«Guete Morge Frau Inaebnit.» Amira* begrüsst die Kindergärtnerin in
breitem Berndeutsch und schüttelt ihr die Hand. Hört man nur diesen Satz, ist
man überzeugt, dass die Fünfjährige perfekt Schweizerdeutsch spricht. Doch das
täuscht. Amira verstand kaum ein Wort, als sie vor einem Jahr in den
Kindergarten kam. Seither hat sie grosse Fortschritte gemacht, trotzdem
wechselt sie manchmal noch mitten im Satz ins Arabische.
"Wiederhole bitte": Wenn im Kindergarten nur eines von vier Kindern fliessend Deutsch spricht, NZZ, 24.9. von Larissa Rhyn
Neben Amira besuchen 18 weitere Kinder den Kindergarten Gäbelbach 1 in
Bern Bethlehem. Für 13 von ihnen war Deutsch nicht die Erstsprache. Sie
sprechen zu Hause Albanisch, Kroatisch, Tigrinya, Kurdisch, Türkisch, Somali,
Portugiesisch, Russisch und Kurdisch. Ein Mädchen, das erst vor wenigen Wochen
in den Kindergarten kam, schaut Elisabeth Inaebnit erwartungsvoll an. «Such dir
dort hinten ein Papier aus, und wir basteln zusammen eine Schachtel.» Die
Kleine legt nur leicht den Kopf schräg, scheint aber nichts verstanden zu
haben. Ein älteres Mädchen schnappt ihre Hand, geht mit ihr zum Basteltisch und
greift nach einem gelben Blatt. «Dass die Kinder sich gegenseitig Sachen
beibringen, hilft enorm», erklärt die Kindergärtnerin.
Inaebnit gibt den meisten Kindern zweimal pro Woche Deutschunterricht.
Sie bringt ihnen neue Wörter bei oder zeigt ihnen, wie sie Verse bilden können,
damit sie ein Gefühl für die Sprache entwickeln. Doch das Erlernen der Sprache
beschränkt sich nicht auf diese sechs Lektionen. Es ist fixer Bestandteil des
Kindergarten-Alltags.
Die Kinder sitzen in einem Kreis auf Holzstühlchen, während Inaebnit ein
Spiel erklärt. Jedes Kind erhält ein Bild, das es beschreiben soll, während die
anderen aus einer Serie von Motiven das passende erraten müssen. «Meitschi und
Blueme», murmelt Manuel,* der zu Hause Portugiesisch spricht. Die alltäglichen
Wörter kennt er bereits, doch es fällt ihm sichtlich schwer, sie in einen
ganzen Satz zu verpacken. Wie gross sein passiver Wortschatz ist, kann Inaebnit
nur schwer abschätzen. Wie viel davon, was sie erklärt, versteht er? Einmal
streckt Manuel aufgeregt auf, blickt dann aber nur verlegen in die Runde und
sagt: «Wiederhole bitte.»
Wo Deutschlernen für Vierjährige
obligatorisch ist
Jedes dritte Kind in der Schweiz lernt zu Hause zuerst eine andere
Sprache als diejenige, die in der Schule gesprochen wird. In den letzten
zwanzig Jahren hat der Anteil der fremdsprachigen Schüler stark zugenommen. Wer
nicht in der Kita oder in einer Spielgruppe war, spricht beim Eintritt in den
Kindergarten oft nur wenig oder gar kein Deutsch. In Bern gibt es verschiedene
Programme zur Frühförderung, in denen die Kinder unter anderem erste
Sprachlernversuche machen. Sie sind jedoch freiwillig. Anders in Basel-Stadt,
wo Kinder ein Jahr vor dem Kindergarteneintritt einen Sprachkurs besuchen müssen,
wenn sie noch nicht gut Deutsch sprechen.
Was in Basel bereits funktioniert, sollte schweizweit angewendet werden,
findet der ehemalige Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann. In einem
Interview mit der NZZ forderte der liberaldemokratische Nationalrat Anfang
Jahr, dass Eltern verpflichtet werden können, ihre drei- oder vierjährigen
Kinder in einen Deutschkurs zu schicken. Eymanns Begründung: Wer die Sprache
bei Schulbeginn nicht beherrsche, sei noch auf Jahre hinaus benachteiligt und
habe später ein höheres Risiko für eine «Karriere in der
Arbeitslosenversicherung und in der Sozialhilfe».
Im Parlament hat Eymann letztes Jahr eine Motion zur frühen
Sprachförderung lanciert. Er will den Bundesrat beauftragen, zusammen mit den
Kantonen zu prüfen, wie die Sprachförderung vor dem Kindergarten in der ganzen
Schweiz umgesetzt werden kann. Der Vorstoss wird von Parlamentariern fast aller
Parteien unterstützt. Im Nationalrat wurde die Motion bereits angenommen, am
Dienstag hat der Ständerat sie oppositionslos an die Regierung überwiesen.
Muttersprachler nicht unterfordern
Im Gäbelbach 1 versucht Inaebnit, viel mit Bildern und Gesten zu
arbeiten. Doch bei 19 Kindern kann sie nicht immer jedem einzeln vorzeigen, was
sie meint. An den Tagen, an denen Inaebnit Deutschunterricht gibt, kümmert sich
ihre Kollegin Marianna Waibel um die anderen Kinder. Waibel sagt: «Es ist
wichtig, dass wir die Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, nicht
unterfordern.» Deshalb erzähle sie auch mal ein Märchen, auch wenn manche kaum
ein Wort davon verstünden.
Beide Kindergärtnerinnen sprechen meist Hochdeutsch. Selbst
fremdsprachige Kinder antworten ihnen jedoch auf Berndeutsch – weil sie die
Wörter von den anderen gelernt haben. «Ig möcht ou usmale», ruft ein Mädchen,
das zu Hause Somali spricht, und setzt sich zu einer Gruppe von Kindern an den
Tisch.
«Um, dois, três», zählt Manuel laut
vor
Inaebnit stimmt ein Lied ein, bei dem die Kinder lernen, von eins bis
drei zu zählen – und das nicht nur auf Deutsch, sondern auch in den
Muttersprachen der anderen. Manuel steht auf und zählt auf Portugiesisch laut
vor: «um, dois, três». Die anderen kichern und sprechen ihm nach. Dann baut
Inaebnit die Zahlen ins Lied ein. Einige singen mit, andere bewegen nur die
Lippen oder schauen zu. Währenddessen darf jedes Kind ein Kunststück seiner
Wahl vorzeigen.
«Verständigen können sich viele
Fremdsprachige schnell, aber ihr Wortschatz ist klein, und das wird vor allem
später in der Schule zum Problem», sagt Inaebnit. Sie ist regelmässig mit
Lehrern in Kontakt und bekommt mit, wie vielen Kindern die Unterrichtssprache
auch in der Primarschule noch zu schaffen macht. Diverse Studien zeigen, dass
Kinder, die spät Deutsch lernen, selbst in der Oberstufe schulisch mehr Mühe
haben als Muttersprachler. Gemäss dem Bildungsbericht 2018 erreichen 94 Prozent
der Jugendlichen mit Schweizer Pass einen beruflichen oder allgemeinbildenden
Abschluss. Bei Ausländern, die in der Schweiz geboren sind, sind es 87 Prozent,
bei denjenigen, die später eingewandert sind, nur 76 Prozent. Dabei spielen
zwar auch andere Faktoren eine Rolle, trotzdem wird die frühe Sprachförderung
als Schlüssel zu mehr Chancengleichheit gesehen.
Kantone lehnen eine einheitliche
Lösung ab
Im Asylbereich hat der Bund kürzlich die Integrationsbeiträge erhöht und
verlangt im Gegenzug, dass die Kantone frühe Sprachförderung anbieten. Davon
profitieren aber längst nicht alle Kinder, die schlecht Deutsch sprechen. In
der Schweiz ist die Bildung Sache der Kantone. Und die lehnen es ab, dass der
Bund die Sprachförderung zentral regelt. Die Zürcher Regierungsrätin Silvia
Steiner sagt, es sei unbestritten, dass die ersten Jahre für den Spracherwerb
wichtig seien. Gleichzeitig erklärt die Präsidentin der kantonalen
Erziehungsdirektorenkonferenz aber auch:«Eine schweizweite Top-down-Einführung
von obligatorischen Sprachförderkursen wäre weder zielführend, noch würde das
den Zuständigkeiten entsprechen.»
In der Stadt Basel mag ein obligatorischer Sprachkurs für alle
funktionieren. In einem grossen Kanton wie Zürich mit rund 170 Schulgemeinden
sei der administrative Aufwand jedoch immens, sagt Steiner. Der Zürcher
Kantonsrat hat denn auch Anfang Jahr einen Vorstoss zur obligatorischen
Frühförderung abgelehnt. Stattdessen werden freiwillige Angebote gefördert.
In der Stadt Zürich kontaktiert die Schulbehörde ab 2020 alle Familien
mit Kindern, die weder deutsch sprechen noch familienergänzende Betreuung
nutzen. So sollen sie mit dem Angebot der frühen Förderung vertraut gemacht
werden. In mehreren anderen Kantonen wird derweil die Einführung von
Deutschkursen für Kleinkinder geprüft, oder es wurden bereits Pilotversuche
durchgeführt. Doch an vielen Orten fehlt ein entsprechendes Angebot bisher.
Warum die Rolle der Eltern zentral
ist
Auf der Terrasse des Berner Kindergartens toben vier Mädchen ausgelassen
auf einer Turnmatte herum. Als sie sich kurz ausruhen, bleibt eines von ihnen
auffällig still. Es spricht zu Hause nur Albanisch und ist erst seit kurzem im
Kindergarten. Seine Freundin hat dieselbe Muttersprache, plappert jedoch munter
auf Berndeutsch drauflos. Inaebnit erklärt: «Ihr älterer Bruder war auch schon
bei mir im Kindergarten und hatte grosse Schwierigkeiten wegen der Sprache.»
Die Eltern hätten das gemerkt und die anderen Kinder deshalb in die Spielgruppe
geschickt – wovon die jüngste Tochter nun profitiert.
Auch Maja Beutler, die in einem Kindergarten im Zürcher Kreis 4
arbeitet, empfiehlt den Eltern, ihre Kindergartenkinder in einen Hort und die
Jüngeren in die Kita zu schicken. «So kommen sie mit deutschsprechenden
Gleichaltrigen in Kontakt, lernen wichtige Kulturtechniken kennen und erhalten
im Idealfall auch Sprachförderung.»
Die Rolle der Eltern ist zentral. Das heisst aber nicht, dass sie mit
den Kindern nicht mehr in ihrer Muttersprache sprechen sollen. Beutler
ermuntert sie sogar, genau das zu Hause regelmässig zu tun. Denn wer die
Erstsprache gut beherrscht, dem fällt es leichter, eine zweite zu lernen.
Gleichzeitig erklärt sie den Eltern jedoch auch, dass Deutschkenntnisse für den
Schulerfolg ihrer Kinder wichtig sind – und dass es sich lohnen könne, wenn
auch die Erwachsenen einen Sprachkurs besuchen. Je früher die Eltern die Kinder
so beim Deutschlernen unterstützen, desto besser, findet auch Elisabeth
Inaebnit. «In zwei Jahren Kindergarten können sie unmöglich alles aufholen, was
sie in den ersten Lebensjahren verpasst haben.»
* Namen geändert.
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