5. Dezember 2019

Rösler: "Es braucht eine Masterausbildung für Primarlehrer"


Dagmar Rösler, Sie vertreten seit vier Monaten die Anliegen von 56 000 Schweizer Lehrpersonen. Denen sagt man nach, sie hätten viel Ferien und jammerten oft.
Ja, offenbar herrscht diese Meinung auch im 21. Jahrhundert noch vor. Dabei machen wir einen extrem wichtigen Job. Es ist ein Teufelskreis: Weil wir in der Gesellschaft wenig Anerkennung erhalten, müssen wir uns immer wieder erklären: dass wir nicht wirklich 13 Wochen Ferien haben, dass wir die Verantwortung für 25 Kinder übernehmen und dafür keinen übertrieben hohen Lohn beziehen und so weiter. Wegen der Rechtfertigungen werden wir als «Jammeri» wahrgenommen. Das zu ändern, liegt mir sehr am Herzen.
Unterschätzte Lehrer und gestresste Schüler, Migros Magazin, 4.12. von Yvette Hettinger und Sabine Lüthi

Als Präsidentin des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer können Sie jetzt etwas bewirken. Was ist Ihr Plan?
Wir müssen sachlich erklären, was unser Beruf genau beinhaltet. Aufzeigen, womit wir uns auseinandersetzen und was wir mit den Kindern erreichen. Und so den Beruf aufwerten. Wenn das gelingt, ist schon viel geschafft.

Wo drückt die Lehrerinnen und Lehrer der Schuh am meisten?
Ich toure gerade durch die Schweiz und besuche alle kantonalen Verbände. Meine erste Bilanz: Die meisten leiden tatsächlich unter der Art, wie man mit ihnen umgeht. Und darunter, dass wir in den letzten 20 Jahren viele zusätzliche Aufgaben übernommen haben, ohne dass dies geschätzt wird.

Von wem? Der Öffentlichkeit?
Von allen: Politikern, Bildungsverantwortlichen, Medien, Eltern – von Letzteren noch am wenigsten. Ich glaube, am meisten schmerzt uns die Geringschätzung gegenüber uns und unserem Beruf. Die beruht vielleicht auch oft auf Missverständnissen. Viele glauben, dass wir entscheiden, welchen Stoff wir den Schülern beibringen, wann die Schule beginnt oder Ferien sind. Dabei bestimmt das die Politik. Es ist ja nicht so, dass nur der Lehrerberuf anstrengend ist. Jeder, der arbeitet, ist am Abend «uf de Schnurre». Das wissen wir. Uns macht man aber für alles verantwortlich, wenn es in der Schule nicht gut läuft. Interessanterweise wollen viele Menschen den Lehrerberuf nicht ausüben – trotz der vermeintlich vielen Ferien.

Ihr Vorgänger, Beat W. Zemp, sagte in seinem letzten Interview: «Es gibt keinen Lehrermangel.» Eine überraschende Aussage.
Kommt darauf an, wie man das interpretiert. Beat W. Zemp meinte damit, dass man immer irgendjemanden ­findet, der sich vor die Klasse stellt. Die Kantone sagen deshalb oft: Wir haben alle Stellen besetzt. Sie sagen bloss nicht, wie oder mit wem.

Also herrscht ein Mangel an gut ausgebildetem Lehrpersonal?
Genau. Bis jetzt hat man meistens jemanden gefunden, der notfallmässig einspringt.

Wer ist denn «jemand»?
Es können Studenten sein, solche von der Pädagogischen Hochschule (PH)oder andere. Oder pensionierte Lehrer und Lehrerinnen.

Auch Zivildienstleistende?
Eher selten, da sie keine pädagogischen Aufgaben übernehmen dürfen. Ich habe auch schon gehört, dass man den Hauswart für den Werkunterricht eingesetzt hat. Nichts gegen Hauswarte, die haben wichtige Funktionen. Aber das ist hochbrisant, wenn es um die Unterrichtsqualität geht. Wenn diese nicht stimmt, sind wieder die Lehrer schuld.

Wie wollen Sie wieder mehr Menschen mit den nötigen Qualifikationen in den Beruf bringen?
Man muss erstens das Image aufwerten und zweitens die Ausbildung. Die Dauer der Bachelor-Ausbildung reicht nicht mehr aus, um alle Fächer zu studieren. Die Studenten müssen Fächer abwählen – zum Beispiel Turnen. Wird aber jemand als Lehrer angestellt, kann sie oder er nicht einfach sagen: «Ich kann keinen Turnunterricht geben.» Auf Primarstufe müssen möglichst alle alles unterrichten können.

Was geschieht dann?
Man muss in Form von Weiterbildung die fehlenden Fächer nachholen – nach der PH, neben dem Job. Das ist einfach nicht realistisch. Ich bin der Meinung, es braucht eine Masterausbildung für Primarlehrerinnen und Primarlehrer.

Einen Master? Fürchten Sie nicht, dass dann noch weniger Menschen Primarlehrkraft werden wollen?
Nein. Es ist so: Je anspruchsvoller eine Ausbildung ist, desto attraktiver wird der entsprechende Beruf.

Die Akademisierung soll also zum Beispiel vermehrt junge Männer anziehen, die mit diesem Beruf mehr Prestige verbinden?
Das ist meine Hoffnung.

Und die Entlöhnung wäre auch besser?
Ganz genau.

Die Schweiz ist Schlusslicht bei der Lehrerausbildung: In keinem Land durchlaufen angehende Lehrkräfte eine so kurze Ausbildung.
Europaweit vermutlich nicht. Jedenfalls ist die Schweiz das einzige Land in Europa, in dem die Lehrer keinen Master haben. Es ist mir bewusst, dass die längere Ausbildung auch abschrecken kann. Andererseits sollte auch niemand den Beruf ergreifen, weil die Ausbildung nur drei Jahre dauert.

Es gab bereits einen Aufschrei, als man für Kindergärtner neu einen Bachelor-Abschluss verlangte.
Die Ansprüche an diesen Job sind stark gestiegen. Der Lehrplan 21 schliesst jetzt ja auch den Kindergarten mit ein. Dafür ist ein pädagogischer Aufbau nötig, man muss ganz genau wissen, welche Kompetenzen gefragt sind und wie die Kinder sie erreichen. Das ist nicht einfach gemeinsames Spielen oder Sitzen im Kreis und Singen. Wenn man in einem Kindergarten vorbeischaut, versteht man sehr schnell, warum die Lehrperson eine fundierte Ausbildung braucht.

Die 13 Wochen Ferien sind aber auch eine Tatsache. Weshalb benötigen Lehrer so viel unterrichtsfreie Zeit?
Weil sie 50 Stunden pro Woche arbeiten. Ein Teil der Ferien ist eine Kompensation dafür. Wenn die Kinder in die Sommerferien gehen, können Lehrpersonen zwar auch zwei bis drei Wochen Ferien machen, danach müssen sie sich aber auf das neue Schuljahr vorbereiten.

Das heisst?
Nicht nur die erste Lektion nach den Ferien muss stehen. Sondern mindestens das nächste Quartal. Man muss sich genau überlegen, was man in welchem Fach machen will, und alles vorbereiten. Man muss das Schulzimmer einrichten, Namenskarten schreiben, sich überlegen, wie man Geburtstage feiern und den Ämtliplan erstellen will. Heute bereitet man sich zudem in Stufenteams vor. Die Quartalsplanungen aller Fächer müssen der Schulleitung abgegeben werden, durchgetaktet und mit dem Lehrplan 21 verlinkt. Jedes Jahr kommt etwas Neues hinzu, manchmal zum Beispiel neue Lehrmittel. Auch dafür braucht es Absprachen und Vorbereitungen. Hinzu kommt die Jahresplanung für Anlässe neben dem Schulalltag: Räbeliechtli-Umzug, Elternabende, Sportanlässe, Lager, Projektwochen und Veloprüfung.

Wie viele Ferienwochen bleiben?
Etwa sechs.

Die andere Seite der Ferien erleben die Eltern. Sie müssen 13 Wochen Betreuung gewährleisten. Ist das noch zeitgemäss?
Ich weiss genau, was Sie meinen. Viele berufstätige Eltern denken: Jetzt haben die schon wieder Ferien, und ich kann schauen, wo mein Kind bleibt. Aber diesen Ball darf man einfach nicht der Schule zuspielen. Die Schule hat einen Bildungsauftrag, sie ist jedoch nicht für Hütedienste zuständig. Es ist Sache der Politik, etwa für Tagesstrukturen zu sorgen.

Sie sind jetzt vier Monate im Amt. Zeichnet sich schon ab, dass Sie gewisse Dinge anders angehen als Beat W. Zemp?
Mein Vorgänger hat einen extrem starken Verband aufgebaut, es ist mir wichtig, den aufrechtzuerhalten. Ansonsten will ich die Kontakte zu den Kantonalsektionen verstärkt pflegen. Sie leisten die halbe Arbeit, wenn es um die Schulen vor Ort geht. Da will ich ein Netz spannen und schauen, wo man gemeinsam etwas erreichen kann. Letztlich sind ja die Kantone für die Schulen verantwortlich.

Macht dieser Föderalismus im Schulsystem überhaupt Sinn?
Er ist einfach nicht wegzukriegen. Jeder Kanton ist für sein eigenes Bildungssystem zuständig. In der Schweiz ist es sehr schwierig, so etwas zu ändern. Aber das hat auch Vorteile. Man hat mehr Freiheiten und kann kreativer sein.

Aber die kantonale Hoheit kann auch Ungerechtigkeiten schaffen. Einige haben eine Gymiquote von 13 Prozent, andere eine von 30.
Das verstehe ich auch nicht immer. Es gibt Stimmen, die sagen, es sei in einem Kanton einfacher, ans Gymi zu kommen, als in einem anderen. Wir sind ein Berufsverband ohne Entscheidungsbefugnis auf politischer Ebene und können den Kantonen nicht sagen, wie sie das handhaben müssen. Wir weisen aber darauf hin, wenn die Chancengerechtigkeit nicht gegeben ist.

Ist die Chancengleichheit nicht schon viel früher ein Thema?
Wir sprechen lieber von Chancengerechtigkeit. Und ja: Das ist ein grosses Anliegen, an dem wir arbeiten. Wir müssen Kinder so «erfassen», dass möglichst alle die gleichen Startbedingungen haben,wenn sie in die obligatorische Schule kommen.

Geht es dabei um die sprachlichen Kompetenzen?
Auch. Aber auch um Kinder, die kaum Kontakt zu Gleichaltrigen haben. Kinder, die im Alltag nicht motorisch geschult werden, die viel alleine sind und zum Zmittag Chips essen.

Man muss also bereits vor dem Kindergarten ansetzen. Wie findet man diese Kinder früh genug?
Uns schwebt vor, dass wir Kinderärzte, Sozialarbeiter, die Kesb und Spielgruppenleiter bitten, Auffälligkeiten bei Kindern zu melden.

Es wird oft über die Defizite der Volksschule gesprochen. Vergessen wir manchmal, wie privilegiert wir sind? Dass alle die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, wo ein riesiges Bildungsangebot für sie bereitsteht? Was für ein tolles System wir haben, mit vielen Möglichkeiten auf allen Stufen?
(Lächelt) Danke! Genau so ist es. Und man weiss zu wenig über die Möglichkeiten unseres Schulsystems. Viele Eltern kennen die duale Bildung nicht und haben Panik, wenn das Kind es nicht ans Gymi schafft. Sie wissen nicht, dass man nach neun oder elf Jahren obligatorischer Schulzeit eine Lehre machen kann, eine Berufsmatur, dann eine Fachhochschule absolvieren oder über eine Passerelle sogar an die Uni kann. Darum verstehe ich den Stress nicht, wenn es um Sek oder Gymi geht.

Kommt der Stress von den Eltern?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die sich wirklich zugetragen hat: Eine Primarschülerin mit guten Noten wollte nicht ans Gymi, obwohl sie durchaus Chancen gehabt hätte. Ihre Mutter musste sich mitleidige Blicke gefallen und Klagen anhören lassen: «Jetzt muss deine Tochter in eine Schule, in der man nur auswendig lernt.» Es war schwierig für sie, damit umzugehen. Sie fragte sich: Habe ich dumme Kinder? Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich mein Kind zu wenig gefördert? Das ist hart!

Es gibt einen Konkurrenzkampf?
Teilweise, ja. Und der überträgt sich von den Eltern auf die Kinder. Aber daneben setzen sich Kinder auch selber unter Druck, sind gestresst und haben Angst, in der Schule etwas falsch zu machen.

Haben Eltern Angst, das Kind könnte später untergehen? Es werde einmal mit dem Mindestlohn auskommen müssen?
Ja. Dabei brauchen wir ja verschiedene Berufsleute, damit die Gesellschaft funktioniert.

Was kann man gegen die Angst der Eltern unternehmen?
Immer wieder unser duales Bildungssystem erklären. Und sagen, dass die Sek völlig okay und die Lehre ein guter Weg ist.

Aber bald haben ja auch alle Lehrkräfte einen Master.
Ja, schon. Aber nicht jeder Schüler muss das erreichen. Es ist an uns, andere Beispiele aufzuzeigen. Das Kind soll dorthin geführt werden, wo es glücklich wird. Wo es nicht über- und nicht unterfordert ist. Das muss entscheidend sein.

Was wünschen sich die Lehrer von den Eltern?
Dass sie Interesse zeigen, offen sind und hie und da reinschauen. Und dass sie sich auch einmal melden, wenn etwas gut gelaufen ist.

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