratungszentrum für den Informatikunterricht (ABZ) mit dem Ziel, die Einführung von Informatik als Schulfach zu fördern.

Im Schatten von Medienkunde

An Schweizer Schulen indes hat das Thema trotz Verankerung im Lehrplan 21 nach wie vor einen sehr unterschiedlichen Stellenwert. In einigen Kantonen ist die Wissenschaft «der automatischen Informationsverarbeitung» (Hromkovic) bereits etabliert, in anderen steht Informatik immer noch im Schatten von Medienkunde. Diese Vermischung kritisiert Hromkovic stark: «Der Unterricht dreht sich zu oft um das Anwenden von Programmen, anstatt dass die Kinder entdecken, was hinter dem Aufbau einer Software steht.»
Dazu hat Hromkovic das Lehrmittel «Einfach Informatik» entwickelt. Während andere Unterrichtsmaterialien Medien und Informatik im Paket behandeln, fokussiert sich dieses Schulbuch auf den oft vernachlässigten Teil. Das Lehrmittel aus dem Klett-Verlag führt die Schüler von den Wurzeln von Sprache in der Antike bis zu den Prinzipien der Verschlüsselung von Informationen beim Online-Banking.

Auch das Komprimieren von Daten wird behandelt, wobei viel Wert auf selbständiges Lernen gelegt wird. Die dabei vermittelte Herangehensweise an Probleme soll den Kindern auch in anderen Fächern nützen. «Programmieren ist am Ende nichts anderes, als Sprache zur Steuerung der Technik zu erschaffen», sagt Hromkovic.

Thomas Walker, Schulleiter und Fachlehrer Informatik in Attinghausen, lernte den Fachbereich über das ABZ kennen. Das Zentrum unterstützt Lehrpersonen und Schulen bei der Einführung des Unterrichts. Walkers Primarschule war vor etwas mehr als sieben Jahren Teil eines Pilotprojekts im Kanton Uri.

Er selbst war überrascht, wie Informatikunterricht in der Praxis aussieht. «Es hat zunächst sehr wenig mit Programmieren oder Robotik zu tun», sagt Walker. Ein Computer werde oft nicht benötigt. «Es geht nicht darum, künftige Informatiker auszubilden, sondern den Kindern das Rüstzeug mitzugeben, die Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft zu meistern.»

Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Schulhaus strukturiert Walker den Stoff und klärt ab, welche Themen in anderen Fächern behandelt werden können und was in der zusätzlichen Stunde Medien und Informatik thematisiert werden soll. Vieles, was unter Medien falle, könne in anderen Fächern aufgefangen werden, sagt Walker.

Die Trennung zwischen den beiden Bereichen sei vor allem für die Lehrperson wichtig. «Beim einen geht es darum, mündige Menschen zu erziehen, beim anderen, Problemlösungen zu finden.» Für die Schülerinnen und Schüler hingegen ist es laut Walker weniger von Bedeutung, ob sie etwas im Bereich Medien oder in Informatik lernen, solange sie die richtigen Kenntnisse und Kompetenzen erlangen.


Nicht alle erreichen das gleiche Niveau 

Walker arbeitet im Unterricht mit dem von Hromkovic entwickelten Lehrmittel. Er weiss zu schätzen, dass das Buch keine fertigen Lösungen präsentiere, sondern auf deren Herleitung eingehe. Zudem sei es von der Komplexität her nach oben hin offen. «Viele Themen werden selbständig oder in kleinen Gruppen erarbeitet», sagt Walker. «Das lässt zu, dass die Kinder ihr eigenes Tempo einschlagen können. Nicht alle werden am Schluss das gleiche Niveau beim Programmieren erreichen.»

Das zeigt sich beim Entschlüsseln der eingangs erwähnten Geheimsprache: Während einige Schüler die Lösung bereits nach wenigen Minuten gefunden haben, müssen andere länger grübeln. Auf jene, die das Rätsel gelöst haben, wartet die nächste Übung: Sie erhalten einen weiteren Zettel mit demselben Text, allerdings in einer komplexeren Geheimsprache. Das Ziel ist wiederum, die unverständlichen Zeilen zu entschlüsseln.
Diese Aufgabe ist bereits etwas kniffliger. Die Kinder kritzeln mit Bleistift Buchstaben auf ihr Papier. Eine Gruppe hält den Zettel gar ans Fenster, um das Geheimnis zu lüften.
«Und wozu sind Geheimsprachen gut?», fragt Walker die Klasse zum Schluss der Stunde. Ein Schüler hat die Antwort: So könne sein Playstation-Account geschützt werden.

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