Die vierte Landessprache zeigt sich derzeit so lebendig wie kaum je
zuvor. 19 Tage lang zelebriert die Lia Rumantscha, die Dachorganisation der
romanischen Sprach- und Kulturvereine, ihr 100-jähriges Bestehen. Schauplatz ist das
Dorfzentrum von Zuoz im Engadin. Aufgeführt wird ein Festspiel, das wegen der
grossen Nachfrage Zusatzvorstellungen ansetzen musste. Ergänzend gibt es eine
bunte Palette gutbesuchter Konzerte und Veranstaltungen zu Sprache, Kultur,
Bildung, Literatur. Die Stimmung ist gelöst, die Lia Rumantscha macht
keineswegs den Eindruck einer kranken 100-Jährigen. Dennoch steht die Frage im
Raum: Wie lange gibt es das Rätoromanische noch?
Auch Bundesrat Cassis war am Jubiläum der Lia Rumantscha dabei, Bild: Lia Rumantscha
Rätoromanisch soll an Deutschschweizer Schulen gelehrt werden, NZZ, 16.8. von Jörg Krummenacher
Umstrittenes Rumantsch Grischun
«Wir feiern, dass es überhaupt
noch etwas zu feiern gibt», sagt Johannes Flury, der die Lia Rumantscha seit
2016 präsidiert. Vor 100 Jahren sei das Romanische eine Sprachbewegung der
Lehrer und Pfarrer gewesen, stark verankert im bäuerlichen Leben der
Gebirgstäler. Seit 1938 ist es vierte Landessprache, seit 1995 unterstützt der
Bund Massnahmen zu seiner Förderung (wie auch zu jener des Italienischen) in
Graubünden und im Tessin. Längst hat das Rätoromanische «den Wandel von der
alpinen zur Landessprache geschafft», wie Flury sagt.
Zu den fünf Idiomen Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader
kam in den letzten Jahrzehnten die als gemeinsames Dach gedachte Schrift- und
Amtssprache Rumantsch Grischun. In den Schulen war und blieb ihre Einführung
allerdings umstritten und führte zu einer veritablen institutionellen Krise,
die der Lia Rumantscha bis vor wenigen Jahren zusetzte. «Wir machten den
Fehler, ein sprachpolitisches Anliegen über die Schule verwirklichen zu
wollen», kommentiert Flury. «So etwas geht meistens schief.» Nur noch wenige
Gemeinden nutzen heute die Schriftsprache als Schulsprache; in Surses, Albula
und Lenz zielen Initiativen derzeit auf ihre Abschaffung.
Flury empfindet das Rätoromanische dennoch als lebendiger als vor 50
Jahren. Insbesondere die Jugend spreche ihr jeweiliges Idiom heute mit grossem
Selbstbewusstsein, junge Künstler und Songwriter setzten es in ihren Texten
ein. So hat sich das Open Air im Val Lumnezia jeweils Ende Juli zum Treffen der
rätoromanischen Jugend und Sprache entwickelt.
Zürich als rätoromanisches Zentrum
Sorgen bereiten hingegen die wirtschaftlichen Perspektiven der
Bergtäler. Die Abwanderung geht zulasten des Rätoromanischen. Rund
40 Prozent der Romanischsprechenden leben bereits ausserhalb des Bündner
Kerngebiets. Genaue Zahlen lassen sich heute mangels Volkszählung nicht mehr
eruieren, doch geht man davon aus, dass weiterhin etwa 35 000
Romanischsprechende in Graubünden und rund 25 000 in anderen Kantonen
wohnen. Die bis ins Jahr 2000 durchgeführte Volkszählung fragte jeweils nach
Personen mit Hauptsprache Rätoromanisch und dokumentierte landesweit einen
markanten Rückgang: von 50 000 im Jahr 1970 auf 35 000 im Jahr 2000.
Allerdings blieb offen, welche ihrer beiden Schulsprachen (Rätoromanisch und
Deutsch) die Befragten jeweils angaben.
Die grösste rätoromanische Exilgemeinde findet sich in Zürich. Die Stadt
führt in ihrer Statistik für 2017 rund 1330 Rätoromanen auf. Hier unterhält die
rätoromanische Diaspora einen eigenen Verein, einen
gemischten Chor und seit 2016 auch eine romanischsprachige Kinderkrippe.
Graubünden entwachsen
Mit Blick auf den hohen Anteil der Exil-Rätoromanen fordert die Lia
Rumantscha vom Bund die Anerkennung der ganzen Schweiz als Territorium für die
rätoromanischen Sprache. Johannes Flury bezeichnet den Grundsatz, nur Graubünden
als Fördergebiet anzuerkennen, als überholt: «Wir brauchen einen neuen Ansatz
auf Bundesebene, um alle Rätoromanen unterstützen zu können.»
In diese Richtung zielt auch eine Studie, die
das Zentrum für Demokratie Aarau im Auftrag des Bundesamts für Kultur erstellt
hat. Das Rätoromanische sei dem Kanton Graubünden «zu einem beträchtlichen Teil
entwachsen», weshalb sich eine direkte Förderung durch den Bund aufdränge.
Gefordert werden zweisprachige Schulen in Deutsch und Rätoromanisch auch
ausserhalb Graubündens.
Die Studie entstand im Gefolge eines Postulats der Bündner Nationalrätin Silva Semadeni,
das der Nationalrat vor zwei Jahren guthiess. Ihre Erkenntnisse werden zuhanden
der nächsten Förderperiode ausgewertet, die von 2021 bis 2024 dauert. Bundesrat
Ignazio Cassis, der die 100-Jahr-Feier der Lia Rumantscha eröffnete, hat
bereits für 2020 erste Angebote angekündigt: Mit Unterstützung des Bundes
sollen rätoromanische Sprachkurse für Kinder und Jugendliche in der Diaspora
durchgeführt werden.
In der Existenz bedroht
Die Aarauer Studie sieht die rätoromanische Sprache ohne wirksame
Fördermassnahmen «existenziell bedroht». Die Gefahr sei real, «dass
insbesondere die Romanischkenntnisse weiter sinken, weniger Romanischlehrerinnen
und -lehrer ausgebildet werden und das Romanische langsam, aber sicher
ausstirbt». Um dies zu verhindern, müsse nicht nur das Lobbying auf Bundesebene
intensiviert werden, sondern müsse auch der Kanton Graubünden sein Engagement
verstärken. Die Kernaufgabe bestehe darin, «eine kongruente übergreifende
Sprachenstrategie zu entwickeln». Zentral sei dabei der konzentrierte Einsatz
der finanziellen Mittel im Bildungssektor. Die Studienverfasser fordern die
Bündner Regierung unter anderem auf, Privatschulen zum Angebot einer
zweisprachigen Maturität zu verpflichten. Zudem «muss die Finanzierung eines
einschlägigen Lehrstuhls an einer Schweizer Universität gesichert sein».
Derzeit besteht an der Universität Zürich eine 75-Prozent-Professur für rätoromanische
Literatur und Kultur und in Freiburg i. Ü. eine Vollzeitprofessur im
Departement für Mehrsprachigkeitsforschung und Fremdsprachendidaktik. Ein
Master-Abschluss in Rätoromanisch ist allerdings nur in Zürich möglich.
Nach jahrelangem Hin und Her ist zumindest für die Zukunft der Medien in
rätoromanischer Sprache gesorgt. 2017 hatte die Somedia AG von Verleger
Hanspeter Lebrument mitgeteilt, dass sie sich aus der Finanzierung der einzigen
romanischen Tageszeitung «La Quotidiana» zurückziehe, die für die
Sprachgemeinschaft von grundlegender Bedeutung ist. Bund, Kanton und Lia
Rumantscha liessen daraufhin ein Konzept für deren Weiterführung unter Einbezug
einer neu zu konzipierenden romanischen Nachrichtenagentur ausarbeiten. Diese
heisst Fundaziun Medias Rumantschas, nimmt Anfang 2020 den Betrieb auf und hat
soeben mit David Truttmann ihren ersten Chefredaktor gewählt. Das Konzept sieht
vor, dass die SRG-Tochter RTR (Radiotelevisiun Svizra Rumantscha) und die
privaten Medienträger gemeinsam ein tägliches Medienangebot für Print wie
digital zur Verfügung stellen. Damit ist die Zukunft der «Quotidiana» wie auch
die Belieferung der anderen romanischen Zeitungen «Posta Ladina» und «La Pagina
da Surmeir» gesichert. Möglich wurde die von Flury als «einzigartiges
Pilotprojekt» gelobte Lösung dank zusätzlichen Beiträgen von Bund und Kanton,
wobei das Bündner Kantonsparlament erst noch darüber befinden muss.
Alle Kantone beteiligt
Diesen Samstag enden die Festivitäten zum 100. Geburtstag der Lia
Rumantscha mit einem Volksfest. Das Budget für den gesamten Anlass liegt bei
rund einer Million Franken. Wie sich auch hier zeigt, ist die nationale
Solidarität mit den Romanen gross, haben sich doch nicht nur der Bund, der
Kanton Graubünden und Bündner Gemeinden mit einem finanziellen Zustupf beteiligt,
sondern auch sämtliche anderen 25 Kantone. Den höchsten Beitrag steuerte das
Tessin bei. Der Lia-Präsident Flury ist überzeugt, dass sich die Solidarität
mit den Sprachminderheiten für die ganze Schweiz auszahlt: «Die sprachliche
Vielfalt garantiert den Sprachenfrieden im Land. Schliesslich beruht die Idee
der Schweiz auf der Idee mehrerer Sprachen und Kulturen.»
Es gibt viele Gründe für den Niedergang des Romanischen. Umstritten ist auch, ob es etwas bringt, wenn der Bund hier Geld hineinbuttert. Kann eine Sprache mit Geld gerettet werden? Beispiele bitte!
AntwortenLöschenDabei hätten die Romanen selbst die Möglichkeit gehabt, wenigstens in der Schule die Sprache zu stärken. Aber sie sind genau den im Bericht gefeierten Funktionären der Lia Rumantscha auf den Leim gekrochen. Konkret unterstützen die Romanen ein Sprachenkonzept, das für die romanischen Primarschüler folgendes vorsieht: Diese wachsen auf im Idiom, das dann in den meisten Gemeinden auch in den unteren Klassen der Primarschule verwendet wird. Mit der Zeit lesen die Kinder dann aber auch Texte in Rumantsch Grischun. Ab der 3. Primar kommt Deutsch dazu. Neben dem Hochdeutsch lernen die Kinder aber auch noch die Mundart des Deutschen. Schliesslich beginnt für die Kinder dann auch noch ab der 5. Primar der Englischunterricht. Das bedeutet, dass die romanische Schuljugend (unberücksichtigt dabei sind die vielen fremdsprachigen Kinder in den Tourismusorten) bereits in der Primarschule mit 5 verschiedenen Sprachen (oder Sprachvarianten) in Berührung kommen. Es liegt auf der Hand, welche Sprache bei einer derart grotesken Politik auf der Stecke bleibt ...