16. August 2019

Bald auch noch Romanisch an Deutschschweizer Schulen?


Die vierte Landessprache zeigt sich derzeit so lebendig wie kaum je zuvor. 19 Tage lang zelebriert die Lia Rumantscha, die Dachorganisation der romanischen Sprach- und Kulturvereine, ihr 100-jähriges Bestehen. Schauplatz ist das Dorfzentrum von Zuoz im Engadin. Aufgeführt wird ein Festspiel, das wegen der grossen Nachfrage Zusatzvorstellungen ansetzen musste. Ergänzend gibt es eine bunte Palette gutbesuchter Konzerte und Veranstaltungen zu Sprache, Kultur, Bildung, Literatur. Die Stimmung ist gelöst, die Lia Rumantscha macht keineswegs den Eindruck einer kranken 100-Jährigen. Dennoch steht die Frage im Raum: Wie lange gibt es das Rätoromanische noch?
Auch Bundesrat Cassis war am Jubiläum der Lia Rumantscha dabei, Bild: Lia Rumantscha

Rätoromanisch soll an Deutschschweizer Schulen gelehrt werden, NZZ, 16.8. von Jörg Krummenacher

Umstrittenes Rumantsch Grischun

 «Wir feiern, dass es überhaupt noch etwas zu feiern gibt», sagt Johannes Flury, der die Lia Rumantscha seit 2016 präsidiert. Vor 100 Jahren sei das Romanische eine Sprachbewegung der Lehrer und Pfarrer gewesen, stark verankert im bäuerlichen Leben der Gebirgstäler. Seit 1938 ist es vierte Landessprache, seit 1995 unterstützt der Bund Massnahmen zu seiner Förderung (wie auch zu jener des Italienischen) in Graubünden und im Tessin. Längst hat das Rätoromanische «den Wandel von der alpinen zur Landessprache geschafft», wie Flury sagt.

Zu den fünf Idiomen Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader kam in den letzten Jahrzehnten die als gemeinsames Dach gedachte Schrift- und Amtssprache Rumantsch Grischun. In den Schulen war und blieb ihre Einführung allerdings umstritten und führte zu einer veritablen institutionellen Krise, die der Lia Rumantscha bis vor wenigen Jahren zusetzte. «Wir machten den Fehler, ein sprachpolitisches Anliegen über die Schule verwirklichen zu wollen», kommentiert Flury. «So etwas geht meistens schief.» Nur noch wenige Gemeinden nutzen heute die Schriftsprache als Schulsprache; in Surses, Albula und Lenz zielen Initiativen derzeit auf ihre Abschaffung.

Flury empfindet das Rätoromanische dennoch als lebendiger als vor 50 Jahren. Insbesondere die Jugend spreche ihr jeweiliges Idiom heute mit grossem Selbstbewusstsein, junge Künstler und Songwriter setzten es in ihren Texten ein. So hat sich das Open Air im Val Lumnezia jeweils Ende Juli zum Treffen der rätoromanischen Jugend und Sprache entwickelt.

Zürich als rätoromanisches Zentrum
Sorgen bereiten hingegen die wirtschaftlichen Perspektiven der Bergtäler. Die Abwanderung geht zulasten des Rätoromanischen. Rund 40 Prozent der Romanischsprechenden leben bereits ausserhalb des Bündner Kerngebiets. Genaue Zahlen lassen sich heute mangels Volkszählung nicht mehr eruieren, doch geht man davon aus, dass weiterhin etwa 35 000 Romanischsprechende in Graubünden und rund 25 000 in anderen Kantonen wohnen. Die bis ins Jahr 2000 durchgeführte Volkszählung fragte jeweils nach Personen mit Hauptsprache Rätoromanisch und dokumentierte landesweit einen markanten Rückgang: von 50 000 im Jahr 1970 auf 35 000 im Jahr 2000. Allerdings blieb offen, welche ihrer beiden Schulsprachen (Rätoromanisch und Deutsch) die Befragten jeweils angaben.
Die grösste rätoromanische Exilgemeinde findet sich in Zürich. Die Stadt führt in ihrer Statistik für 2017 rund 1330 Rätoromanen auf. Hier unterhält die rätoromanische Diaspora einen eigenen Vereineinen gemischten Chor und seit 2016 auch eine romanischsprachige Kinderkrippe.

Graubünden entwachsen
Mit Blick auf den hohen Anteil der Exil-Rätoromanen fordert die Lia Rumantscha vom Bund die Anerkennung der ganzen Schweiz als Territorium für die rätoromanischen Sprache. Johannes Flury bezeichnet den Grundsatz, nur Graubünden als Fördergebiet anzuerkennen, als überholt: «Wir brauchen einen neuen Ansatz auf Bundesebene, um alle Rätoromanen unterstützen zu können.»

In diese Richtung zielt auch eine Studie, die das Zentrum für Demokratie Aarau im Auftrag des Bundesamts für Kultur erstellt hat. Das Rätoromanische sei dem Kanton Graubünden «zu einem beträchtlichen Teil entwachsen», weshalb sich eine direkte Förderung durch den Bund aufdränge. Gefordert werden zweisprachige Schulen in Deutsch und Rätoromanisch auch ausserhalb Graubündens.

Die Studie entstand im Gefolge eines Postulats der Bündner Nationalrätin Silva Semadeni, das der Nationalrat vor zwei Jahren guthiess. Ihre Erkenntnisse werden zuhanden der nächsten Förderperiode ausgewertet, die von 2021 bis 2024 dauert. Bundesrat Ignazio Cassis, der die 100-Jahr-Feier der Lia Rumantscha eröffnete, hat bereits für 2020 erste Angebote angekündigt: Mit Unterstützung des Bundes sollen rätoromanische Sprachkurse für Kinder und Jugendliche in der Diaspora durchgeführt werden.

In der Existenz bedroht
Die Aarauer Studie sieht die rätoromanische Sprache ohne wirksame Fördermassnahmen «existenziell bedroht». Die Gefahr sei real, «dass insbesondere die Romanischkenntnisse weiter sinken, weniger Romanischlehrerinnen und -lehrer ausgebildet werden und das Romanische langsam, aber sicher ausstirbt». Um dies zu verhindern, müsse nicht nur das Lobbying auf Bundesebene intensiviert werden, sondern müsse auch der Kanton Graubünden sein Engagement verstärken. Die Kernaufgabe bestehe darin, «eine kongruente übergreifende Sprachenstrategie zu entwickeln». Zentral sei dabei der konzentrierte Einsatz der finanziellen Mittel im Bildungssektor. Die Studienverfasser fordern die Bündner Regierung unter anderem auf, Privatschulen zum Angebot einer zweisprachigen Maturität zu verpflichten. Zudem «muss die Finanzierung eines einschlägigen Lehrstuhls an einer Schweizer Universität gesichert sein». Derzeit besteht an der Universität Zürich eine 75-Prozent-Professur für rätoromanische Literatur und Kultur und in Freiburg i. Ü. eine Vollzeitprofessur im Departement für Mehrsprachigkeitsforschung und Fremdsprachendidaktik. Ein Master-Abschluss in Rätoromanisch ist allerdings nur in Zürich möglich.

Nach jahrelangem Hin und Her ist zumindest für die Zukunft der Medien in rätoromanischer Sprache gesorgt. 2017 hatte die Somedia AG von Verleger Hanspeter Lebrument mitgeteilt, dass sie sich aus der Finanzierung der einzigen romanischen Tageszeitung «La Quotidiana» zurückziehe, die für die Sprachgemeinschaft von grundlegender Bedeutung ist. Bund, Kanton und Lia Rumantscha liessen daraufhin ein Konzept für deren Weiterführung unter Einbezug einer neu zu konzipierenden romanischen Nachrichtenagentur ausarbeiten. Diese heisst Fundaziun Medias Rumantschas, nimmt Anfang 2020 den Betrieb auf und hat soeben mit David Truttmann ihren ersten Chefredaktor gewählt. Das Konzept sieht vor, dass die SRG-Tochter RTR (Radiotelevisiun Svizra Rumantscha) und die privaten Medienträger gemeinsam ein tägliches Medienangebot für Print wie digital zur Verfügung stellen. Damit ist die Zukunft der «Quotidiana» wie auch die Belieferung der anderen romanischen Zeitungen «Posta Ladina» und «La Pagina da Surmeir» gesichert. Möglich wurde die von Flury als «einzigartiges Pilotprojekt» gelobte Lösung dank zusätzlichen Beiträgen von Bund und Kanton, wobei das Bündner Kantonsparlament erst noch darüber befinden muss.

Alle Kantone beteiligt
Diesen Samstag enden die Festivitäten zum 100. Geburtstag der Lia Rumantscha mit einem Volksfest. Das Budget für den gesamten Anlass liegt bei rund einer Million Franken. Wie sich auch hier zeigt, ist die nationale Solidarität mit den Romanen gross, haben sich doch nicht nur der Bund, der Kanton Graubünden und Bündner Gemeinden mit einem finanziellen Zustupf beteiligt, sondern auch sämtliche anderen 25 Kantone. Den höchsten Beitrag steuerte das Tessin bei. Der Lia-Präsident Flury ist überzeugt, dass sich die Solidarität mit den Sprachminderheiten für die ganze Schweiz auszahlt: «Die sprachliche Vielfalt garantiert den Sprachenfrieden im Land. Schliesslich beruht die Idee der Schweiz auf der Idee mehrerer Sprachen und Kulturen.»


1 Kommentar:

  1. Es gibt viele Gründe für den Niedergang des Romanischen. Umstritten ist auch, ob es etwas bringt, wenn der Bund hier Geld hineinbuttert. Kann eine Sprache mit Geld gerettet werden? Beispiele bitte!
    Dabei hätten die Romanen selbst die Möglichkeit gehabt, wenigstens in der Schule die Sprache zu stärken. Aber sie sind genau den im Bericht gefeierten Funktionären der Lia Rumantscha auf den Leim gekrochen. Konkret unterstützen die Romanen ein Sprachenkonzept, das für die romanischen Primarschüler folgendes vorsieht: Diese wachsen auf im Idiom, das dann in den meisten Gemeinden auch in den unteren Klassen der Primarschule verwendet wird. Mit der Zeit lesen die Kinder dann aber auch Texte in Rumantsch Grischun. Ab der 3. Primar kommt Deutsch dazu. Neben dem Hochdeutsch lernen die Kinder aber auch noch die Mundart des Deutschen. Schliesslich beginnt für die Kinder dann auch noch ab der 5. Primar der Englischunterricht. Das bedeutet, dass die romanische Schuljugend (unberücksichtigt dabei sind die vielen fremdsprachigen Kinder in den Tourismusorten) bereits in der Primarschule mit 5 verschiedenen Sprachen (oder Sprachvarianten) in Berührung kommen. Es liegt auf der Hand, welche Sprache bei einer derart grotesken Politik auf der Stecke bleibt ...

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