Letztes Jahr war ich in Palermo, um mir anlässlich der Biennale eine
Arbeit des Künstlers Leone Contini im Orto Botanico anzusehen. Contini hatte
ein Kürbisfeld angelegt, in dem er Pflanzensamen, welche chinesische,
arabische, philippinische und sri-lankische Einwanderer nach Italien gebracht
hatten, mit einheimischen Samen vermischte und in die Erde setzte.
Martin R. Dean: Das Angebot der Literatur zur Lebensbewältigung nutzen, Bild: SRF
Unique-Gemüse, bitte auch in der Schule! St. Galler Tagblatt, 30.11. von Martin R. Dean
In zehn Jahren war so ein Garten entstanden, in dem die Vielfalt der
Arten den Betrachter mit lauter absurden und witzigen Kürbisformen überraschte
– bei unseren Grossverteilern wären sie allesamt im Regal für Unique-Gemüse
gelandet. Die Kunstarbeit erinnerte mich an die «Klassenbiotope» in unseren
Gymnasien, in denen ein wachsender Anteil der Schülerinnen und Schüler
eingewanderte Eltern haben.
Wer von den Schülern mit Migrationshintergrund am Gymnasium aufgenommen
ist, der hat es geschafft und braucht keine spezielle Aufmerksamkeit mehr.
Diese Lehrermeinung ist weit verbreitet. Schüler und Schülerinnen aus Kulturen
haben sich dem gängigen Lehrplan und dem helvetischen Kanon anzupassen.
Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist: es soll und darf an
Schulen keine Extrabeurteilungen geben. Die Gleichbehandlung und die
Gerechtigkeit sind ein hohes Gut. Zu fragen wäre aber auch: Erzwingt man so
nicht Anpassung per Notendruck? Könnte der Umgang mit Schülern mit einem
nichthelvetischen Hintergrund nicht anders aussehen? Verpasst man hier nicht
eine Chance?
Jeder, der neu ist in einer Gesellschaft, fragt sich naturgemäss: Wer bin
ich, wo ist mein Platz in dieser Gesellschaft? Das aber sind Fragen, auf die
unsere Schulen seit jeher Antworten haben, ja, auf die sie geradezu
spezialisiert sind. Es ist die Literatur, die Fragen zum Selbstverständnis des
Menschen aufwirft, sie bringt Schüler und Schülerinnen jedweder Herkunft
miteinander ins Gespräch, indem die Selbstverortung und die Identität, die
Werte und das Inderweltsein zur Diskussion stellt.
Literatur bietet mehr als nur Trockenübung in Deutungsakrobatik, sie
offeriert ein hoch ausgeklügeltes System von Empathiemustern,
Fremdidentifikation und simulierten Versuchsanordnungen an.
Ohne Budgetaufwand stellen beispielsweise der multikulturelle Beziehungs-
und Dorfkenner Gottfried Keller, der Rassismus- und Gerechtigkeitsexperte
Heinrich von Kleist, die migrationskundige Anna Seghers und der Aussenseiter
Robert Walser Texte zur Verfügung, mit denen sich die Herkunfts- und
Lebensgeschichten der Schülerinnen und Schüler wie im Kürbisfeld von Contini
verweben lassen.
Deutsche Literatur, aber auch zunehmend gut übersetzte Bücher aus
anderen Weltgegenden bieten sich an, Schüler dort abzuholen, wo sie herkommen.
Sie bringen ihre Geschichten mit, Erzählungen aus unbekannten Gegenden, die
vielleicht genauer, eindringlicher und richtiger Auskunft über ihr Leben geben
als Nachrichten. Auch darüber, wie sie in die Schweiz gelangt sind. Was war der
Grund für ihr Weggehen? Wie haben sie in der alten Heimat gelebt, gekocht und
geliebt? Und wie gehen sie mit zwei Heimatländern um?
Zu stark sind die Schulen mit der Digitalisierung beschäftigt, als dass
sie sich in den Lehrplänen ausgereifte Gedanken machen könnten über die Chancen
eines interkulturellen Unterrichts. Aber der Erfolg der Bildung wird nicht von
der Digitalisierung entschieden.
Geschichtenerzählen heisst einbürgern, sich bekannt machen und
Gemeinsamkeit herstellen. Als Schriftsteller interessieren mich die Geschichten
von Menschen, denn ohne Geschichte hat nicht nur der Kürbis, sondern auch der
Mensch keine Identität. Identität entsteht durch Narration. Erst wer erzählt,
wird seiner eigenen Geschichte mächtig.
In den Bildungsanstalten lernen wir nicht nur Stoffe, sondern auch, uns
unsere eigene Geschichte zu erzählen, um über sie zu verfügen. Und die neuen
Lebenserfahrungen gehören selbstredend auch zur Geschichte der modernen
Schweiz. Nur wer das Gefühl hat, in allem überlegen zu sein, interessiert sich
nicht für die Geschichten der anderen. Und: wer keine Geschichte hat, der
existiert nicht.
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