20. November 2019

Computer im Klassenraum beeinträchtigen die Konzentration

Neurowissenschaften haben gezeigt, dass wir in den digitalen Medien zu Opfern eines zerstreuten und verzweifelten Multitasking werden.In seinem NZZ-Gastkommentar hat Alexander Kluge die Etymologie des Wortes «Lesen» erläutert. Es sei für ihn mehr als nur Buchstabieren, nämlich eine besondere Art gespannter Aufmerksamkeit, eine Konzentration. Es ist kein Zufall, dass ein so eminenter Denker der Gegenwart uns die Etymologie dieses Wortes nahebringen will. Wir befinden uns derzeit in Bezug auf das Lesen inmitten eines Paradoxons, denn es wird mehr denn je gelesen: E-Mails, Whatsapp-Mitteilungen, Tweets, irgendwelche Internetsites. Doch irgendwie sind uns darüber Sinn und Bedeutung dieses Wortes verloren gegangen.

Die Nebeneffekte des Lesens lehren, NZZ, 20.11. von Massimo Salgaro



Leserevolution

Das ist nicht verwunderlich, da wir uns inmitten einer Leserevolution befinden, wie Experten wie Adriaan Van der Wheel diagnostiziert haben. In jeder Revolution wird etwas gewonnen und geht etwas verloren. Was wir uns in der gegenwärtigen Leserevolution aneignen mussten, ist eine Form der Lektüre, die sich für das Internet und digitale Texte besonders eignet, das sogenannte «Skimming». Darunter versteht man eine flüchtige Lektüre, bei der im Überfliegen des Textes die relevanten Informationen herausgefischt werden. Aber vielleicht ist das gar kein Lesen, zumindest nicht im Sinn von Kluges Definition, was wir dabei tun. Inzwischen wissen wir, dass die digitalen Umwelten auch ein Stressfaktor sind und oft zu kognitiver Überlastung führen können.

In einem aus der heutigen Sicht geradezu prophetischen Artikel hat Roland Reuss einst in der NZZ diesbezüglich die richtigen Akzente gesetzt. Papierlose Lektüre erschwere aufgrund der typografischen Eigenschaften digitaler Texte aufmerksames Lesen. Damit wäre eine weitere Einsicht verbunden, nämlich «dass Denken Zeit und Geduld, mit einem Wort: die Langsamkeit eines Studiums braucht». Was im digitalen Zeitalter abhanden gekommen sei, wäre somit die tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Text, verinnerlichte Lektüre, notwendige Prämisse für das Verständnis des Textes und dessen Einprägung. Konzentration ist ein Nebeneffekt dieser Form von Lektüre, genauso wie Empathie eines der literarischen Lektüre ist. Das daraus hervorgehende Studium ist traditionell mit der Lektüre auf Papier verbunden und bildet den Kern schulischer Bildung.
Als ich mich 2014 mit fast 200 Forschenden aus ganz Europa im Netzwerk E-READ zusammenfand, um zur Lektüre im digitalen Zeitalter zu recherchieren, war uns rasch klar, dass unsere Arbeit um diese zentrale Frage kreisen müsste: Welchen Unterschied gibt es zwischen der Lektüre auf Papier und der auf digitalen Medien? Die wichtigsten Befunde sind in die «Stavanger Erklärung» eingeflossen, die man, allerdings digital, im Netz nachlesen kann. Fazit: Beim Lesen längerer Informationstexte ist das Papier dem Bildschirm in Hinsicht auf Erinnerungsleistung und tiefes Textverständnis überlegen. Ausserdem ist im digitalen Medium die «Metacognition», also die Beurteilung der eigenen Lernkapazität, schwächer als bei der Lektüre auf Papier.

Diese wissenschaftlichen Befunde dürfen nicht zu voreiligen Folgerungen verführen. Es war nie das Ziel von E-READ, Kulturpessimismus zu nähren oder gar das Digitale zu verteufeln. Wir wollten mit unserer Erklärung nahelegen, dass es nicht einerlei ist, ob wir gedruckte oder elektronische Texte lesen. Dieser Befund impliziert einen Rat an die Schule: Die Technik darf nie Selbstzweck sein, und Bildung muss hauptsächlich vom Lernenden her gedacht werden.


Multitasking

In der Zwischenzeit haben mehrere E-READ-Forschungen nützliche Hinweise für den Unterricht ergeben. Eine kritische Analyse (Salmerón und Delgado) aus diesem Jahr etwa zeigt, dass die Benützung von Computern im Klassenraum die Lernfähigkeit und Konzentration der Schüler in der Regel beeinträchtigt. Andere Studien belegen, dass handschriftlich erfasste Notizen ein besseres Verständnis und Studium ermöglichen als am Computer entstandene.

Es geht hier nicht darum, der Lektüre mittels elektronischer Medien eine traditionelle entgegenzustellen, weil beide zu unserer Bildung beitragen. Die Aufgabe der Schule ist es heute, effektive Lese- und Lernstrategien für alle Medien zu vermitteln. Wie die Neurowissenschaften gezeigt haben, werden wir in den digitalen Medien zu Opfern eines zerstreuten und verzweifelten Multitasking, ein Mythos unserer Zeit, den die Forschung dekonstruiert hat. Heute bekommt die Schule ein neues Ziel, nämlich dem Ablenkungspotenzial der digitalen Medien entgegenzuwirken. Das Mittel dazu ist ein altbekanntes, es heisst Studium.

Massimo Salgaro ist Professor für Sprachen und Literatur an der Universität Verona. Er diskutierte am NZZ-Podium Bayern mit vom 9. Oktober 2019 zum Thema «Lesen» in den Münchner Kammerspielen.


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