9. Oktober 2019

Gelobt und insgeheim missachtet


Wer keine Kinder hat, ist abgehängt. Der weiss nicht, was in den Schulen los ist. Was wird gelehrt, wie sieht das Geschichtsbild aus, gibt es noch einen Literaturkanon, gemeinsame Werte? Keine Ahnung. Die Medien berichten ja nicht über den Lernstoff. Vermutlich sind Journalisten heilfroh, die Schule hinter sich zu haben. Lehrer gelten als Weltfremde, die, kaum der Hochschule entronnen, in die Schule zurück flüchten, statt sich in der freien Wirtschaft zu bewähren. Noch am meisten berichtet wird über Patzer von Lehrpersonen. Dann gucken Journalisten genau hin. So pingelig wie Oberlehrer. Oder wie Schüler, die sich freuen, wenn der Lehrer einen Fehlermacht.
Kleines Lob des Lehrerberufs, Basler Zeitung, 9.10. von Christine Richard


In Wirklichkeit ist Lehrer der wichtigste aller Berufe, schon allein deshalb, weil jeder von uns einmal Lehrerinnen und Lehrer hatte. Untersuchungen ergaben: Pädagogische Reformen, Didaktik und Methodik sind zweitrangig; das Wichtigste ist die Persönlichkeit des Lehrers. Ob der Lehrer für sein Fach begeistern kann, ob er alle gleichwertig und gerecht behandelt, ob er sich einfühlen kann – und ob er authentisch ist.

Jugendlichewittern schnell, wenn ein Lehrerkeine Substanz hat. Von Heinrich Manns «Professor Unrat» (1905) bis zum Film «Fack ju Göhte» (2013): Es zählt die Persönlichkeit der Lehrer.

Mein erster Klassenlehrer war ein unscheinbarer Wicht. Aber weil uns dieses Männlein vor den Prügel-Paukern an der Schule beschützte, liebten wir ihn und lernten von ihm nebenbei das Recht auf Widerstand. Die Nulltypen, die nur ihren Job machen, sind vergessen. Im Gedächtnis bleiben die hochsympathischen Käuze, die Eigendenker und intellektuellen Überflieger, die uns in unbekannte Sphären mitreissen.

Die Volksschule brachte mir bei, mich mit Kindern zu befreunden ohne Ansehen ihrer Herkunft. Schule war und ist die zentrale Spielstätte für Integration. Auf dem Gymnasium habe ich vom Deutschlehrer die Lust am Text gelernt, von der Religionslehrerin Ideologiekritik, von der Französischlehrerin den Existenzialismus – und vom Mathelehrer, dass Mathematik zwar die reinste aller Geisteswissenschaften ist, aber meinen eigenen Geist überfordert.

Wenn Erwachsenwerden bedeutet, seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen auszutarieren, dann ist der Schutzraum Schule dafür genau der richtige Ort, danke, liebe Lehrer.
Warum wird eure Mühe so wenig geschätzt?

In China sind Lehrer am meisten angesehen, in Israel am niedrigsten («GlobalTeacherStatus Index»). Bei der Missachtung des Lehrerberufs liegen die Schweiz und Deutschland ganz vorne. Alle anderen europäischen Länderschätzen den Lehrerberuf weitaus mehr, auch die USA, Ägypten, Neuseeland, Südkorea und die Türkei.
Umfragen des Berufsverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) ergaben: Drei Viertel der Lehrpersonen fühlen sich von der Gesellschaft «eher weniger respektiert». Und sie sind schlechter bezahlt als Leute in der freien Wirtschaft mit vergleichbarem Anforderungsprofil.

Berufe, die mit Schwachen zu tun haben, mit Kindern, Jugendlichen, Kranken oder Alten, werden öffentlich gelobt und insgeheim missachtet. In Spanien und den USA würden immerhin über 40 Prozent ihrem eigenen Kind raten, Lehrer zu werden; in der Schweiz sind es nur knapp 30 Prozent. Gesellschaftliche Geringschätzung trägt Mitschuld am aktuellen Lehrermangel.

Die Nachwuchskrise ist nicht neu. Theodor W. Adorno stellte sie bereits 1977 fest. In seinem überaus lesenswerten Essay «Tabus über dem Lehrberuf» gibt er umfassend Auskunft über die Vorurteile. Lehrergelten als Akademiker zweiter Klasse, sie stellen sich nicht der Konkurrenz. Sie werden beneidet wegen ihrer Sicherheit und gleichzeitig deswegen verachtet. Sie sollen Kindern ihre Eigenarten austreiben und werden dabei selber «starr, verkrampft, und ungeschickt». Der Lehrer wird von Teenagern umschwärmt, ist aber ein «aus der erotischen Sphäre ausgeschlossenes Wesen». Eingespannt in eine Kinderwelt, gelten Lehrer selber als infantil.

Vor allem: Lehrer als Vertreter des Geistigen gelten als Verliererin der durchökonomisierten Welt. Man kann es jedoch auch umgekehrt sehen. Eine Gesellschaft, die Lehrer und Ausbilder missachtet, wird Verliererin der auf Wissen und Bildung basierenden Zukunftsgesellschaft.

Lehrer – ein schöner, schwerer, unschätzbar wichtiger Beruf.

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