10. Oktober 2019

Überforderung im Umgang mit der sogenannten Integration

Vermehrt war in den vergangenen Wochen zu lesen, dass die schulische Integration von behinderten Schülern vermutlich so nicht wird weitergeführt werden können. Als Grund dafür werden nun vor allem die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen genannt, die die Lehrkräfte an den Rand ihrer Belastbarkeit (oder darüber hinaus) führen würden. Dies ist, aus meiner Sicht, eine fatale Argumentation, weil der schwarze Peter hier einer Gruppe von Kindern zugewiesen wird, die nichts dafür können. Bei dieser Argumentation wird ausgeblendet, dass die schulische Integration behinderter Kinder, und dies betrifft sowohl lern- wie auch geistig behinderte Kinder, in der praktizierten Form nicht durchführbar ist.
Die schulische Integration ist auf dem Rückzug, NZZ, 10.10. von Riccardo Bonfranchi

«Begleit-Ämtliplan»
Unabhängig davon, ob die Regelschule dieser komplexen Aufgabe, nämlich behinderte Kinder adäquat zu fördern, überhaupt gerecht zu werden vermag und ob es überhaupt ihre Aufgabe ist, dies zu leisten, darf nicht vergessen beziehungsweise unterschlagen werden, dass auch der oft ins Feld geführte soziale Aspekt in keiner Art und Weise zum Tragen kommt. Oft wurde nämlich gesagt, dass es doch schön sei, wenn behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche zusammenkämen. Dem ist zuzustimmen. Ob dies allerdings in einem im Grunde auch heute noch (oder heute noch stärker) intellektuellen Raum des Lehrens und Lernens geschehen soll, erscheint doch mehr als fraglich.

Wenn ein Schüler Tag für Tag mitbekommt, dass er das meiste, sowohl was den Stoff als auch was die sozialen Austauschsituationen anbelangt, nicht versteht, wird er wohl kaum dabei glücklich werden. Die Anzahl an behinderten Schülern, die in der Mittel- beziehungsweise Oberstufe dann an eine heilpädagogische Sonderschule wechseln, legt hiervon beredtes Zeugnis ab. Es kann auch nicht sein, dass der Lehrer, wie ich es selber an einer Primarschule im Kanton Zürich mitbekommen habe, mit den Regelschülern – heimlich, ohne Wissen des behinderten Kindes – einen «Begleit-Ämtliplan» errichtet hat, damit sichergestellt ist, dass jeweils eine Woche lang zwei Kinder sich um den behinderten Mitschüler kümmern, weil dieser nach einigen Wochen nur noch allein die Pause verbrachte. In der nächsten Woche sind dann gemäss Plan zwei andere Schüler an der Reihe.

So eine Vorgehensweise ist wohl gut gemeint, zeigt aber doch auf, dass eine solche (Schein-)Integration, die lediglich auf eine gemeinsam verbrachte Zeit hinausläuft, wohl kaum den hohen Zielen, die die Befürworter vor Jahren auf ihre Fahnen geheftet haben, gerecht zu werden vermag. Dass nun die verhaltensauffälligen Schüler als Vorwand herhalten müssen, damit dieses Experiment beerdigt werden kann, macht die Sache auch nicht besser.

Andere Modelle, wie man die Integration auf einem sanfteren Weg hätte durchführen können, zum Beispiel eine Teilintegration oder gemeinsam durchgeführte Projekte wie Lager, Zoobesuche oder Ähnliches, haben nie Anklang bei der Bildungsdirektion gefunden. Man wollte alles und wird vermutlich nichts haben.

Ähnlich den Kleinklassen
Zu guter Letzt soll noch erwähnt werden, dass die Bildungsdirektion in Zürich davon ausgeht, dass sie die Teilpensen an Schulen wird reduzieren wollen. Wie dies zu geschehen hat, davon ist nichts bekannt. Es ist aber gerade die heutige Integrationspraxis, die unter anderem massgeblich dafür verantwortlich ist, dass die Teilpensen üppig ins Kraut geschossen sind. Viele der Heilpädagoginnen, die die stundenweise Begleitung behinderter Kinder sicherstellen sollen, arbeiten nämlich Teilzeit. So haben denn auch diverse Gemeinden längst damit begonnen, kleine Klassen einzurichten, die den früheren Kleinklassen in auffallender Art und Weise gleichen. Nur, dass diese nicht von Heilpädagogen geführt werden, sondern von Oberstufenlehrkräften.

Dass nun ebenfalls viele verhaltensauffällige Schüler in heilpädagogische Sonderschulen, die im Grunde auf Schüler mit einer geistigen Behinderung ausgerichtet sind, umgeteilt werden, zeigt letztlich die Überforderung sämtlicher Stellen, die sich mit dieser sogenannten Integration, die eigentlich keine ist, auseinandersetzen müssen. Die Frage ist nun: Wie kommen die verantwortlichen Stellen aus dieser Nummer ohne Gesichtsverlust wieder heraus? Eventuell wäre es ehrlich und sinnvoll zugleich, wenn man zugäbe, dass man es zwar versucht, man sich aber geirrt habe.

Riccardo Bonfranchi ist Heilpädagoge, Ethiker und Supervisor in sozialpädagogischen Institutionen.


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