Neurowissenschaften haben gezeigt, dass wir in den digitalen
Medien zu Opfern eines zerstreuten und verzweifelten Multitasking werden.In
seinem NZZ-Gastkommentar hat Alexander Kluge die Etymologie des
Wortes «Lesen» erläutert. Es sei für ihn mehr als nur Buchstabieren,
nämlich eine besondere Art gespannter Aufmerksamkeit, eine Konzentration. Es
ist kein Zufall, dass ein so eminenter Denker der Gegenwart uns die Etymologie
dieses Wortes nahebringen will. Wir befinden uns derzeit in Bezug auf das Lesen
inmitten eines Paradoxons, denn es wird mehr denn je gelesen: E-Mails,
Whatsapp-Mitteilungen, Tweets, irgendwelche Internetsites. Doch irgendwie sind
uns darüber Sinn und Bedeutung dieses Wortes verloren gegangen.
Die Nebeneffekte des Lesens
lehren, NZZ, 20.11. von Massimo Salgaro
Leserevolution
Das ist nicht verwunderlich,
da wir uns inmitten einer Leserevolution befinden, wie Experten wie Adriaan Van
der Wheel diagnostiziert haben. In jeder Revolution wird etwas gewonnen und
geht etwas verloren. Was wir uns in der gegenwärtigen Leserevolution aneignen
mussten, ist eine Form der Lektüre, die sich für das Internet und digitale
Texte besonders eignet, das sogenannte «Skimming». Darunter versteht man eine
flüchtige Lektüre, bei der im Überfliegen des Textes die relevanten
Informationen herausgefischt werden. Aber vielleicht ist das gar kein Lesen,
zumindest nicht im Sinn von Kluges Definition, was wir dabei tun. Inzwischen
wissen wir, dass die digitalen Umwelten auch ein Stressfaktor sind und oft zu
kognitiver Überlastung führen können.
In einem aus der heutigen
Sicht geradezu prophetischen Artikel hat Roland Reuss einst in der NZZ
diesbezüglich die richtigen Akzente gesetzt. Papierlose Lektüre erschwere aufgrund der typografischen Eigenschaften
digitaler Texte aufmerksames Lesen. Damit wäre eine weitere Einsicht
verbunden, nämlich «dass Denken Zeit und Geduld, mit einem Wort: die
Langsamkeit eines Studiums braucht». Was im digitalen Zeitalter abhanden
gekommen sei, wäre somit die tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Text,
verinnerlichte Lektüre, notwendige Prämisse für das Verständnis des Textes und
dessen Einprägung. Konzentration ist ein Nebeneffekt dieser Form von Lektüre,
genauso wie Empathie eines der literarischen Lektüre ist. Das daraus
hervorgehende Studium ist traditionell mit der Lektüre auf Papier verbunden und
bildet den Kern schulischer Bildung.
Als ich mich 2014 mit fast
200 Forschenden aus ganz Europa im Netzwerk E-READ zusammenfand, um zur Lektüre
im digitalen Zeitalter zu recherchieren, war uns rasch klar, dass unsere Arbeit
um diese zentrale Frage kreisen müsste: Welchen Unterschied gibt es zwischen
der Lektüre auf Papier und der auf digitalen Medien? Die wichtigsten Befunde
sind in die «Stavanger Erklärung» eingeflossen, die man, allerdings digital, im
Netz nachlesen kann. Fazit: Beim Lesen längerer Informationstexte
ist das Papier dem Bildschirm in Hinsicht auf Erinnerungsleistung und tiefes
Textverständnis überlegen. Ausserdem ist im digitalen Medium die
«Metacognition», also die Beurteilung der eigenen Lernkapazität, schwächer als
bei der Lektüre auf Papier.
Diese wissenschaftlichen
Befunde dürfen nicht zu voreiligen Folgerungen verführen. Es war nie das Ziel
von E-READ, Kulturpessimismus zu nähren oder gar das Digitale zu verteufeln.
Wir wollten mit unserer Erklärung nahelegen, dass es nicht einerlei ist, ob wir
gedruckte oder elektronische Texte lesen. Dieser Befund impliziert einen Rat an
die Schule: Die Technik darf nie Selbstzweck sein, und Bildung muss
hauptsächlich vom Lernenden her gedacht werden.
Multitasking
In der Zwischenzeit haben
mehrere E-READ-Forschungen nützliche Hinweise für den Unterricht ergeben. Eine
kritische Analyse (Salmerón und Delgado) aus diesem Jahr etwa zeigt, dass die
Benützung von Computern im Klassenraum die Lernfähigkeit und Konzentration der
Schüler in der Regel beeinträchtigt. Andere Studien belegen, dass
handschriftlich erfasste Notizen ein besseres Verständnis und Studium
ermöglichen als am Computer entstandene.
Es geht hier nicht darum,
der Lektüre mittels elektronischer Medien eine traditionelle entgegenzustellen,
weil beide zu unserer Bildung beitragen. Die Aufgabe der Schule ist es heute,
effektive Lese- und Lernstrategien für alle Medien zu vermitteln. Wie die
Neurowissenschaften gezeigt haben, werden wir in den digitalen Medien zu Opfern
eines zerstreuten und verzweifelten Multitasking, ein Mythos unserer Zeit, den
die Forschung dekonstruiert hat. Heute bekommt die Schule ein neues Ziel,
nämlich dem Ablenkungspotenzial der digitalen Medien entgegenzuwirken. Das
Mittel dazu ist ein altbekanntes, es heisst Studium.
Massimo
Salgaro ist
Professor für Sprachen und Literatur an der Universität Verona. Er diskutierte
am NZZ-Podium Bayern mit vom 9. Oktober 2019 zum Thema «Lesen» in den
Münchner Kammerspielen.
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