24. September 2019

Gastkommentar zum freiwilligen Kindergarten: Eine Bedrohung für den Schulerfolg?


"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." Immanuel Kant (1724-1804) Nach diesem Motto handelt wohl der Lehrerverband, wenn er den Kindergarten für obligatorisch erklären will. Doch der Reihe nach. Im 2008 hat der Bünder Souverän den Beitritt zu HarmoS abgelehnt. Ein Hauptgrund für das Nein war, dass der Kindergarten obligatorisch werden sollte. «Das Nein zum HarmoS-Konkordat sei bedauerlich, aber in der Realität ohne grosse Auswirkungen», schrieb die SP damals. Mit der Einführung des Lehrplanss 21 Graubünden (LP21GR) scheint sie nun am Ziel. 
«Vollkasko-Mentalität und Abschieben von Verantwortung boomen.» Bündner Tagblatt, 17.9. von Markus Niederdorfer


Altregierungsrat Martin Jäger sprach von einem historischen Moment. Vieles, ja beinahe alles verändert sich – oder kein Stein bleibt auf dem andern. Da passt es, dass Sandra Locher, Präsidentin des Lehrerverbandes und SP-Grossrätin die Freiwilligkeit des Kindergartens abschaffen will. Und damit schliesst sich der Kreis. Ein Prozent der Eltern nimmt sich heute das Recht heraus, ihr Kind nicht in den Kindergarten zu schicken. Diese entscheiden bewusst und fördern ihr Kind nach bestem Wissen und Gewissen. Auch diesen Müttern und Vätern liegt das Wohl ihres Kindes am Herzen. Bedrängen sie mit ihrem Verhalten die Freiheit des anderen? Sind sie gar eine Bedrohung für die Gesellschaft? Eines von hundert Kindern muss in die erste Primarschulklasse integriert werden. Ist die Schule damit wirklich überfordert, oder geht es um etwas anderes?  Wie steht es mit der Gleichheit?  

Gerade im Wahljahr sprechen alle Parteien von Chancengleichheit, der Bildung als einziger Ressource und Nachhaltigkeit.  Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ging vom mündigen Menschen aus. Die Würde des Menschen steht dabei im Zentrum. Die Verantwortung für sein Handeln selber zu tragen, ist von grösster Bedeutung. Dadurch erwirbt er die Kompetenzen, welche den mündigen Menschen auszeichnen. Dieses Bewusstsein wurde zum Fundament der modernen westlichen Demokratien. Mit dem Föderalismus erhielt die Schweiz einen weiteren Grundpfeiler, auf dem ihre Erfolgsgeschichte fusst. Mit dem daraus gestärkten Selbstbewusstsein hatte sie genügend Raum und Zeit, um sich gegen totalitäre Strömungen zu wehren. Der gutschweizerische Kompromiss und der damit einhergehende Pragmatismus formte den Begriff Swissness.  Der Staat vertraut auf die Stärke der Familien. Denn dadurch wächst die Solidarität, welche den Generationenvertrag immer wieder erneuert.  

Das traditionelle Familienbild verblasst aber zusehends und verliert seine Akzeptanz in der aufstrebenden Akademikerwelt. Diese fordert mehr Krippenplätze, staatliche Unterstützung. Die Kinder sollen möglichst viel Halt im Korsett staatlicher Förderprogramme finden. Diese Vollkaskomentalität und das Abschieben von Verantwortung boomen. Sie werden zu Schlüsselkompetenzen in einer sich ständig schneller verändernden Welt hochstilisiert. Die wenigen Familien, welche ihr Kind erst mit sieben Jahren der staatlichen Bildung anvertrauen, gehören der Minderheit an. Sie geniessen keinen Schutz. Wo die kleinen Freiheiten grundlos auf dem Altar des Zeitgeistes und des Opportunismus geopfert werden, sind totalitäre Entwicklungen am Horizont sichtbar. Kant wies darauf hin.Es ist davon auszugehen, dass ein weiterer Stein aus dem alten Fundament umgeschichtet wird, so wie es Alt Regierungsrat Jäger vorausgesagt hatte. Wird die Gesellschaft dadurch wirklich gestärkt? Darüber nachzudenken lohnt sich.  

Markus Niederdorfer ist Lehrer und unterrichtet seit 30 Jahren Kinder und Jugendliche. Er wohnt in Innerferrera

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