Die Berufswahl ist für Sekundarschüler mit Unsicherheit, Leistungstests
und Notenstress verbunden. Laut Experten hat der Druck auf die Teenager in den
letzten Jahren zugenommen – und er dürfte weiter steigen.
Wie ein "Marathon": Jugendliche auf Lehrstellensuche gehen durch harte Zeiten, NZZ, 16.12. von Nils Pfändler
Konzentriert sitzt Tim an seinem Schreibtisch. Zwei Snowboardhelme
liegen auf einer Ablage über dem Pult. An der Wand hängt ein Foto seiner
Familie, auf dem Säntis aufgenommen. In einer Ablage stehen fein säuberlich geordnete
Unterlagen. «Schulzeugs» steht auf einem der Ordner.
Vom Bildschirm seines Notebooks leuchtet dem 15-Jährigen ein
Textdokument entgegen. «Bewerbung um eine Lehre als Mediamatiker EFZ», steht
als Titel darauf. «In den letzten Monaten habe ich mich intensiv mit der
Berufswahl auseinandergesetzt», beginnt das Schreiben. Es endet mit den Worten:
«Ich würde mich sehr freuen, wenn ich die Möglichkeit bekommen würde, mich persönlich
bei Ihnen vorzustellen.»
Knapp dreissig Bewerbungen hat Tim in den letzten Monaten verschickt. Zu
neun Vorstellungsgesprächen wurde er eingeladen. Eine Lehrstelle hat er bisher
aber noch nicht gefunden.
Damit ist Tim nicht allein. In seiner Klasse hat noch kaum jemand eine
Zusage erhalten. Auch die Erhebungen der kantonalen Bildungsdirektion zeigen,
dass Lehrverträge immer später abgeschlossen werden. Die Zeiten, in denen die
meisten Drittklässler in der Sekundarschule bereits im Herbst einen
Vertrag in den Händen hielten, sind vorbei.
Jobsuche bedeutet Selbstfindung
Elisabeth Rothen ist bestens vertraut mit der Situation von Jugendlichen
auf Lehrstellensuche. Seit fünfzehn Jahren ist sie Beraterin am Berufs- und
Laufbahnzentrum der Stadt Zürich (LBZ). In den vergangenen Monaten hat sie
regelmässig mit Tim und seinen Klassenkameraden zusammengearbeitet. Rothen
betont, wie gross die Herausforderungen seien, die in dieser Zeit auf die
Teenager zukämen. «Jobsuche hat viel mit Selbstfindung zu tun», sagt sie.
«Jugendliche stehen ganz am Anfang ihrer Laufbahn, deshalb ist der ganze
Prozess noch schwieriger als bei Erwachsenen.»
Viele Faktoren entscheiden darüber, ob Jugendliche bei der
Lehrstellensuche erfolgreich sind. Zählten früher vor allem die Schulnoten,
kommen heute zahlreiche weitere Bewertungen hinzu. Mit verschiedenen Tests wie
dem Stellwerk-Check oder dem Multicheck werden unabhängige
Leistungsprofile in den Schulfächern erstellt, aber auch andere kognitive
Kompetenzen wie Logik, Merkfähigkeit oder Konzentrationsfähigkeit geprüft.
Die Personalabteilungen der Lehrbetriebe legen einen besonderen Wert auf
den Willen und die Motivation der Bewerber – und auf die Verhaltensnoten im
Schulzeugnis. Pünktlichkeit, aktive Beteiligung oder respektvolles Verhalten
werden dort auf einer Skala beurteilt. «Ein Kreuzchen zu viel am falschen Ort
kann ein Killer sein», sagt Rothen.
Diejenigen Schüler, die in all diesen Bewertungen am besten abschneiden,
finden meist schneller eine Stelle – nicht zuletzt, weil sich Unternehmen in
gewissen Branchen möglichst rasch die vielversprechendsten jungen Mitarbeiter
sichern wollen. Die anderen haben es schwerer. Bei einigen platzt der Berufswunsch,
bevor die Laufbahn überhaupt begonnen hat.
Druck und Selbstzweifel
Neben all den schulischen Herausforderungen stecken die Jugendlichen
mitten in einer intensiven Lebensphase. Die Pubertät ist in vollem Gange.
Hormone schiessen durch den Körper wie ein Sportwagen mit Vollgas und defekter
Bremse. «Die Berufswahl ist auch eine Frage der Reife», sagt Rothen. Manchmal
sei es deshalb sinnvoll, ein zehntes Schuljahr zu absolvieren, um Zeit im
Entscheidungsprozess zu gewinnen.
Auch Noa und Gemma wissen noch nicht, was sie ab dem kommenden Sommer
machen werden. Die beiden 14-jährigen Mädchen waren bis zu den Sommerferien
Tims Klassenkameradinnen. Nun besuchen sie die Parallelklasse im Schulhaus
Neumünster beim Hegibachplatz. Beide haben sich noch nicht entschieden, wie es
nach der Sekundarschule weitergehen soll. Das gehe auch anderen so. «Viele
haben noch keine Ahnung, was sie wollen», sagt Gemma.
Die beiden Schülerinnen liebäugeln mit einem Übertritt an eine Fach-
oder Handelsmittelschule. Aber auch ein zehntes Schuljahr oder eine Lehrstelle
im Gesundheitsbereich oder in der Hotellerie kämen infrage. Die Vielfalt an
Möglichkeiten ist eine Stärke des Schweizer Bildungssystems. Sie kann aber auch
überfordern.
Während die ersten Klassenkameraden schon einen Lehrvertrag in den
Händen halten, wachsen bei den anderen der Druck und die Unsicherheit. Tim ist
weiterhin guten Mutes, hat er doch soeben eine weitere Einladung zu einem
Vorstellungsgespräch erhalten. Bei Gemma sieht es anders aus: «Ich habe
Selbstzweifel», sagt sie, «definitiv.» Noa stimmt ihrer Freundin zu. Auch sie
zweifle manchmal, wenn sie an ihre Zukunft denke. Trotzdem versuche sie, die
Situation so locker wie möglich zu nehmen.
Zusammen besuchen die Mädchen nun einen Vorbereitungskurs für
Mittelschulprüfungen. Und sie probieren, die dritte Klasse mit einem guten
Zeugnis abzuschliessen, um sich so viele Optionen wie möglich offenzuhalten.
«Ich bin vielleicht nicht die beste Schülerin», sagt Gemma. «Aber ich will
unbedingt eine gute Anschlusslösung finden.»
Die Rolle der Eltern ist entscheidend
Die Schülerinnen können auf Unterstützung von verschiedenen Seiten
zählen: Die Lehrer begleiten sie an die Berufsmesse oder vermitteln
Schnupperlehren, die Experten des LBZ zeigen die verschiedenen Berufswege auf,
korrigieren Bewerbungen oder geben Tipps fürs Vorstellungsgespräch. In einem
Punkt sind sich Gemma, Noa und Tim aber einig: Keine Hilfe ist so wichtig wie
diejenige der Eltern.
Giuliana Lamberti bestätigt diesen Befund. Sie war zwanzig Jahre lang in
der Berufsintegration von Jugendlichen tätig und hat 2016 den Verein Starke
Eltern – Starke Jugend gegründet. Seither hat sie knapp 300
Zürcher Eltern beraten, deren Kinder Mühe bei der Lehrstellensuche bekunden.
Eltern seien Gesprächspartner, Begleiter und Mutmacher in schwierigen
Zeiten, sagt Lamberti. «Sie können motivieren und Rückschläge auffangen.»
Träten Probleme auf, wüssten sie aber häufig selber nicht, an wen sie sich
wenden könnten. Dort setzt die Arbeit des Vereins an.
Der Druck auf die Jugendlichen habe sich in den letzten Jahren erhöht,
sagt Lamberti. «Die Ansprüche werden immer grösser.» Bei einigen Lehrstellen
müssen langwierige Assessments durchlaufen werden. Oft ist es schwierig, nur
schon eine Schnupperlehre zu finden. Zudem sind die Anforderungen für viele
Berufe aufgrund der Digitalisierung gestiegen. Die Lehrstellensuche bezeichnet die
Expertin deshalb als regelrechten «Marathon».
Künftig dürfte sich die Situation weiter zuspitzen. Zwar konnte die
Anzahl Schüler ohne Anschlusslösung in den vergangenen fünfzehn Jahren gesenkt
werden. Lag der Anteil im Jahr 2004 noch bei knapp 8 Prozent, sind es heute
noch etwas mehr als 3 Prozent. Die Berufsbildung sei im Kanton Zürich gut
aufgestellt, heisst es denn auch vonseiten der Bildungsdirektion. Das zeigten
das breite Lehrstellenangebot und die vielen offenen Lehrstellen.
Ob das so bleiben wird, ist aber ungewiss. Grund dafür sind die
wachsenden Schülerzahlen. Um allen Jugendlichen eine Anschlusslösung zu
garantieren, muss die Wirtschaft laut Prognosen bis ins Jahr 2034 rund 8000
zusätzliche Lehrstellen anbieten.
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