Die junge Generation soll über Nationalsozialismus
und Antisemitismus aufgeklärt werden und erfahren, dass eine Diktatur nicht vom
Himmel fällt. Doch nur 20 Prozent der Jugendlichen setzen sich mit dem Zweiten
Weltkrieg und dem Holocaust vertieft auseinander: jene, die eine Matura machen. In der Berufsschule dagegen bleibt das Thema aussen
vor. Das ist ein Defizit, sagt Sabina Brändli, Dozentin für Geschichtsdidaktik
in Zürich.
Vertieft hingeschaut wird nur im Gymnasium, SRF, 2.9. von Sabine Bitter
Vertieft hinschauen bleibt exklusiv, Kontext Radio SRF, 29.8.
SRF: Wer an seinen weit zurückliegenden
Geschichtsunterricht denkt, erinnert sich an Pfahlbauern, Römer und Eidgenossen
– und daran, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ausgespart blieben.
Kommt das heute noch vor?
Sabina Brändli: Nur noch bei den über 40-Jährigen.
Junge Menschen befassen sich heute in der obligatorischen Schulzeit mit dem
Thema. Es ist im Lehrplan 21 vorgesehen.
Deutsche Jugendliche wissen heute nicht mehr viel
über den Holocaust. Was weiss die Bildungsforschung über das Wissen der jungen
Generation über den Zweiten Weltkrieg und den Völkermord?
Die Person Hitlers steht nach wie vor stark im
Vordergrund. Wenig Wissen ist hingegen darüber vorhanden, wie es zum
Faschismus, zur nationalsozialistischen Diktatur und zum Holocaust gekommen
ist.
Verbreitet ist auch die naive Vorstellung, dass ein
solches Regime praktisch vom Himmel fällt: Dass Hitler als Diktator mächtig
wurde, ohne dass es Möglichkeiten gegeben hätte, dagegen anzukämpfen.
Wichtig für das historische Lernen ist, dass
Jugendliche erkennen, wie eine Demokratie zur Diktatur werden kann und dass es
auf dem Weg dazu Handlungsmöglichkeiten gibt.
Das Bewusstsein, dass es Handlungsmöglichkeiten
gibt, soll Jugendlichen in der Schweiz in der Sekundarschule, das heisst im
Alter zwischen 12 und 15 Jahren, vermittelt werden. Sie arbeiten in der
Geschichtsdidaktik. Wie gelingt es Lehrkräften, das schwierige Thema angemessen
zu vermitteln?
Es gibt sehr gute neue Lehrmittel. Online sind
zudem Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen verfügbar, die deutlich machen,
wie der Prozess der zunehmenden Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen
Bevölkerung vor sich ging.
Für die Lehrpersonen sind Unterrichtseinheiten
skizziert, wie anhand von zeitgenössischen Fotografien eine kritische
Betrachtungsweise eingeübt werden kann. Auch populäre Darstellungen in
Spielfilmen, Comics und Games können kritisch geprüft werden.
Die Schülerinnen und Schüler sollen sich fragen:
Welche Geschichte wird mir erzählt? Wer ist der Bösewicht? Mit wem soll ich
mich identifizieren? Und warum? Was ist erfunden und was stützt sich auf durch
Forschung gesichertes Wissen? Sie sollen erkennen, dass es auch «Fake History»
gibt. Ein solcher Lernprozess muss auf dieser Stufe beginnen.
Der Geschichtsunterricht in der obligatorischen
Schulzeit wurde in den letzten Jahren gekürzt. Da stellt sich die Frage, was
zum Zweiten Weltkrieg und Holocaust an den Berufsschulen oder den Gymnasien
vermittelt wird.
Im Gymnasium kommt das Thema erneut und intensiv
zur Sprache, oft nicht nur im Geschichts-, sondern auch im Deutschunterricht.
Wir wissen zum Beispiel, dass Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für
Jugendliche wichtig sind und eine grosse Wirkung haben. Auch der Besuch von
ehemaligen Konzentrationslagern ist prägend.
Die Frage, wie aus Bürgerinnen und Bürgern
Faschistinnen und Nationalsozialisten wurden, ist bei der Vermittlung zentral,
wird aber häufig erst im Gymnasium vertieft bearbeitet.
Das ist ein Defizit. Die Schweiz hat eine geringe
Maturitätsquote im internationalen Vergleich. Das heisst, die grosse Mehrheit,
rund 80 Prozent, die einen anderen Bildungsweg wählen, befasst sich nach der
obligatorischen Schulzeit in der Ausbildung nicht mehr mit dem Thema.
Das ist ein Mangel, denn für die politische
Sozialisation ist das die entscheidende Phase, in der sich Werthaltungen
verfestigen.
"Wer an seinen weit zurückliegenden Geschichtsunterricht denkt, erinnert sich an Pfahlbauern, Römer und Eidgenossen – und daran, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ausgespart blieben. Kommt das heute noch vor?
AntwortenLöschenSabina Brändli: Nur noch bei den über 40-Jährigen. Junge Menschen befassen sich heute in der obligatorischen Schulzeit mit dem Thema. Es ist im Lehrplan 21 vorgesehen."
Meine Erfahrung ist in diesem Punkt anders. Ich finde, dass besonders Lehrkräfte über 40 das Thema "2. Weltkrieg" sehr engagiert behandeln und dabei auch von einem Altersbonus und profitieren. Die Aussage der PH-Dozentin ist völlig aus der Luft gegriffen. Ausserdem ist das 20. Jahrhundert nicht erst seit dem Lehrplan 21 obligatorischer Stoff, das war schon früher so.
Ich frage mich auch, ob Oberstufenschüler mit der Frage "Wer ist der Bösewicht?" nicht überfordert sind. Da hätten wohl manche PH-Studenten Mühe. Es kommt halt sehr darauf an, welche Quellen man der Klasse zur Verfügung stellt.