9. August 2019

Mehrsprachigkeit ist keine Frage der Intelligenz


Der Linguist Jürgen Meisel erklärt, wie Kinder mehrere Muttersprachen erwerben, wann es dafür zu spät ist und warum die Einstellung der Eltern zum Wohnsitzland entscheidend ist.
"Mehrsprachigkeit ist keine Frage der Intelligenz", Basler Zeitung, 8.8. von Astrid Viciano

Stellen Mütter und Väter heute andere Fragen als früher?

Vor 20 Jahren erhielt ich meist Anfragen von deutschsprachigen Müttern oder Vätern mit einem ausländischen Partner, die wollten, dass ihr Kind bilingual aufwächst. Heute geht es meist um drei oder mehr Sprachen, die der Nachwuchs von Geburt an lernen soll. Vorgestern erst erhielt ich eine E-Mail von einer Griechin, die mit einem Mazedonier verheiratet ist und hierzulande lebt. Sie fragte mich, ob ihr Kind dreisprachig aufwachsen kann.

Ist das eine Überforderung?
Wir wissen heute, dass Menschen in der Lage sind, mehrere Sprachen auf dem Niveau eines Muttersprachlers zu lernen. Wichtig ist, dass das richtige Umfeld dafür geschaffen wird. Ideal ist es, wenn jeder Elternteil nur in der eigenen Muttersprache mit dem Kind spricht. In der erwähnten Familie würde die Mutter also Griechisch sprechen, der Mann Mazedonisch. Eine Person, eine Sprache. Das ist nicht immer zwingend nötig, aber hat sich als einfache, klare Regel bewährt. Entscheidend ist aber auch, dass die Kinder die Sprachen möglichst früh erwerben.

Wann sollten sie beginnen?
Wann sich die Zeitfenster der Sprachentwicklung schliessen, ist noch immer ein Streitpunkt unter Linguisten und Neurowissenschaftlern. Einig ist man immerhin, dass Kinder den Sprachen am besten von Geburt an ausgesetzt sein sollen. Zwischen null und drei Jahren lernen die Kleinen wesentliche Teile der Grammatik. Aus Fallberichten über sogenannte Wolfskinder, die in den ersten Lebensjahren keinerlei Sprache lernen konnten, wissen wir, dass diese später nicht mehr in der Lage waren, sich eine Sprache richtig anzueignen.

Sprache besteht nicht nur aus Grammatik. Wie sieht es etwa mit dem Wortschatz aus?
Wir beobachten immer wieder, dass Eltern dem Wortschatz ihrer mehrsprachigen Kinder eine grosse Bedeutung beimessen. Sie machen sich Sorgen, wenn der Nachwuchs nach Wörtern sucht. Aber Vokabeln können wir alle lernen, auch wenn wir 80 Jahre alt sind. Die Grammatik einer Sprache aber lernen wir nie mehr so mühelos und beiläufig wie in den ersten Lebensjahren.

Sollten Eltern nach den ersten Lebensjahren besser keine zweisprachige Erziehung mehr anstreben?
Wenn ein Kind erst im Alter von drei oder vier Jahren eine neue Sprache lernt, kann es diese immer noch perfekt beherrschen. Nur mit speziellen Tests würden wir Unterschiede zu hundertprozentigen Muttersprachlern finden. Wenn der Spracherwerb allerdings erst im Alter von sechs
Jahren beginnt, werden meist deutliche Unterschiede sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass Kinder von Migranten, die zu Hause kein Deutsch hören, in einen deutschsprachigen Kindergarten gehen. Beginnen sie erst mit der Einschulung Deutsch zu lernen, werden sie den Rückstand nur sehr schwer aufholen.

Auch Migrantenkinder, die in den Kindergarten gehen, haben in der Grundschule oft sprachliche Defizite.
Viele Gründe sind denkbar. Vielleicht gab es im Kindergarten Spielgefährten aus dem Heimatland, mit denen das Kind kein Deutsch sprechen musste. Oder es wurde im Kindergarten nicht viel geredet, die Sprachentwicklung nicht gefördert. Doch müssen wir aufpassen, wovon wir sprechen. In vielen Fällen liegt der Grund nicht in der Mehrsprachigkeit, sondern in der sozialen Benachteiligung. Oft gibt es bildungsferne Familien, in denen das Wissen wie auch die finanziellen Mittel nicht vorhanden sind, den Nachwuchs gezielt zu fördern.

Ist es eine Frage der Intelligenz, wie gut Kinder Sprache lernen?
Nach der Geburt sind alle Menschen sprachbegabt, das ist keine Frage der Intelligenz. Doch finden sich tatsächlich grosse Unterschiede bei den Fertigkeiten des Sprachgebrauchs. Ein Kind spricht mit starkem Akzent und macht Fehler in der Grammatik, das andere spricht flüssig und korrekt. Selbst unter Geschwistern gibt es Unterschiede. Oft sprechen die Ältesten die Sprache, die nur in der Familie gesprochen wird, am besten. Bei ihnen achten Eltern besonders auf die Entwicklung der Mehrsprachigkeit. Auch reden jüngere Geschwister mit den älteren meist in der Umgebungssprache, was den Erwerb der zweiten Sprache natürlich nicht beschleunigt.

Wieviel Zeit muss ein Kind einer Sprache ausgesetzt sein, bis es muttersprachliche Kompetenzen erwirbt?
Das wissen wir nicht genau, hier wäre dringend mehr Forschung nötig. Über den Daumen gepeilt, sagen wir Sprachwissenschaftler, dass nicht weniger als 30 Prozent der Zeit in einer Sprache interagiert werden sollte, um muttersprachliches Niveau zu erreichen. Manchen Kindern genügen aber auch 20 Prozent. Wenn der Nachwuchs vier oder mehr Sprachen lernen soll, dann hilft es, Prioritäten zu setzen. Welche Sprache ist für das Kind besonders wichtig? Entsprechend sollten die Eltern dann die Sprachverteilung in der Familie und ausserhalb organisieren.

Manche Kinder weigern sich, eine der Sprachen aktiv zu verwenden. Das beobachtet man vor allem im Alter zwischen zwei und drei Jahren und kommt bei ungefähr einem von drei Kindern vor, ist also ein häufiges Phänomen. Das sollte Eltern jedoch nicht entmutigen. Wie wir vor einigen Jahren an deutsch-französischen Kindern beobachten konnten, entwickeln die Kleinen ihre Sprachkompetenz trotzdem weiter. Ein Junge unserer Studie, der ein Jahr lang keinerlei Französisch gesprochen hatte, konnte sich bei einem Besuch in Frankreich trotzdem sehr gut verständigen. Er war in seiner Sprachentwicklung keineswegs stehen geblieben, auch wenn sie etwas langsamer verlaufen war als bei Kindern, die auf die Sprache ständig Zeitverwendet hatten.

Wie können Eltern ihre Kinder dazu bringen, eine Sprache wieder aktiv zu gebrauchen?
Sie sollten die Kinder auf keinen Fall unter Druck setzen, das würde nur noch mehr Widerstanderzeugen. Stattdessen können sie versuchen, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Verwendung der Sprache ganz natürlich ist – mit anderen Familien, die die gleiche Sprache sprechen, zum Beispiel. Natürlich hilft es auch, in das Land zu fahren, in dem die Sprache als Hauptsprache gesprochen wird. Ich kannte einen deutsch-französischen Jungen, der im Urlaub in Frankreich überrascht feststellte, dass auch andere Kinder Französisch sprechen. Er hatte Französisch bis dahin für eine Sprache der Erwachsenen gehalten.

Was dürfen Eltern von mehrsprachigen Kindern erwarten?
Hier kommt es darauf an, was sich Mutter und Vater wünschen. Soll das Kind nur mit dem Opa reden können, wenn es in den Sommerferien zu Besuch ist? Dann reicht es, wenn es sich grob verständigen kann. In jedem Fall rate ich Eltern dazu, sich zu entspannen und die Sprachentwicklung aufmerksam, jedoch ohne Druck zu begleiten. Für mich ist ein Kind auch dann zweisprachig, wenn es alles versteht, aber die Sprache nicht aktivverwendet. Auch dann ist es Mitschülern, die sich das Gleiche im Schulunterricht mühsam aneignen müssen, um Längen voraus.

Was kann Sprachentwicklung hemmen?
Wie ein Kind eine Sprache annimmt, hat viel mit den Werten zu tun, die ihm vermittelt werden. Schimpft die Mutter stets darüber, wie wenig es ihr hier gefällt, wird der Nachwuchs wahrscheinlich wenig Interesse am Deutschlernen haben. Was manche Eltern vergessen: Bei der Mehrsprachigkeit geht es nicht so sehr um die sprachliche Perfektion. Familien können ihrem Nachwuchs die Chance geben, in mehreren Kulturen gleichzeitig aufzuwachsen und später im Idealfall zwischen ihnen Brücken zu bauen.

1 Kommentar:

  1. Jürgen Meisel weist darauf hin, dass Mehrsprachigkeit sehr jung erlernt werden muss. Daraus haben unsere Bildungspolitiker gefolgert, dies müsse auch in der Schule so sein. In der Zwischenzeit liegen die Resultate ja vor.

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