Liegt
es primär am veränderten Freizeitverhalten oder trägt die Schule massgebend zum
Lesedebakel der Schweizer Schüler bei
der PISA-Studie bei? Bildungsfachleute rätseln, wo die Ursachen liegen könnten.
Sicher hat der Trend hin zum oberflächlichen schnellen Lesen mit der Flut der
Informationen zugenommen. Wer Unmengen von Kurzfutter-Botschaften auf dem
Smartphone konsumiert und sich dabei nicht gross darum kümmert, was auf der
Welt geschieht, wird sich kaum in eine längere Lektüre vertiefen.
Deutsch lernen – ein unterschätzter Grundauftrag der Volksschule, 8.12. von Hanspeter Amstutz
Obwohl
die Ursachen des Debakels teilweise im gesellschaftlichen Umfeld liegen, kann
sich die Schule ihrer Verantwortung nicht entziehen. Lesen und Schreiben lernen
ist ein Grundauftrag der Volksschule. Was so banal tönt, ist letztlich ein
komplexer Lernprozess, der systematisch gefördert und fächerübergreifend stattfinden
muss. Deutsch lernen ist für Kinder ein ganzheitlicher Vorgang, der sich in persönlichen Beziehungen am
besten entwickelt.
Spürbare Folgen vernachlässigter
Erzählkultur
Kinder und
Jugendliche wollen angesprochen werden und sind bereit aktiv zuzuhören, wenn
sie merken, dass eine Lehrerin etwas Neues oder gar Spannendes vermitteln will.
Sie haben Hunger nach Geschichten, bei denen sie in eine andere Welt eintauchen
und sich mit Erzählfiguren identifizieren können. Dabei spielt die Rolle der
Lehrerin eine zentrale Rolle. Kinder lesen im Gesicht und in der Gestik der
Erzählerin, was sich in der Geschichte abspielt. Wortwahl und Tonfall der Sprache
verstärken das Emotionale, aber auch die Logik des Handlungsablaufs ist nicht
nebensächlich. Kinder protestieren sofort, wenn beim Rückblick auf eine
Geschichte eine logische Reihenfolge verändert wird. Der Lernprozess ist
offensichtlich.
Leider
hat die Kunst des Erzählens in der Lehrerausbildung völlig zu Unrecht an
Bedeutung verloren. Der Geschichtsunterricht an der Volksschule führt in
manchen Klassen ein Schattendasein. Zurückgestutzt auf nur eine Wochenlektion
wird Geschichte narrativ höchstens noch
in Bruchstücken vermittelt und selbst die spannendsten Epochen können nur
angetippt werden. Vergebens warten die Schüler auf faktenbasierte dramatische
Erzählungen, die ihren Wortschatz auf lebendige Weise erweitern würden. Eine
grosse Zahl von Jugendlichen, die übers Ohr eine Sprache mit einer gewissen
Leichtigkeit aufnimmt, kommt so zu kurz.
Attraktive Realienfächer dienen der
Sprachförderung
Die sprachliche
Gestaltungs- und Motivationskraft einer Lehrerpersönlichkeit ist für den unmittelbaren
Spracherwerb zentral. Nicht nur beim Erzählen, auch beim Erklären eines
Sachverhalts oder im dialogischen Umgang mit der Klasse prägt die Sprache der
Lehrperson die Lernkultur. Die Motivation neugieriger Schüler hängt zu einem
grossen Teil davon ab, wieweit ein Lehrer es schafft, in den allgemein
bildenden Realienfächern die Welt ins Schulzimmer zu holen. Attraktiver
Sachunterricht mit klaren Bildungszielen ist sprachfördernd. Wo eine Sache oder
ein Geschehen fasziniert, wollen die Schüler die Zusammenhänge verstehen und
darüber reden. Nicht selten sind es lesebequeme Buben, die über einen
fesselnden Sachunterricht zum sprachlichen Ausdruck finden. Endlich gelingt es
ihnen, sich in ein Thema zu vertiefen und in einem Vortrag ihr Wissen frei zu präsentieren.
Mehr Zeit fürs Üben und den
Aufsatzunterricht
Um
Sicherheit im sprachlichen Ausdruck zu gewinnen, sind die meisten Schülern auf
anregendes Üben im Klassenverband angewiesen. Wird diese wichtige Basisarbeit
aus Zeitgründen reduziert oder weitgehend an digitale Lernprogramme delegiert,
bleibt dies nicht ohne Auswirkungen. Digitale Programme haben im Rahmen des
individualisierenden Lernens durchaus ihren Wert. Doch wenn Lehrer ihre Schüler lieber über Bildschirme
steuern als den unmittelbaren Kontakt zu suchen, geht etwas Wesentliches
verloren. Eine Lehrperson muss kreative Übungsformen finden und zeigen, dass
sie Freude an den sprachlichen Formen hat. Ähnlich wie ein guter
Fussballtrainer beim Üben mit seiner Mannschaft höchste Präsenz ausstrahlt,
wird ein Lehrer das sprachliche Training mit der Klasse gestalten. Und wie die
Erfahrung zeigt, macht gezieltes Üben den meisten Schülern mit der Zeit
durchaus Spass.
Beklagt
wird im Bericht zum PISA-Test, dass viele Schüler den Wahrheitsgehalt von
Meldungen und die sprachliche Qualität von Texten schlecht erkennen würden.
Sicher ist es richtig, wenn die modernen Formen der schriftlichen Kommunikation
im neuen Fach Medienkunde genauer unter die Lupe genommen werden. Doch das
reicht noch nicht. Die Schüler müssen erst einmal Vertrauen zum eigenen
Schreiben finden. Wer selber kurze Texte, Berichte und längere Briefe in
überzeugender Form schreiben kann, merkt besser, was den Wert eines Beitrags
ausmacht. Der Weg dazu fällt nicht allen leicht und ist auch für die Lehrpersonen
aufwändig. Gelingt es einer Lehrerin jedoch in einem lebendigen
Aufsatzunterricht einen schriftlichen Dialog mit den Schülern zu entwickeln,
wird die Sensibilität für sprachliche und inhaltliche Qualität geweckt.
Vielseitiger Zugang zur deutschen
Sprache
Die bis
hier geschilderten Wege zur sprachlichen Förderung sind exemplarisch und bei
Weitem nicht vollständig. Vor allem der mündliche Bereich bietet eine Fülle von
Möglichkeiten für eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung. So lässt eine
Ballade wie Fontanes John Maynard keinen Schüler gleichgültig, wenn das Gedicht
packend vorgetragen, erhellend interpretiert und sprachlich-spielerisch von den
Jugendlichen gestaltet wird. Genauso verhält es sich mit altersgemässen
Theaterstücken oder der gemeinsamen Klassenlektüre eines Jugendbuch-Klassikers.
Und selbstverständlich ebnen anregende Veranstaltungen wie Lesenächte oder organisierte
Bibliotheksbesuche den Jugendlichen den wohl leichtesten Einstieg in die weite Sprachwelt:
ins Lesen.
Guter Deutschunterricht muss erste
Priorität erhalten
Das
alles zeigt, dass das Lernen der deutschen Sprache eine sehr zeitaufwändige
Aufgabe ist. Abkürzen kann man dabei nicht. Doch genau da wird es
bildungspolitisch brisant. Vor allem die Primarschule ist arg unter Druck, auf
zu vielen Hochzeiten tanzen zu müssen. Die beiden frühen Fremdsprachen
absorbieren sehr viel Lernenergie, ohne dass die Bilanz von Aufwand und Ertrag
wirklich überzeugt. Auch die sprachfördernden Realienfächer sind stark an den
Rand gedrängt worden, da deren Nutzen nur schwer evaluierbar ist und sie für
Leistungsvergleiche ungeeignet sind. Wer glaubt, allein mit Frühförderung die
Deutschkompetenzen verbessern zu können, verkennt den Umfang der komplexen
Aufgabe. Nötig wären vielmehr eine Neubewertung der Prioritäten des gesamten Bildungsprogramms
und eine entsprechende Kurskorrektur bei der Lehrerbildung. Das aber würde wohl
ein bildungspolitisches Erdbeben auslösen.
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