24. September 2019

Fremdsprachige Kinder im Kindergarten


«Guete Morge Frau Inaebnit.» Amira* begrüsst die Kindergärtnerin in breitem Berndeutsch und schüttelt ihr die Hand. Hört man nur diesen Satz, ist man überzeugt, dass die Fünfjährige perfekt Schweizerdeutsch spricht. Doch das täuscht. Amira verstand kaum ein Wort, als sie vor einem Jahr in den Kindergarten kam. Seither hat sie grosse Fortschritte gemacht, trotzdem wechselt sie manchmal noch mitten im Satz ins Arabische.
"Wiederhole bitte": Wenn im Kindergarten nur eines von vier Kindern fliessend Deutsch spricht, NZZ, 24.9. von Larissa Rhyn


Neben Amira besuchen 18 weitere Kinder den Kindergarten Gäbelbach 1 in Bern Bethlehem. Für 13 von ihnen war Deutsch nicht die Erstsprache. Sie sprechen zu Hause Albanisch, Kroatisch, Tigrinya, Kurdisch, Türkisch, Somali, Portugiesisch, Russisch und Kurdisch. Ein Mädchen, das erst vor wenigen Wochen in den Kindergarten kam, schaut Elisabeth Inaebnit erwartungsvoll an. «Such dir dort hinten ein Papier aus, und wir basteln zusammen eine Schachtel.» Die Kleine legt nur leicht den Kopf schräg, scheint aber nichts verstanden zu haben. Ein älteres Mädchen schnappt ihre Hand, geht mit ihr zum Basteltisch und greift nach einem gelben Blatt. «Dass die Kinder sich gegenseitig Sachen beibringen, hilft enorm», erklärt die Kindergärtnerin.

Inaebnit gibt den meisten Kindern zweimal pro Woche Deutschunterricht. Sie bringt ihnen neue Wörter bei oder zeigt ihnen, wie sie Verse bilden können, damit sie ein Gefühl für die Sprache entwickeln. Doch das Erlernen der Sprache beschränkt sich nicht auf diese sechs Lektionen. Es ist fixer Bestandteil des Kindergarten-Alltags.

Die Kinder sitzen in einem Kreis auf Holzstühlchen, während Inaebnit ein Spiel erklärt. Jedes Kind erhält ein Bild, das es beschreiben soll, während die anderen aus einer Serie von Motiven das passende erraten müssen. «Meitschi und Blueme», murmelt Manuel,* der zu Hause Portugiesisch spricht. Die alltäglichen Wörter kennt er bereits, doch es fällt ihm sichtlich schwer, sie in einen ganzen Satz zu verpacken. Wie gross sein passiver Wortschatz ist, kann Inaebnit nur schwer abschätzen. Wie viel davon, was sie erklärt, versteht er? Einmal streckt Manuel aufgeregt auf, blickt dann aber nur verlegen in die Runde und sagt: «Wiederhole bitte.»

Wo Deutschlernen für Vierjährige obligatorisch ist
Jedes dritte Kind in der Schweiz lernt zu Hause zuerst eine andere Sprache als diejenige, die in der Schule gesprochen wird. In den letzten zwanzig Jahren hat der Anteil der fremdsprachigen Schüler stark zugenommen. Wer nicht in der Kita oder in einer Spielgruppe war, spricht beim Eintritt in den Kindergarten oft nur wenig oder gar kein Deutsch. In Bern gibt es verschiedene Programme zur Frühförderung, in denen die Kinder unter anderem erste Sprachlernversuche machen. Sie sind jedoch freiwillig. Anders in Basel-Stadt, wo Kinder ein Jahr vor dem Kindergarteneintritt einen Sprachkurs besuchen müssen, wenn sie noch nicht gut Deutsch sprechen.

Was in Basel bereits funktioniert, sollte schweizweit angewendet werden, findet der ehemalige Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann. In einem Interview mit der NZZ forderte der liberaldemokratische Nationalrat Anfang Jahr, dass Eltern verpflichtet werden können, ihre drei- oder vierjährigen Kinder in einen Deutschkurs zu schicken. Eymanns Begründung: Wer die Sprache bei Schulbeginn nicht beherrsche, sei noch auf Jahre hinaus benachteiligt und habe später ein höheres Risiko für eine «Karriere in der Arbeitslosenversicherung und in der Sozialhilfe».

Im Parlament hat Eymann letztes Jahr eine Motion zur frühen Sprachförderung lanciert. Er will den Bundesrat beauftragen, zusammen mit den Kantonen zu prüfen, wie die Sprachförderung vor dem Kindergarten in der ganzen Schweiz umgesetzt werden kann. Der Vorstoss wird von Parlamentariern fast aller Parteien unterstützt. Im Nationalrat wurde die Motion bereits angenommen, am Dienstag hat der Ständerat sie oppositionslos an die Regierung überwiesen.

Muttersprachler nicht unterfordern
Im Gäbelbach 1 versucht Inaebnit, viel mit Bildern und Gesten zu arbeiten. Doch bei 19 Kindern kann sie nicht immer jedem einzeln vorzeigen, was sie meint. An den Tagen, an denen Inaebnit Deutschunterricht gibt, kümmert sich ihre Kollegin Marianna Waibel um die anderen Kinder. Waibel sagt: «Es ist wichtig, dass wir die Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, nicht unterfordern.» Deshalb erzähle sie auch mal ein Märchen, auch wenn manche kaum ein Wort davon verstünden.

Beide Kindergärtnerinnen sprechen meist Hochdeutsch. Selbst fremdsprachige Kinder antworten ihnen jedoch auf Berndeutsch – weil sie die Wörter von den anderen gelernt haben. «Ig möcht ou usmale», ruft ein Mädchen, das zu Hause Somali spricht, und setzt sich zu einer Gruppe von Kindern an den Tisch.

«Um, dois, três», zählt Manuel laut vor
Inaebnit stimmt ein Lied ein, bei dem die Kinder lernen, von eins bis drei zu zählen – und das nicht nur auf Deutsch, sondern auch in den Muttersprachen der anderen. Manuel steht auf und zählt auf Portugiesisch laut vor: «um, dois, três». Die anderen kichern und sprechen ihm nach. Dann baut Inaebnit die Zahlen ins Lied ein. Einige singen mit, andere bewegen nur die Lippen oder schauen zu. Währenddessen darf jedes Kind ein Kunststück seiner Wahl vorzeigen.

 «Verständigen können sich viele Fremdsprachige schnell, aber ihr Wortschatz ist klein, und das wird vor allem später in der Schule zum Problem», sagt Inaebnit. Sie ist regelmässig mit Lehrern in Kontakt und bekommt mit, wie vielen Kindern die Unterrichtssprache auch in der Primarschule noch zu schaffen macht. Diverse Studien zeigen, dass Kinder, die spät Deutsch lernen, selbst in der Oberstufe schulisch mehr Mühe haben als Muttersprachler. Gemäss dem Bildungsbericht 2018 erreichen 94 Prozent der Jugendlichen mit Schweizer Pass einen beruflichen oder allgemeinbildenden Abschluss. Bei Ausländern, die in der Schweiz geboren sind, sind es 87 Prozent, bei denjenigen, die später eingewandert sind, nur 76 Prozent. Dabei spielen zwar auch andere Faktoren eine Rolle, trotzdem wird die frühe Sprachförderung als Schlüssel zu mehr Chancengleichheit gesehen.

Kantone lehnen eine einheitliche Lösung ab
Im Asylbereich hat der Bund kürzlich die Integrationsbeiträge erhöht und verlangt im Gegenzug, dass die Kantone frühe Sprachförderung anbieten. Davon profitieren aber längst nicht alle Kinder, die schlecht Deutsch sprechen. In der Schweiz ist die Bildung Sache der Kantone. Und die lehnen es ab, dass der Bund die Sprachförderung zentral regelt. Die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner sagt, es sei unbestritten, dass die ersten Jahre für den Spracherwerb wichtig seien. Gleichzeitig erklärt die Präsidentin der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz aber auch:«Eine schweizweite Top-down-Einführung von obligatorischen Sprachförderkursen wäre weder zielführend, noch würde das den Zuständigkeiten entsprechen.»

In der Stadt Basel mag ein obligatorischer Sprachkurs für alle funktionieren. In einem grossen Kanton wie Zürich mit rund 170 Schulgemeinden sei der administrative Aufwand jedoch immens, sagt Steiner. Der Zürcher Kantonsrat hat denn auch Anfang Jahr einen Vorstoss zur obligatorischen Frühförderung abgelehnt. Stattdessen werden freiwillige Angebote gefördert.

In der Stadt Zürich kontaktiert die Schulbehörde ab 2020 alle Familien mit Kindern, die weder deutsch sprechen noch familienergänzende Betreuung nutzen. So sollen sie mit dem Angebot der frühen Förderung vertraut gemacht werden. In mehreren anderen Kantonen wird derweil die Einführung von Deutschkursen für Kleinkinder geprüft, oder es wurden bereits Pilotversuche durchgeführt. Doch an vielen Orten fehlt ein entsprechendes Angebot bisher.

Warum die Rolle der Eltern zentral ist
Auf der Terrasse des Berner Kindergartens toben vier Mädchen ausgelassen auf einer Turnmatte herum. Als sie sich kurz ausruhen, bleibt eines von ihnen auffällig still. Es spricht zu Hause nur Albanisch und ist erst seit kurzem im Kindergarten. Seine Freundin hat dieselbe Muttersprache, plappert jedoch munter auf Berndeutsch drauflos. Inaebnit erklärt: «Ihr älterer Bruder war auch schon bei mir im Kindergarten und hatte grosse Schwierigkeiten wegen der Sprache.» Die Eltern hätten das gemerkt und die anderen Kinder deshalb in die Spielgruppe geschickt – wovon die jüngste Tochter nun profitiert.
Auch Maja Beutler, die in einem Kindergarten im Zürcher Kreis 4 arbeitet, empfiehlt den Eltern, ihre Kindergartenkinder in einen Hort und die Jüngeren in die Kita zu schicken. «So kommen sie mit deutschsprechenden Gleichaltrigen in Kontakt, lernen wichtige Kulturtechniken kennen und erhalten im Idealfall auch Sprachförderung.»

Die Rolle der Eltern ist zentral. Das heisst aber nicht, dass sie mit den Kindern nicht mehr in ihrer Muttersprache sprechen sollen. Beutler ermuntert sie sogar, genau das zu Hause regelmässig zu tun. Denn wer die Erstsprache gut beherrscht, dem fällt es leichter, eine zweite zu lernen. Gleichzeitig erklärt sie den Eltern jedoch auch, dass Deutschkenntnisse für den Schulerfolg ihrer Kinder wichtig sind – und dass es sich lohnen könne, wenn auch die Erwachsenen einen Sprachkurs besuchen. Je früher die Eltern die Kinder so beim Deutschlernen unterstützen, desto besser, findet auch Elisabeth Inaebnit. «In zwei Jahren Kindergarten können sie unmöglich alles aufholen, was sie in den ersten Lebensjahren verpasst haben.»
* Namen geändert.


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