Bildung
darf nicht herummodellieren und herumexperimentieren, ohne dass man die Folgen
davon kennt.Und sie ist nicht mit
ihrer permanenten Reform gleichzusetzen.Junge Menschen haben nur eine
Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern.
Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen geht das nicht.
Genau das aber geschah in den letzten Jahren: Ein Wirbelwind an Reformen überzog
dieSchulen,vielfach ohne verantwortliches Wissen um die Folgen.
Fehlende pädagogische Verantwortung, NZZ, 10.12. von Carl Bossard
Die konkreten Konsequenzen tragen die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag. Zu den vielen
Reformen gehört auch der doppelte Fremdsprachenunterricht in der Primarschule.
Ein Beispiel illustriert es: Die sechs Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft,
Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis unterrichten ab der dritten Klasse
Französisch. Seit 2011 setzen sie das gemeinsame Lehrmittel «Mille feuilles»
ein. Es ist Teil des 50 Millionen teuren Fremdsprachenkonzepts «Passepartout».
Das didaktische Prinzip: Die Schülerinnen und Schüler sollen die neue Sprache
möglichst oft hören und so in ein «Sprachbad» eintauchen. Sie probieren die
Sprache spielerisch aus. Im Direktkontakt mit französischen Texten und
Sachthemen erlernen die Kinder den Wortschatz und die Grammatik – sozusagen en
passant. Auf den systematischen Aufbau grammatikalischer Strukturen wird im
Lehrmittel bewusst verzichtet; das Konjugieren der Verben «être» und «avoir»
beispielsweise kommt nicht vor. Bald schon tauchten Kritik und Klagen auf.
«Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen»,
tönte es von Lehrerseite.Viele rügten das Konzept. Als Folge verzichtete der Kanton
Bern 2017 bei den Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium aufs gezielte Prüfen
grammatikalischer Kenntnisse: Wahrnehmen der Verantwortung durch Reduktion der
Ansprüche und der notwendigen Lernbedingung für alle, die einen analytischen
Sprachzugang haben. Doch die Verantwortlichen von «Mille feuilles»
beschwichtigten.In schönster Selbstgewissheit meinten sie, man solle
zuerst«auf wissenschaftliche Ergebnisse warten, welche die Wirksamkeit dieser
Didaktik nachweisen». Das geschah auch: Das Institut für Mehrsprachigkeit der
Universität Freiburg
evaluierte die Fremdsprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler am Ende der Primarschule. Die Ergebnisse waren deprimierend:
Nur knapp 11 Prozent erfüllten beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Beim
Leseverstehen waren es lediglich 33 Prozent, während beim Hörverstehen immerhin
57 Prozent ein positives Resultat erreichten. Die verantwortlichen
Bildungsbehörden im «Passepartout»Raum wollten die von der öffentlichen Hand
finanzierte Studie schubladisieren und geheim halten. Doch das
Hochschul-Institut weigerte sich. Schliesslich einigte man sich auf
einen«silent rollout» und stellte die Studie gut versteckt ins Netz. Kaum jemand
findet sie. Eine geplante Folgestudie wurde sistiert. Aus der
Berner Erziehungsdirektion hiess es lakonisch, man befinde sich beim Frühfranzösisch
auf dem richtigen Weg. Da stellt sich schon die Frage:Wer zeichnet denn
verantwortlich, wenn durch eine politisch gewollte und von vielen
Bildungsauguren vorangetriebene Reform eine Art Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept
entsteht? Nur wer es ans Gymnasium schaffe,
erhalte die nötigen Sprachkompetenzen, kritisierte ein passionierter
Lehrer und fügte bei, beim Rest begnüge man sich im Französisch inzwischen mit ein paar
wenigen Brocken. Die alarmierenden Resultate weisen auf ein tiefes Malaise hin.
«Verantwortung» hat mit «Antworten» zu tun. Verantwortung übernehmen heisst
immer auch Antwort geben als Reaktion auf eine Situation. Wer wegschaut,stiehlt
sich aus der Verantwortung. Die Leidtragenden in der Pädagogik sind die Kinder
und
Jugendlichen. Mit ihnen zu experimentieren,zeugt von wenig Verantwortungsbewusstsein.
Denn junge Menschen haben, wie gesagt, nur eine Bildungsbiografie.
Carl
Bossard ist ehemaliger Gymnasialrektor und hat als Gründungsrektor die
Pädagogische Hochschule Zug (PH Zug) aufgebaut.
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