Es braucht nur eine Frage,und in der fast
leeren Bibliothek in einem Basler Gymnasium ist es plötzlich nicht mehr so still.
Zwei Gymnasiasten sitzen an einem der Tische, beide im Maturjahr, und beide
haben eine klare Meinung. Die Frage war: Wird man heute in der Schule als junger Mann gegenüber den Mädchen benachteiligt?
Die Leiden der jungen Männer, Basler Zeitung, 16.9. von Michèle Binswanger
Die Antwort:Ja, definitiv.«Feminismus hiess einmal Gleichstellung. Jetzt
wollen die Frauen einfach so viel für sich herausholen, wie es nur geht»,sagen sie.
Bildungsexperten warnen schon seit längerem vor einem Bildungssystem, das sich
zunehmend auf Frauen ausrichtet und bei dem die jungen Männer auf der Strecke zu
bleiben drohen. Die Zahlen deuten ebenfalls in diese Richtung: Die gymnasiale
Maturitätsquote von Frauen liegt bei 43 Prozent, jene der Männer bei 33 Prozent. In
der Primarschule gibt es über 90 Prozent Lehrerinnen, an den Mittelschulen und
auf der Oberstufe werden es ebenfalls immer mehr. Kritik gibt es auch an der hohen
Gewichtung von Sprachen, sozialen und emotionalen Kompetenzen,
insbesondere an den Gymnasien. Dies bevorteile die Mädchen,die in der Schule fleissiger und angepasster auftreten.Doch stimmt
die Analyse? Leiden die jungen Männer
unter einer Feminisierung des Bildungssystems,vergällen die vielen Lehrerinnen ihnen
den Schulerfolg?
Binnen-I und Gender-Sternchen
Fragt man Betroffene direkt,haben
sie viel zu erzählen.Über die Art und Weise, wie «der Feminismus» in den letzten
paar Jahren an ihrer Schule Einzug gehalten hat.Es zeige sich etwa in immer
strengeren Sprachregelungen.«Wie wir in offiziellen Schreiben angesprochen
werden, hat sich in den letzten Jahren extrem verändert.»Es wimmle von Binnen-I
und Gender-Sternchen,und man werde dazu angehalten, auch so zu schreiben. Beide
Buben betonen, dass sie fürGleichstellung sind,beide haben
Schwestern und Mütter, die arbeiten.Sie wurden erzogen, dass man Frauen ehren und
wertschätzen soll. Umgekehrt scheine dies aber nicht der Fall zu sein. Zumindest nicht
in der Schule. «Wir werden damit bombardiert, dass man sich als Mann schuldig
fühlen muss», sagen sie. Der Druck komme von Lehrerinnen und Mitschülerinnen.
«Dauernd wird man in ein schlechtes Licht gerückt.» Und besonders die
feministisch orientierten Lehrerinnen würden die Buben strenger bewerten. Als
junger Mann ecke man an,schon rein durch das Auftreten. «Wir haben einen grösseren
Bewegungsdrang, eine tiefere Stimme. Manche Lehrerinnen scheint das zu
überfordern.»
Den Befund, dass die Buben im gegenwärtigen Bildungssystem
Nachteile haben,teilen Lehrer in Bern, Basel,
Luzern und Zürich.Der Basler Schulleiter Dani Morf bringt es so auf den Punkt:
«Manche Lehrerinnen kommen sehr gut mit Buben zurecht,andere weniger.Aber
tatsächlich gelten provozierende Buben schnell als sozial inkompetent–was sie deswegen
natürlich keineswegs sein müssen.Und wenn sie rangeln,legt man
es als Gewalttätigkeit aus.»Tatsache ist, dass ADHS bei Buben zwei-bis viermal häufiger
diagnostiziert wird als bei Mädchen.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu
betonen, ist unpopulär, auf die gesellschaftlichen Nachteile der Männer hinzuweisen
ebenfalls. Pädagoginnen kontern die Frage nach der
Feminisierung der Schule deshalb gern mit dem Hinweis, dass die Diskussion
nicht sachlich geführt werde.Denn Studien zeigen, dass der Lernerfolg nicht
vom
Geschlecht der Lehrpersonen abhängt. Unwidersprochen ist aber auch, dass es
einen sozialen Unterschied macht,ob eine Gruppe vor allem männlich oder weiblich ist
– oder eben gemischt.Gerade in der Diskussion um die
geringere Vertretung von Frauen in Führungspositionen wird das gern betont.
Schlechte Erfahrungen
Tatsächlich fühlen sich viele junge Männer überfordert – und
lehnen zunehmend ab, was sie als «radikalen Feminismus» wahrnehmen. Wenn man
sie fragt,erzählen sie von Lehrerinnen,die es sich nach schlechten Erfahrungen mit Männern
zur Aufgabe gemacht hätten,
ihren Schülern solches Verhalten auszutreiben.Von einem Artikel über Alkoholsucht, den
sie lesen mussten und aus dem im Unterricht ein männliches Vergewaltigersyndrom
hergeleitet wurde. Als wäre jeder Mann ein Vergewaltiger. «Wenn ein Lehrer
einen Witz über Feminismus macht, rennen die Mädchen
sofort zum Rektor,weil das sexistisch sei.
Aber bei solchen Aussagen über Männer wehrt sich niemand.»
Gerade in den sprachlichorientierten Fächern gehe es immer wieder um die
gesellschaftliche Stellung der Frau.«Es ist,als wäre Sexismus ein eigenes Schulfach
geworden.» Männliche Lehrpersonen könnten immerhin ein bisschen
nachvollziehen,wie es ihnen als jungen Männern gehe, und hätten mehr
Verständnis.Wobei die Mädchen auch dort denVorteil hätten,sich besser«einschleimen»
zu können.
Marc Eyer, Leiter der Sekundarstufe II an der Pädagogischen
Hochschule Bern (PHB),räumt zwar ein, dass die Gymnasien in der Tendenz weiblicher
werden. «Das sollte man nicht dramatisieren,aber es lohnt sich sicher, die Sache
systematisch zu untersuchen»,sagter.In derPrimarschuleseidasProblemerkannt,dort
versuche man aktiv, wieder mehr Männer für den Beruf zu begeistern.Auf der
Gymi-Stufe fehle diese Einsicht noch.
Zwar gebe
es einzelne Initiativen, aber keinekoordiniertenVorstösse. Caroline Bühler, die
in einem Forschungsprojekt Gendergerechtigkeit in
der Informatikdidaktik untersucht,betont ebenfalls, die Feminisierung des
Lehrkörpers sei keine hinreichende Erklärung für den geringeren schulischen
Erfolg der Buben.Andere Faktoren spielen eine mindestens so grosse Rolle. Immer wieder genannt wird
der Selektionsdruck,vor allem in der Mittelschule. Dazu kommt Druck von den Eltern,die
sich über das Projekt Kind verwirklichen und auf eine gymnasiale Matur drängen. Und die
Lehrplangestaltung, die noch zu sehr auf Auswendiglernen ausgelegt ist,wie der Luzerner Autor undSek-Lehrer
David Mugglin erläutert: «Wenn es
um Allgemeinwissen geht,sind die Buben oft sehr stark,auch wenn es schwierig ist, sie zum
Wörtlibüffeln zu motivieren. Sie reagieren auch besser auf
Frontalunterricht als auf selbstorganisiertes Lernen. Man müsste kreativer
werden,was Leistungsnachweise betrifft. Zum Beispiel weniger testen,aber wenn,
dann ausführlicheres Feedback geben.» Das sehen auch die Betroffenen so. Sie
sagen:«Es wäre toll,wenn der Stoff anders vermittelt würde.Jetzt
sitzen viele die Schule einfach ab wie eine Gefängnisstrafe.»
An pädagogischen Hochschulen ist die Botschaft bereits angekommen. So gibt
esTendenzen weg vom lernzielorientierten hin zum kompetenzorientierten Lernen, was eher den Buben zu gute komme.
Und auch was den Selektionsdruck angeht,hat man mit Berufs- und Fachmatur
Ausweichmöglichkeiten. Doch letztlich wird auch die beste Bildungsreform das
grundlegende Problem nicht beheben können, sagt Psychologe und Lerncoach Fabian
Grolimund. Nämlich dass die Männer die Erziehungsarbeit weitgehend den Frauen
überlassen. «Heute wachsen Buben in eine Frauenwelt hinein. Und auch wenn sie
den Stoff von einem Mann nicht unbedingt besser lernen würden, können sie von einer
Frau nicht lernen,ein Mann zu sein.»
Wie ein richtiger Mann zu sein hat,
scheint heute niemand zu wissen. Auch die Männer nicht.«Es gibt zwar die aggressiven
Jammeri,die im Feminismus alles Übel sehen, dann die, die mit den
Frauen mitschwimmen»,sagt Grolimund. Souveräne männliche Positionen seien
rar.Mehr Erziehungsverantwortung für
Männer heisst aber auch,dass die Frauen dort Platz freiräumen müssen.«Man spricht immer von Mansplaining»,sagt
Grolimund,«aber in der Erziehung betreiben auch sehr viele Frauen Womansplaining.»
Frauen, die ihren Männern nicht zugestehen können, dass sie es anders machen,
aber nicht unbedingt schlechter. Dieses Womansplaining kennen auch die beiden Gymnasiasten.Und
sie haben genug davon. «Echt, wir
haben keinen Bock mehr,wenn wir so behandelt werden.»
In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Geschlechter nämlich überhaupt
nicht.Beide wünschen sich Wertschätzung für das, was sie sind. Auch wenn
sie manche Dinge vielleicht ein klein wenig anders machen.
Die Leistungsfähigkeit in der Schule hängt nicht vom Geschlecht ab. Sie könnte aber von der Erziehung abhängen. Die Frage stellt sich deshalb, ob Buben im Allgemeinen mehr verwöhnt werden als Mädchen und sie deshalb den schulischen Anforderungen weniger gerecht werden können? Falls ja, müsste man beim (meist unbewussten) Erziehungsverhalten etwas ändern.
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