16. Dezember 2019

Berufswahl ist schwieriger geworden


Die Berufswahl ist für Sekundarschüler mit Unsicherheit, Leistungstests und Notenstress verbunden. Laut Experten hat der Druck auf die Teenager in den letzten Jahren zugenommen – und er dürfte weiter steigen.
Wie ein "Marathon": Jugendliche auf Lehrstellensuche gehen durch harte Zeiten, NZZ, 16.12. von Nils Pfändler


Konzentriert sitzt Tim an seinem Schreibtisch. Zwei Snowboardhelme liegen auf einer Ablage über dem Pult. An der Wand hängt ein Foto seiner Familie, auf dem Säntis aufgenommen. In einer Ablage stehen fein säuberlich geordnete Unterlagen. «Schulzeugs» steht auf einem der Ordner.

Vom Bildschirm seines Notebooks leuchtet dem 15-Jährigen ein Textdokument entgegen. «Bewerbung um eine Lehre als Mediamatiker EFZ», steht als Titel darauf. «In den letzten Monaten habe ich mich intensiv mit der Berufswahl auseinandergesetzt», beginnt das Schreiben. Es endet mit den Worten: «Ich würde mich sehr freuen, wenn ich die Möglichkeit bekommen würde, mich persönlich bei Ihnen vorzustellen.»

Knapp dreissig Bewerbungen hat Tim in den letzten Monaten verschickt. Zu neun Vorstellungsgesprächen wurde er eingeladen. Eine Lehrstelle hat er bisher aber noch nicht gefunden.

Damit ist Tim nicht allein. In seiner Klasse hat noch kaum jemand eine Zusage erhalten. Auch die Erhebungen der kantonalen Bildungsdirektion zeigen, dass Lehrverträge immer später abgeschlossen werden. Die Zeiten, in denen die meisten Drittklässler in der Sekundarschule bereits im Herbst einen Vertrag in den Händen hielten, sind vorbei.

Jobsuche bedeutet Selbstfindung
Elisabeth Rothen ist bestens vertraut mit der Situation von Jugendlichen auf Lehrstellensuche. Seit fünfzehn Jahren ist sie Beraterin am Berufs- und Laufbahnzentrum der Stadt Zürich (LBZ). In den vergangenen Monaten hat sie regelmässig mit Tim und seinen Klassenkameraden zusammengearbeitet. Rothen betont, wie gross die Herausforderungen seien, die in dieser Zeit auf die Teenager zukämen. «Jobsuche hat viel mit Selbstfindung zu tun», sagt sie. «Jugendliche stehen ganz am Anfang ihrer Laufbahn, deshalb ist der ganze Prozess noch schwieriger als bei Erwachsenen.»

Viele Faktoren entscheiden darüber, ob Jugendliche bei der Lehrstellensuche erfolgreich sind. Zählten früher vor allem die Schulnoten, kommen heute zahlreiche weitere Bewertungen hinzu. Mit verschiedenen Tests wie dem Stellwerk-Check oder dem Multicheck werden unabhängige Leistungsprofile in den Schulfächern erstellt, aber auch andere kognitive Kompetenzen wie Logik, Merkfähigkeit oder Konzentrationsfähigkeit geprüft.

Die Personalabteilungen der Lehrbetriebe legen einen besonderen Wert auf den Willen und die Motivation der Bewerber – und auf die Verhaltensnoten im Schulzeugnis. Pünktlichkeit, aktive Beteiligung oder respektvolles Verhalten werden dort auf einer Skala beurteilt. «Ein Kreuzchen zu viel am falschen Ort kann ein Killer sein», sagt Rothen.

Diejenigen Schüler, die in all diesen Bewertungen am besten abschneiden, finden meist schneller eine Stelle – nicht zuletzt, weil sich Unternehmen in gewissen Branchen möglichst rasch die vielversprechendsten jungen Mitarbeiter sichern wollen. Die anderen haben es schwerer. Bei einigen platzt der Berufswunsch, bevor die Laufbahn überhaupt begonnen hat.

Druck und Selbstzweifel
Neben all den schulischen Herausforderungen stecken die Jugendlichen mitten in einer intensiven Lebensphase. Die Pubertät ist in vollem Gange. Hormone schiessen durch den Körper wie ein Sportwagen mit Vollgas und defekter Bremse. «Die Berufswahl ist auch eine Frage der Reife», sagt Rothen. Manchmal sei es deshalb sinnvoll, ein zehntes Schuljahr zu absolvieren, um Zeit im Entscheidungsprozess zu gewinnen.

Auch Noa und Gemma wissen noch nicht, was sie ab dem kommenden Sommer machen werden. Die beiden 14-jährigen Mädchen waren bis zu den Sommerferien Tims Klassenkameradinnen. Nun besuchen sie die Parallelklasse im Schulhaus Neumünster beim Hegibachplatz. Beide haben sich noch nicht entschieden, wie es nach der Sekundarschule weitergehen soll. Das gehe auch anderen so. «Viele haben noch keine Ahnung, was sie wollen», sagt Gemma.

Die beiden Schülerinnen liebäugeln mit einem Übertritt an eine Fach- oder Handelsmittelschule. Aber auch ein zehntes Schuljahr oder eine Lehrstelle im Gesundheitsbereich oder in der Hotellerie kämen infrage. Die Vielfalt an Möglichkeiten ist eine Stärke des Schweizer Bildungssystems. Sie kann aber auch überfordern.

Während die ersten Klassenkameraden schon einen Lehrvertrag in den Händen halten, wachsen bei den anderen der Druck und die Unsicherheit. Tim ist weiterhin guten Mutes, hat er doch soeben eine weitere Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten. Bei Gemma sieht es anders aus: «Ich habe Selbstzweifel», sagt sie, «definitiv.» Noa stimmt ihrer Freundin zu. Auch sie zweifle manchmal, wenn sie an ihre Zukunft denke. Trotzdem versuche sie, die Situation so locker wie möglich zu nehmen.

Zusammen besuchen die Mädchen nun einen Vorbereitungskurs für Mittelschulprüfungen. Und sie probieren, die dritte Klasse mit einem guten Zeugnis abzuschliessen, um sich so viele Optionen wie möglich offenzuhalten. «Ich bin vielleicht nicht die beste Schülerin», sagt Gemma. «Aber ich will unbedingt eine gute Anschlusslösung finden.»

Die Rolle der Eltern ist entscheidend
Die Schülerinnen können auf Unterstützung von verschiedenen Seiten zählen: Die Lehrer begleiten sie an die Berufsmesse oder vermitteln Schnupperlehren, die Experten des LBZ zeigen die verschiedenen Berufswege auf, korrigieren Bewerbungen oder geben Tipps fürs Vorstellungsgespräch. In einem Punkt sind sich Gemma, Noa und Tim aber einig: Keine Hilfe ist so wichtig wie diejenige der Eltern.

Giuliana Lamberti bestätigt diesen Befund. Sie war zwanzig Jahre lang in der Berufsintegration von Jugendlichen tätig und hat 2016 den Verein Starke Eltern – Starke Jugend gegründet. Seither hat sie knapp 300 Zürcher Eltern beraten, deren Kinder Mühe bei der Lehrstellensuche bekunden.

Eltern seien Gesprächspartner, Begleiter und Mutmacher in schwierigen Zeiten, sagt Lamberti. «Sie können motivieren und Rückschläge auffangen.» Träten Probleme auf, wüssten sie aber häufig selber nicht, an wen sie sich wenden könnten. Dort setzt die Arbeit des Vereins an.

Der Druck auf die Jugendlichen habe sich in den letzten Jahren erhöht, sagt Lamberti. «Die Ansprüche werden immer grösser.» Bei einigen Lehrstellen müssen langwierige Assessments durchlaufen werden. Oft ist es schwierig, nur schon eine Schnupperlehre zu finden. Zudem sind die Anforderungen für viele Berufe aufgrund der Digitalisierung gestiegen. Die Lehrstellensuche bezeichnet die Expertin deshalb als regelrechten «Marathon».

Künftig dürfte sich die Situation weiter zuspitzen. Zwar konnte die Anzahl Schüler ohne Anschlusslösung in den vergangenen fünfzehn Jahren gesenkt werden. Lag der Anteil im Jahr 2004 noch bei knapp 8 Prozent, sind es heute noch etwas mehr als 3 Prozent. Die Berufsbildung sei im Kanton Zürich gut aufgestellt, heisst es denn auch vonseiten der Bildungsdirektion. Das zeigten das breite Lehrstellenangebot und die vielen offenen Lehrstellen.

Ob das so bleiben wird, ist aber ungewiss. Grund dafür sind die wachsenden Schülerzahlen. Um allen Jugendlichen eine Anschlusslösung zu garantieren, muss die Wirtschaft laut Prognosen bis ins Jahr 2034 rund 8000 zusätzliche Lehrstellen anbieten.

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