Unser 5-jähriger Sohn wird es in der Schule schwer haben. Er lebt in
seiner Welt aus Dinosauriern, Römern und Rittern, aus Trias, Mittelalter und
Weltall. Hier hat er für sein Alter extremes Fachwissen angehäuft. Auch
sprachlich ist er weit voraus – er tritt gern in Interaktion und teilt komplexe
Gedanken mit anderen. Stundenlang ist er im Rollenspiel vertieft, in lauten
Dialogen mit sich allein.
Die besten Rezepte gegen Neugier und Kreativität, NZZaS, 1.9. von Katja Rost
In Gegenwart anderer Kinder gibt er Anregungen für das gemeinsame Spiel
und steckt diese mit seiner Begeisterung an. Das ist an sich nichts
Aussergewöhnliches, und es handelt sich durchwegs um Eigenschaften, die später
hilfreich sind: eine hohe intrinsische Motivation, Lernen aus einem Gegenstand
und die Begeisterung anderer.
Trotzdem wird ihm dies in der Schule schaden. Weil er die genannten
Stärken hat, hat er auch viele Schwächen. So zeigt er wenig Begeisterung für
Forderungen wie: «Du solltest malen können» oder «Du solltest vorgegebene
Lernspiele beherrschen». Er hat keine Freude daran und erkennt auch keinen
tieferen Sinn darin.
Die Schule verlangt von den Kindern nun aber einmal, schön zu schreiben,
schön zu malen, schön auswendig zu lernen – kurz: schön die vorgegebenen
Aufgaben zu erfüllen. Das Erkennen komplexer Zusammenhänge, die Anwendung
vorhandenen Wissens auf neue Zusammenhänge, das eigenmotivierte Erlernen neuen
Fachwissens oder die verständliche Wiedergabe komplexer Sachverhalte gehören
oft nicht zum Anforderungskatalog.
In meinem Studium durfte ich Inhalte frei wählen. Ohne Tests und
Anwesenheitskontrollen.
Pech für unseren Sohn. Aber nicht nur. Es ist auch ein generelles
Problem heutiger Bildungssysteme. Weil diese zuerst verlangen, dass man sich
den vorgegebenen Standards unterwirft, verdrängen sie intrinsische Motivation
und Kreativität. Schöpferische Personen werden demotiviert und schaffen oft
nicht den Sprung auf die nächsthöhere Stufe. In der Forschung ist dieser Effekt
als Verdrängungseffekt bekannt.
Die Psychologen Richard M. Ryan und Edward L. Deci zeigen, dass wir
Handlungen entweder aus einem inneren Antrieb heraus ausführen oder aber in
Folge einer Belohnungs- und Bestrafungsorientierung. Die Ausübung externen
Drucks führt zu einer Verdrängung der inneren Freude an einer Tätigkeit
zugunsten der Orientierung an Belohnungen und der Vermeidung von Strafen.
Externer Druck hat Vorteile für diejenigen, die keinen Eigenantrieb
zeigen. Ihre Motivation und Leistungen steigen. Er hat Nachteile für
diejenigen, die bisher ein hohes Ausmass an Freude und verinnerlichten Normen
zeigten. Deren Motivation und Leistungen sinken.
Wie der Ökonom Bruno S. Frey zu Recht moniert, sind Anreizsysteme
heutzutage mehrheitlich extrinsisch ausgestaltet. Man vertraut nicht auf den
Eigenantrieb der Schüler, der Studierenden und der Mitarbeitenden. Stattdessen
wird richtiges Verhalten mit Belohnungen gefördert, etwa mit guten Noten, mit
Kreditpunkten, Bonuszahlungen oder Preisen. Falsches Verhalten dagegen wird
bestraft – beispielsweise in Form von verweigerter Versetzung oder Beförderung.
Das ist fatal. Die Chemikerin und Psychologin Teresa Amabile zeigt in
ihrer langjährigen Forschung, dass neuartige Ideen autonomes Denken erfordern.
Personen brechen mit hergebrachten Normen, weil sie Inhalte miteinander
kombinieren, die bisher als voneinander losgelöst betrachtet wurden. Dafür
braucht es ein hohes Mass intrinsischer Motivation.
Wenn in Bildungssystemen aber nur jene vorankommen, die innerhalb der
vorgegebenen Belohnungs- und Bestrafungszonen richtig agieren, fehlt das Denken
abseits der Standards. Dies verhindert nicht nur Innovationen, sondern
gefährdet auch Normen wie Hilfsbereitschaft oder Gemeinschaftssinn.
Es ist höchst fragwürdig, ob Bildungssysteme sogenannt richtiges
Verhalten kontinuierlich erzwingen sollten. Innerer Antrieb und selbständiges
Denken sind mindestens genauso stark zu bewerten wie die unreflektierte
Wiedergabe von Stoff. Anstatt noch mehr in Tests und in Hürden zu investieren
und all jene als Sonderfall zu behandeln, die nicht der Norm entsprechen,
sollte Bildung Lernende wieder lernen lassen. Die meisten haben nämlich Freude
daran.
In meinem Studium durfte ich Inhalte frei wählen. Ohne Tests und
Anwesenheitskontrollen. Am Ende fanden Prüfungen zum vernetzten Wissen statt.
Sicher hat dieses System auch Nachteile. Aber Kinder und Jugendliche werden aus
dem sich immer schneller drehenden Hamsterrad permanenten Leistungsdrucks
befreit. Dieser Druck ist kontraproduktiv. Er fördert weder Eigenantrieb noch
autonomes Denken.
Katja
Rost ist
Soziologieprofessorin an der Universität Zürich.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen