An einer Bündner Veranstaltung zum Thema "Lehrmittel: gedruckt oder digital" fallen interessante Aussagen. Da sagt beispielsweise eine erfahrene Lehrerin: «Frühere Lehrmittel waren Planungsinstrumente, die Kinder hatten beispielsweise die Seiten 14 bis 16 zu lernen. Heute ist alles offener geworden, viel offener. Dies gibt mir mehr Freiheit in der Lektion. So freue ich mich etwa, wenn ich Zeit habe, um auf eine Antwort eines Kindes zu warten. Da treten manchmal sehr kreative und wertvolle Überlegungen zu Tage.» Hatte die Lehrerin früher denn keine Zeit? War der Unterricht früher weniger kreativ? Eine weitere Aussage: "Der Alltag verändert sich derzeit so schnell, dass Beispielaufgaben in gedruckten Lehrmitteln rasch veraltet wirken." Nicht die sich verändernde Welt ist doch hier das Problem, sondern die vielleicht schlechten Aufgaben. (uk)
Lehrmittel der Zukunft, Bündner Woche, 27.11. von Susi Schildknecht
«Sind Schulbücher am
Ende?» Mit diesem provokanten Titel lud das Wissenschaftscafé Graubünden
kürzlich zum angeregten Austausch über gedruckte und digitale Lehrmittel. Die
Veranstaltungen des Wissenschaftscafé Graubünden wollen den Austausch zwischen
wissenschaftlichen Expertinnen und Experten und dem Publikum fördern. Das Thema
«Sind Schulbücher am Ende?», rief überwiegend Lehrpersonen auf den Plan. Diese
bekamen interessante Voten und Überlegungen zu hören.
Moderiert wurde
die Diskussionsrunde von Gian-Paolo Curcio, Rektor der Pädagogischen Hochschule
Graubünden (PHGR). Diese bietet seit einigen Jahren einen Studiengang
Lehrmittelautor/-in an. Dessen Leiter, Rico Cathomas, sprach sich denn auch
engagiert für die Aufwertung dieses wichtigen und komplexen Berufes aus. Und
schon war man mittendrin in der Diskussion um Inhalte und Form der Lehrmittel
und um die Rolle des Lehrplans 21 in diesem Zusammenhang.
Einig war man
sich darin, dass mit letzterem nicht alles neu wird. Das Schlagwort
«Kompetenzen» will nicht heissen, dass kein Grundwissen mehr vermittelt werden
müsse. Wissen und Können werden nach wie vor gefragt und nötig sein. Susanne
Grassmann, Leiterin der Stabstelle für Digitales Lernen beim Klett und Balmer
Verlag Schweiz, erklärte es so: «Neu werden wohl mehr Rückschlüsse vom Können
aufs Wissen gezogen werden können, während die herkömmlichen Lehrmittel fürs
Umgekehrte konzipiert waren.»
Edmund Steiner
von der Pädagogischen Hochschule Wallis pflichtete bei, dass es selbst bei den
neuesten Lehrmittelentwicklungen kein Können ohne Wissen gäbe: «Die Lernziele
sind vorgegeben, also sind auch die Inhalte immer noch da. Führende
Lehrmittelverlage listen neu pro Kapitel die darin behandelten Kompetenzen
gemäss Lehrplan 21 auf.» Dies unterstützt die Lehrpersonen darin, ihren Unterricht
zu strukturieren.
Zahlreiche
Reformen mit- und durchgemacht hat Magda Balzer, die vor 35 Jahren ihre erste
Stelle als Primarlehrerin in Valzeina antrat und heute immer noch in dieser
Funktion in Grüsch tätig ist: «Frühere Lehrmittel waren Planungsinstrumente,
die Kinder hatten beispielsweise die Seiten 14 bis 16 zu lernen. Heute ist
alles offener geworden, viel offener. Dies gibt mir mehr Freiheit in der
Lektion. So freue ich mich etwa, wenn ich Zeit habe, um auf eine Antwort eines
Kindes zu warten. Da treten manchmal sehr kreative und wertvolle Überlegungen
zu Tage.»
Was macht denn
heute ein gutes Lehrmittel aus? Zu dieser Frage holte Susanne Grassmann etwas
aus. Während die gängige Lehrmittelpraxis der Pädagogen lange Zeit das
«problemorientierte Lernen» als motivierend propagierte, sei sie als
Entwicklungspsychologin überzeugt, dass dies nicht der Fall sei. Im Gegenteil:
«Problemlösen hilft nicht beim Lernen. Viele Lehrmittel sind immer noch so
gemacht, dass es darin sogenannte Alltagsprobleme gibt, und das ist das
Problem.»
Der Alltag
verändert sich derzeit so schnell, dass Beispielaufgaben in gedruckten
Lehrmitteln rasch veraltet wirken. Beim Klett und Balmer Verlag Schweiz
arbeitet man mit Hochdruck an neuen Konzepten, deren Strategie für Susanne Grassmann
die richtige ist: «Hybrid arbeiten, also mit Schulbüchern und neuen
Technologien, um das Beste aus beiden Welten zu nutzen.» Aus dem Publikum
meldete sich Petra Seifert, Primarlehrerin in Igis. Erklärvideos finde sie
manchmal ganz schön und nützlich, von einem guten Lehrmittel erhoffe sie sich
aber insbesondere Links zur Vertiefung.
Ob in Buchform
oder digital: An den Pädagogischen Hochschulen Graubünden und Wallis ist man
sich einig, dass ein gutes Lehrmittel helfen muss, Wissen aufzubauen, Übungsmöglichkeiten
anzubieten, das Gelernte zu vertiefen und zu transferieren, um den
Kompetenzaufbau zu unterstützen. Für Rico Cathomas schafft dieses Vorgehen gute
Voraussetzungen, die heute gefragten «Versatilisten» hervorzubringen, also
mental bewegliche, dauerhaft lernwillige Menschen.
Die
Digitalisierung hält Einzug in den Schulzimmern, wenn auch nicht überall mit
Highspeed. Edmund Steiner, Dozent für Mathematik-Didaktik an der PH Wallis,
präsentierte die Walliser Entwicklung Xpanda, welche derzeit als Pilotprojekt
an der Oberstufe Leukerbad angewandt wird. Digitale Zusatzinformationen werden
mit Augmented Reality (AR) via Smartphones oder Tablets in die reale Umgebung
des Nutzers integriert. AR soll Zusatznutzen bringen, sprich die Realität, etwa
aus dem Schulbuch, mit Bildern, Videos oder 3D-Modellen erweitern und besser
veranschaulichen.
Zusätzlich kann
der Benutzer in Echtzeit interagieren, das macht die Besonderheit von AR aus.
Lehrpersonen können selbst erstellte AR-Inhalte in ihren Unterricht
integrieren, indem sie diese auf die webbasierte Plattform von Xpanda
hochladen. Das Panda-Signet auf Lehrmitteln oder Übungsblättern darf von den
Schülern als Aufforderung verstanden werden, das Smartphone zu zücken. Mit der
Xpanda-App scannen sie das Signet ein und gelangen so auf zusätzliches
digitales Material zum Thema.
Sie finden dort
etwa ein Erklärvideo ihres Lehrers, der Schritt für Schritt eine Formel
entwickelt. Das kann auch wiederholt angeschaut werden, während die Lehrperson
die Zeit allenfalls als Coach für Schwächere nutzt. Ein Würfel kann in
3D-Technologie gedreht und wieder gedreht werden, bis alles klar ist. Die
Walliser Schüler äussern sich positiv, da heisst es etwa: «Es ist einfach zu
bedienen», «Xpanda ist motivierend» oder «Wir brauchen nicht extra den Laptop
aufzustarten oder den Lehrer zu fragen».
Bei aller
Fortschrittsgläubigkeit gilt es, den gesunden Menschenverstand zu wahren. Der
Einsatz neuer Technologien in Schulen ist sicher richtig, es gilt, das
Potenzial fürs Lehren und Lernen nutzbar zu machen. Nicht zuletzt trainiert
dies auch die Fähigkeit, Tablets und Co. sinnvoll einzusetzen. Doch physische
Gegenstände und damit auch Bücher haben nicht ausgedient, sie bleiben
Grundbedürfnisse. So wie Magda Balzer ihren Primarschülern das Werken und
andere sinnliche Lern-Erlebnisse erhalten will, wünscht sich Rico Cathomas am
Feierabend kein virtuelles Bier.
Susi
Schildknecht
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