Die schulische Integration ist auf dem Rückzug, NZZ, 10.10. von Riccardo Bonfranchi
«Begleit-Ämtliplan»
Unabhängig davon, ob die Regelschule dieser komplexen Aufgabe, nämlich
behinderte Kinder adäquat zu fördern, überhaupt gerecht zu werden vermag und ob
es überhaupt ihre Aufgabe ist, dies zu leisten, darf nicht vergessen
beziehungsweise unterschlagen werden, dass auch der oft ins Feld geführte soziale
Aspekt in keiner Art und Weise zum Tragen kommt. Oft wurde nämlich gesagt, dass
es doch schön sei, wenn behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche
zusammenkämen. Dem ist zuzustimmen. Ob dies allerdings in einem im Grunde auch
heute noch (oder heute noch stärker) intellektuellen Raum des Lehrens und
Lernens geschehen soll, erscheint doch mehr als fraglich.
Wenn ein Schüler Tag für Tag mitbekommt, dass er das meiste, sowohl was
den Stoff als auch was die sozialen Austauschsituationen anbelangt, nicht
versteht, wird er wohl kaum dabei glücklich werden. Die Anzahl an behinderten
Schülern, die in der Mittel- beziehungsweise Oberstufe dann an eine
heilpädagogische Sonderschule wechseln, legt hiervon beredtes Zeugnis ab. Es
kann auch nicht sein, dass der Lehrer, wie ich es selber an einer Primarschule
im Kanton Zürich mitbekommen habe, mit den Regelschülern – heimlich, ohne
Wissen des behinderten Kindes – einen «Begleit-Ämtliplan» errichtet hat, damit
sichergestellt ist, dass jeweils eine Woche lang zwei Kinder sich um den
behinderten Mitschüler kümmern, weil dieser nach einigen Wochen nur noch allein
die Pause verbrachte. In der nächsten Woche sind dann gemäss Plan zwei andere
Schüler an der Reihe.
So eine Vorgehensweise ist wohl gut gemeint, zeigt aber doch auf, dass
eine solche (Schein-)Integration, die lediglich auf eine gemeinsam verbrachte
Zeit hinausläuft, wohl kaum den hohen Zielen, die die Befürworter vor Jahren
auf ihre Fahnen geheftet haben, gerecht zu werden vermag. Dass nun die verhaltensauffälligen
Schüler als Vorwand herhalten müssen, damit dieses Experiment beerdigt werden
kann, macht die Sache auch nicht besser.
Andere Modelle, wie man die Integration auf einem sanfteren Weg hätte
durchführen können, zum Beispiel eine Teilintegration oder gemeinsam
durchgeführte Projekte wie Lager, Zoobesuche oder Ähnliches, haben nie Anklang
bei der Bildungsdirektion gefunden. Man wollte alles und wird vermutlich nichts
haben.
Ähnlich den Kleinklassen
Zu guter Letzt soll noch erwähnt werden, dass die Bildungsdirektion in
Zürich davon ausgeht, dass sie die Teilpensen an Schulen wird reduzieren
wollen. Wie dies zu geschehen hat, davon ist nichts bekannt. Es ist aber gerade
die heutige Integrationspraxis, die unter anderem massgeblich dafür
verantwortlich ist, dass die Teilpensen üppig ins Kraut geschossen sind. Viele
der Heilpädagoginnen, die die stundenweise Begleitung behinderter Kinder
sicherstellen sollen, arbeiten nämlich Teilzeit. So haben denn auch diverse
Gemeinden längst damit begonnen, kleine Klassen einzurichten, die den früheren
Kleinklassen in auffallender Art und Weise gleichen. Nur, dass diese nicht von
Heilpädagogen geführt werden, sondern von Oberstufenlehrkräften.
Dass nun ebenfalls viele verhaltensauffällige Schüler in
heilpädagogische Sonderschulen, die im Grunde auf Schüler mit einer geistigen
Behinderung ausgerichtet sind, umgeteilt werden, zeigt letztlich die
Überforderung sämtlicher Stellen, die sich mit dieser sogenannten Integration,
die eigentlich keine ist, auseinandersetzen müssen. Die Frage ist nun: Wie
kommen die verantwortlichen Stellen aus dieser Nummer ohne Gesichtsverlust
wieder heraus? Eventuell wäre es ehrlich und sinnvoll zugleich, wenn man
zugäbe, dass man es zwar versucht, man sich aber geirrt habe.
Riccardo Bonfranchi ist Heilpädagoge, Ethiker und Supervisor in
sozialpädagogischen Institutionen.
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