8. Dezember 2019

"Gut gemeinte Vorschläge auf die Schnelle"


Unter dem Titel «SOS: Wie bringen wir unsere Kids zum Lesen?» klagt Rudolf Minsch, Bildungsverantwortlicher der Economiesuisse, über das «niederschmetternde» Resultat der Pisa-Deutschttests und gibt den Eltern einpaar Tipps, wie sie ihre Kinder zum Lesen bewegen könnten.
Pisa-Desaster: Alles zudecken mit ein paar banalen Rezepten? 8.12. von Marianne Wüthrich

Zur Erinnerung: Economiesuisse stand an vorderster Front für den Lehrplan 21: Digitalisierung über alles, der Lehrplan «gehe in die richtige Richtung» und ähnliche Sprüche. Wer vor den zu erwartenden negativen Folgen für die Bildung unserer Kinder gewarnt hat, wurde mit harschen Worten als Ewiggestriger abgetan.

Unter anderem weisen viele von uns pädagogischen Fachleuten und Praktikern seit Jahren darauf hin, dass man mit selbstorganisiertem Lernen und dem Abhaken von Kompetenzhäppchen keine Sprache lernen kann. Voraussetzung ist vielmehr ein von der Lehrerin strukturierter Deutschunterricht, in dem viel gelesen, geübt, geschrieben und vertieft wird. Im Klassengespräch kann die Freude am Lesen und Schreiben entstehen und wachsen, und gleichzeitig werden die Grundlagen in Wortschatz, Grammatik, Rechtschreibung und Satzbau gelegt. Besonders in der Primarschule muss viel Zeit und Musse da sein für die deutsche Sprache, die Basis allen Lernens. Deswegen – nicht aus Engstirnigkeit – plädieren immer mehr namhafte Pädagogen und Informatiker dafür, Informatik-und Fremdsprachen-Unterricht auf die Oberstufe zu verschieben. Auch Rudolf Minsch hält fest, dass der analoge Unterricht zu besseren Resultaten führt als der digitale.
Über diese sachlich gut begründeten Einwände gingen viele Verantwortliche in der Wirtschaft über Jahre hinweg, in der irrigen Hoffnung, die Volldigitalisierung und das sog. kompetenzorientierte Lernen bringe taugliche Kräfte für die Wirtschaft hervor.

Jetzt, wo es auf dem Tisch liegt, dass ein grosser Teil der Schweizer Jugend in neun Schuljahren (plus Kindergarten) nicht genügend lesen und schreiben lernt, kommt uns Herr Minsch mit «einigen gut gemeinten Vorschlägen auf die Schnelle», lauter längst bekannten Allgemeinplätzen. Vorlesen und mit den Kindern lesen tun einige deutschsprachige Eltern heute schon, und deren Kinder lernen in der Regel auch einigermassen deutsch, trotz Lehrplan 21. Handy-freie Zeiten führen die IT-Grössen im Silicon Valley für ihre eigenen Kinder ein, indem sie diese in computerfreie Privatschulen schicken. Auf der Strecke bleiben viele andere Kinder, nicht nur fremdsprachige. Eine Zweiklassen-Schule in Reinkultur!

Da gibt es nur eins: Dem Lehrplan 21 samt den dazugehörigen Lehrmitteln einen Stopp setzen und die Junglehrer wieder zu Klassenlehrern ausbilden, die mit ihren Schülern zusammen das Lernen und die Welt entdecken. Ein paar Tipps auf die Schnelle vermögen das Desaster nicht wiedergutzumachen.
Dr. iur. Marianne Wüthrich, langjährige Zürcher Berufsschullehrerin, Wil

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