1. Dezember 2019

Lob des Spiels


Kinder lernen spielend. Aber wir lassen sie nicht. Schon gar nicht, wenn das Wetter draussen garstig ist. Eine Erklärung, wieso es nötig ist, Kinder wieder häufiger frei spielen zu lassen.
Statt am Computer zu arbeiten, besser nach draussen gehen und Fussball spielen, Bild: CH Media
Kinder sollen wieder spielen: Schluss mit Förderkursen, Oltner Tagblatt, 1.12. von Sabine Kuster


Die Kieselsteine liegen hart und glatt in der Hand. Jeder anders geformt. Im Schulhaus Weiach hat ein Drittklässler in einem Wurfspiel so viele Steine abgeräumt, dass sie ihm jetzt durch die Finger purzeln und die Hosensäcke wölben. «Zu Hause», sagt der Vater, «spielt er nur Fussball oder hängt am Computer.» Er zuckt mit den Schultern, selber sei er kein Fussballfan und habe als Kind draussen Versteckis gespielt oder Fangis.

In der Schule Weiach ZH unten am Rhein war am Dienstag Spieltag. Die Eltern waren auch eingeladen, Spielpädagoge Hans Fluri war mit seinen tausend Ideen zu Gast. Im hinteren Teil der Turnhalle hauen drei Buben mit Plastikrohren aufeinander ein. Dann entdecken sie den grossen Fallschirm am Boden. Ein Bub setzt sich hin und versucht, mit dem Rohr Luft unter den Schirm zu blasen. Die anderen machen es ihm nach. Sie kichern.

Schulleiter David Leipold begründete den Anlass so: «Wenn die Kinder im Spiel Strategien lernen, lernen sie das Lernen.»

Den Kindern bleibt keine Zeit für eigene Ideen
Aus der Freizeit wird das Spiel immer mehr verdrängt. Es gibt Kindergärtler, die besuchen wöchentlich einen Schwimmkurs, den FC, eine Märlistunde. Spielpädagogin Susanne Stöcklin-Meier kennt einen solchen Fall. Sie findet, es werde zu viel organisiert für die Kinder und immer komme etwas Neues.

Das gibt dem Gehirn keine Zeit, um starke Verknüpfungen zu machen. Kinder lernen erst nach der x-fachen Wiederholung. Erst dann können sie drauf aufbauen.

Mit den gutgemeinten Freizeitaktivitäten werden Kinder fremdbestimmt. Es bleibt wenig Zeit, um mit einem Plastikrohr einen Fallschirm aufzublasen. Es hat sich etwas verkehrt. An Schulen wird gespielt. In der Freizeit wird gefördert.

Die Zeit, welche den Kindern fehlt, um selber zu planen und Einfälle zu haben, wirkt sich negativ auf ihre Psyche aus. Laut einer Auswertung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) hat die Zahl der Psychiatrie-Besuche von Kindern und Jugendlichen in den letzten zehn Jahren um 64 Prozent zugenommen.

Leistungsanforderungen, gestresste Eltern, die Digitalisierung ... über die Ursachen wird längst diskutiert. Aber selten, was dagegen hilft.

Eigentlich wär’s beste Vorbereitung fürs spätere Arbeitsleben
Hört man dem St. Galler Kinderneurologen Markus Weissert zu, dann wäre das freie Spiel ein richtiges Wundermittel, um Grundlegendes zu lernen: Flexibilität, Kreativität, Empathie, Sozialkompetenz. «Also genau das, was die Berufswelt heute fordert», sagt Weissert. «Die Eltern organisieren so viel – warum nicht auch das Rausgehen ohne Ziel? Die Kinder lernen selber, aber nur, wenn wir ihnen die Gelegenheit dazu geben.»
Im Wald, am Bach, halt in Umgebungen, deren Zweck nicht vorgeschrieben sind. Ein Ort mit Holzrugeln vielleicht, ein Laubhaufen, ein Hügel. «Unaufgeräumte Orte mit einer hohen Biodiversität sind immer auch gut für Kinder», sagt Weissert. Diesmal meint er nicht ihre Psyche oder Kompetenzen, sondern schlicht die körperliche Gesundheit.

Es ist erwiesen, dass ein vielseitiger Boden das Immunsystem der Kinder trainiert und so vor späteren Krankheiten wie Allergien und entzündlichen Darmerkrankungen schützt.
Beides komme heute immer häufiger vor. «Kinder brauchen das Mikrobiom der Natur.»
Das Spiel draussen beinhaltet auch die Bewegung, an der es vielen Kindern mangelt. Und Tageslicht: Die Kurzsichtigkeit bei Kindern nimmt nicht nur in asiatischen Ländern drastisch zu, sie steigt auch hierzulande. Zu wenig Tageslicht und zudem das Starren auf nahe Objekte kann zu einer Verlängerung des Augapfels führen. Schon nur deswegen sollten sich Kinder eine, besser zwei Stunden draussen aufhalten. Doch eine Studie der Pro Juventute hat 2016 ergeben, dass es bei den 5- bis 9-Jährigen nur 47 Minuten pro Tag sind.

Mit Hunden gehen wir täglich raus in den Wald, sagt Weissert.
Mit Kindern sollten wir das auch tun.

Man könnte die Kinder auch alleine rausschicken. Aber selbst Famililen-Quartiere sind heute manchmal nur abends und an Wochenenden belebt – dann, wenn die externe Betreuung zu Ende ist. Denn viele Mütter sind heute berufstätig – und wenige Väter arbeiten Teilzeit. Beim Nachbarskind spontan zu läuten ist keine verbreitete Praxis mehr. Eher verabreden die Eltern ihre Kinder via Smartphones – das berichtet auch eine Mutter in Weiach. Und so spielt dann nur ein Kind bei einem anderen.

Freies Spiel hat auch im Haus Platz. Aber Eltern müssen lernen, sich nicht ständig einzumischen. Eine noch laufende Pilotstudie der Pädagogischen Hochschule Zürich PHZH und des Marie-Meierhofer-Institutes für das Kind gibt Hinweise darauf, dass genau dies wichtig ist, um «Playfulness», also Spielfreude und -kompetenz, zu fördern. 76 Eltern von 2- bis 8-Jährigen wurden gefragt, wie spielmotiviert sie ihre Kinder einschätzen. Andererseits wurde evaluiert, wie stark sich die Eltern am Spiel beteiligen.
Erziehungswissenschafterin Corina Wustmann Seiler von der PHZH sagt: «Eltern, die angaben, selten am Spiel teilzunehmen, schätzten ihr Kind spielfreudiger ein.» Und Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm schreibt, Erwachsene dürften durchaus eingreifen, aber immer mit dem Ziel, sich wieder «auszufädeln». Das fällt vielen Eltern schwer. «Besonders Mütter kommentieren ihre spielenden Kinder ständig», sagt Weissert. Er ist absolut dagegen, dass Eltern das Kind vor jedem Sturz ins Gras schützen oder verhindern, dass es sich eine Ladung Schlamm aus dem Kessel übers Knie leert.

Kinder müssen ein Lexikon an Sinneserfahrungen anlegen, und das ist nur in der Natur möglich. Nur dort riecht es auch vielfältig.

Die Spielpädagogen reden gerne von Sand, Steinen, Kastanien, Käfern. Von Anfassen, riechen, erleben, um die richtigen Verbindungen im Gehirn zu knüpfen. Von «Zeug zum Spielen» statt Spielzeug, wie es Susanne Stöcklin beschreibt. Andreas Rimle von der Onlineplattform Spielschweiz sagt: «Kinder, die frei mit anderen spielen, sagen: ‹Lass uns eine Hütte bauen! Gibst du mir das Brett da? Ich baue noch einen Kamin!› Sie setzen Ideen um, sie planen, planen neu, sehen, ob etwas funktioniert. Und sie geniessen es, wenn keiner ständig sagt, dass er es besser weiss.» Sie lernen dabei Eigenverantwortung, sich auf etwas zu konzentrieren und dass sie aus sich selber etwas bewirken und schaffen können. Und das erst noch mit Vergnügen.

Margrit Stamm hat schon 2014 festgestellt, dass das freie, vom Kind initiierte Spiel innert 15 Jahren um einen Drittel zurückgegangen sei und dass manche Eltern es als reine Zeitverschwendung empfinden würden. Auch Kindergartenlehrpersonen oder Erzieher wollen oft eher «etwas Lehrreiches und Ernsthaftes» tun. Etwas Richtiges beibringen halt.

Später wissen Jugendliche nicht, wie sie sich beschäftigen können
Das wirkt sich bis auf die Jugend aus. Jene Jugend, von der die Weltgesundheitsorganisation WHO letzte Woche meldete, sie bewege sich zu wenig: 89 Prozent der 11- bis 17-Jährigen in der Schweiz sind weniger als eine Stunde pro Tag körperlich aktiv. Weltweit sind es 80 Prozent. Wer nicht weiss, was mit sich anzufangen, lässt sich eher von digitalen Medien einlullen, als dass er seine Muskeln für etwas brauchen würde.

Spielpädagogin Stöcklin ist überzeugt: «Es findet ein epochaler Umbruch statt, und wir wissen nicht, wo es hinführt, wenn die Kindern ihre Sinne nicht entwickeln.» Einiges sei schon jetzt sichtbar: Mehr Kinder, die in Sprache, Motorik oder dem Umgang mit anderen gefördert werden müssen. «Diese Nachförderungen kostet wahnsinnig viel Geld und zudem wird dem Kind der Stempel ‹ungenügend› aufgedrückt.» Allerdings sind sich manche Eltern des Problems auch durchaus bewusst und schicken die Kinder deshalb in Waldspielgruppen oder -kindergärten: Sie organisieren ihnen die Freirauminseln.

Für Jasskarten macht niemand Werbung
Im Zimmer der 2.-Klass-Lehrerin Karin Ochsner in Weiach spielen die Kinder mit Jasskarten und Schnüren. Es sind diese alten Fingerspiele, bei denen man einander die gespannten Fäden immer wieder abnimmt. Karin Ochsner sagt, sie würde ohne weiteres künftig mal eine Deutsch- oder Mathematikstunde für so was opfern.
Diese Spiele fördern das logische Denken, aber vor allem gibt es den Kindern Selbstvertrauen, wenn sie etwas beherrschen und es den anderen beibringen können.

Es gebe hundert Spiele, die man mit Jasskarten machen könne, bei den Pokémon-Karten hingegen gehe es vor allem ums Besitzen. «Von Pokémonkarten hat man immer zu wenig, die Schüler klauen sie sich. Jasskarten hat man meist genug.»

Mit Jasskarten lässt sich kein Geschäft machen. Mit Schnüren schon gar nicht. So kommt es, dass diese Spiele, wie auch solche mit Murmeln oder Steinen verschwunden sind aus dem Alltag. Es gibt niemanden, der sie vermarktet. Es gibt keine Werbung dafür. Es ist nichts, mit dem man prahlen kann. Prahlen kann man nur mit der Fertigkeit.
Karin Ochsner sagt, die Kinder würden in der Pause, wenn sie nicht tschutten, meist sitzend das Znüni essen und reden. «Sie kennen keine Spiele für die kurze Pausenzeit.» Nun hoffen die Lehrer, dass einige der gelernten Spiele auf dem Pausenplatz überleben werden.

Der Besuch will gehen, da stellt sich ihm ein 2.-Klässler in den Weg. «Kann ich Ihnen erkläre wie ‹Lügen› geht?» Der Bub erklärt eifrig und der Besuch versteht: Man gibt eine Jasskarte weiter und behauptet es sei eine bessere, egal ob es stimmt. Nein, sagt der Bub, zu Hause spiele er das nicht, er habe keine Jasskarten. Aber Pokémon.


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