28. November 2019

Sind Schulbücher veraltet?


An einer Bündner Veranstaltung zum Thema "Lehrmittel: gedruckt oder digital" fallen interessante Aussagen. Da sagt beispielsweise eine erfahrene Lehrerin: «Frühere Lehrmittel waren Planungsinstrumente, die Kinder hatten beispielsweise die Seiten 14 bis 16 zu lernen. Heute ist alles offener geworden, viel offener. Dies gibt mir mehr Freiheit in der Lektion. So freue ich mich etwa, wenn ich Zeit habe, um auf eine Antwort eines Kindes zu warten. Da treten manchmal sehr kreative und wertvolle Überlegungen zu Tage.»  Hatte die Lehrerin früher denn keine Zeit? War der Unterricht früher weniger kreativ? Eine weitere Aussage: "Der Alltag verändert sich derzeit so schnell, dass Beispielaufgaben in gedruckten Lehrmitteln rasch veraltet wirken." Nicht die sich verändernde Welt ist doch hier das Problem, sondern die vielleicht schlechten Aufgaben. (uk)
Lehrmittel der Zukunft, Bündner Woche, 27.11. von Susi Schildknecht


«Sind Schulbücher am Ende?» Mit diesem provokanten Titel lud das Wissenschaftscafé Graubünden kürzlich zum angeregten Austausch über gedruckte und digitale Lehrmittel. Die Veranstaltungen des Wissenschaftscafé Graubünden wollen den Austausch zwischen wissenschaftlichen Expertinnen und Experten und dem Publikum fördern. Das Thema «Sind Schulbücher am Ende?», rief überwiegend Lehrpersonen auf den Plan. Diese bekamen interessante Voten und Überlegungen zu hören.

Moderiert wurde die Diskussionsrunde von Gian-Paolo Curcio, Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR). Diese bietet seit einigen Jahren einen Studiengang Lehrmittelautor/-in an. Dessen Leiter, Rico Cathomas, sprach sich denn auch engagiert für die Aufwertung dieses wichtigen und komplexen Berufes aus. Und schon war man mittendrin in der Diskussion um Inhalte und Form der Lehrmittel und um die Rolle des Lehrplans 21 in diesem Zusammenhang.

Einig war man sich darin, dass mit letzterem nicht alles neu wird. Das Schlagwort «Kompetenzen» will nicht heissen, dass kein Grundwissen mehr vermittelt werden müsse. Wissen und Können werden nach wie vor gefragt und nötig sein. Susanne Grassmann, Leiterin der Stabstelle für Digitales Lernen beim Klett und Balmer Verlag Schweiz, erklärte es so: «Neu werden wohl mehr Rückschlüsse vom Können aufs Wissen gezogen werden können, während die herkömmlichen Lehrmittel fürs Umgekehrte konzipiert waren.»
Edmund Steiner von der Pädagogischen Hochschule Wallis pflichtete bei, dass es selbst bei den neuesten Lehrmittelentwicklungen kein Können ohne Wissen gäbe: «Die Lernziele sind vorgegeben, also sind auch die Inhalte immer noch da. Führende Lehrmittelverlage listen neu pro Kapitel die darin behandelten Kompetenzen gemäss Lehrplan 21 auf.» Dies unterstützt die Lehrpersonen darin, ihren Unterricht zu strukturieren.

Zahlreiche Reformen mit- und durchgemacht hat Magda Balzer, die vor 35 Jahren ihre erste Stelle als Primarlehrerin in Valzeina antrat und heute immer noch in dieser Funktion in Grüsch tätig ist: «Frühere Lehrmittel waren Planungsinstrumente, die Kinder hatten beispielsweise die Seiten 14 bis 16 zu lernen. Heute ist alles offener geworden, viel offener. Dies gibt mir mehr Freiheit in der Lektion. So freue ich mich etwa, wenn ich Zeit habe, um auf eine Antwort eines Kindes zu warten. Da treten manchmal sehr kreative und wertvolle Überlegungen zu Tage.»

Was macht denn heute ein gutes Lehrmittel aus? Zu dieser Frage holte Susanne Grassmann etwas aus. Während die gängige Lehrmittelpraxis der Pädagogen lange Zeit das «problemorientierte Lernen» als motivierend propagierte, sei sie als Entwicklungspsychologin überzeugt, dass dies nicht der Fall sei. Im Gegenteil: «Problemlösen hilft nicht beim Lernen. Viele Lehrmittel sind immer noch so gemacht, dass es darin sogenannte Alltagsprobleme gibt, und das ist das Problem.»

Der Alltag verändert sich derzeit so schnell, dass Beispielaufgaben in gedruckten Lehrmitteln rasch veraltet wirken. Beim Klett und Balmer Verlag Schweiz arbeitet man mit Hochdruck an neuen Konzepten, deren Strategie für Susanne Grassmann die richtige ist: «Hybrid arbeiten, also mit Schulbüchern und neuen Technologien, um das Beste aus beiden Welten zu nutzen.» Aus dem Publikum meldete sich Petra Seifert, Primarlehrerin in Igis. Erklärvideos finde sie manchmal ganz schön und nützlich, von einem guten Lehrmittel erhoffe sie sich aber insbesondere Links zur Vertiefung.

Ob in Buchform oder digital: An den Pädagogischen Hochschulen Graubünden und Wallis ist man sich einig, dass ein gutes Lehrmittel helfen muss, Wissen aufzubauen, Übungsmöglichkeiten anzubieten, das Gelernte zu vertiefen und zu transferieren, um den Kompetenzaufbau zu unterstützen. Für Rico Cathomas schafft dieses Vorgehen gute Voraussetzungen, die heute gefragten «Versatilisten» hervorzubringen, also mental bewegliche, dauerhaft lernwillige Menschen.

Die Digitalisierung hält Einzug in den Schulzimmern, wenn auch nicht überall mit Highspeed. Edmund Steiner, Dozent für Mathematik-Didaktik an der PH Wallis, präsentierte die Walliser Entwicklung Xpanda, welche derzeit als Pilotprojekt an der Oberstufe Leukerbad angewandt wird. Digitale Zusatzinformationen werden mit Augmented Reality (AR) via Smartphones oder Tablets in die reale Umgebung des Nutzers integriert. AR soll Zusatznutzen bringen, sprich die Realität, etwa aus dem Schulbuch, mit Bildern, Videos oder 3D-Modellen erweitern und besser veranschaulichen.

Zusätzlich kann der Benutzer in Echtzeit interagieren, das macht die Besonderheit von AR aus. Lehrpersonen können selbst erstellte AR-Inhalte in ihren Unterricht integrieren, indem sie diese auf die webbasierte Plattform von Xpanda hochladen. Das Panda-Signet auf Lehrmitteln oder Übungsblättern darf von den Schülern als Aufforderung verstanden werden, das Smartphone zu zücken. Mit der Xpanda-App scannen sie das Signet ein und gelangen so auf zusätzliches digitales Material zum Thema.

Sie finden dort etwa ein Erklärvideo ihres Lehrers, der Schritt für Schritt eine Formel entwickelt. Das kann auch wiederholt angeschaut werden, während die Lehrperson die Zeit allenfalls als Coach für Schwächere nutzt. Ein Würfel kann in 3D-Technologie gedreht und wieder gedreht werden, bis alles klar ist. Die Walliser Schüler äussern sich positiv, da heisst es etwa: «Es ist einfach zu bedienen», «Xpanda ist motivierend» oder «Wir brauchen nicht extra den Laptop aufzustarten oder den Lehrer zu fragen».

Bei aller Fortschrittsgläubigkeit gilt es, den gesunden Menschenverstand zu wahren. Der Einsatz neuer Technologien in Schulen ist sicher richtig, es gilt, das Potenzial fürs Lehren und Lernen nutzbar zu machen. Nicht zuletzt trainiert dies auch die Fähigkeit, Tablets und Co. sinnvoll einzusetzen. Doch physische Gegenstände und damit auch Bücher haben nicht ausgedient, sie bleiben Grundbedürfnisse. So wie Magda Balzer ihren Primarschülern das Werken und andere sinnliche Lern-Erlebnisse erhalten will, wünscht sich Rico Cathomas am Feierabend kein virtuelles Bier.
Susi Schildknecht


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