24. Juli 2019

Zemp fordert längere Ausbildung für Primarlehrer


Oberster Lehrer der Schweiz: Dieses Prädikat hat Beat W. Zemp, Gymnasiallehrer für Mathematik und Geografie, 29 Jahre lang getragen. Ende Juli tritt der 64-Jährige als Zentralpräsident des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) ab. Er stand einem Verband vor, der seine Mitgliederzahl von 22 000 auf heute 56 000 steigern konnte. Abgesehen von den universitären Hochschuldozenten und -dozentinnen vertritt der LCH alle Lehrkräfte des Landes.
"Wer einen Beruf will, der nicht langweilt, muss Lehrer werden", NZZ, 24.7. von Jörg Krummenacher


Beat Zemp wird noch in einzelnen Fachgremien aktiv bleiben: etwa als Präsident der Ebenrain-Konferenz, der grössten Arbeitnehmerkonferenz der Schweiz, oder als Vizepräsident der Stiftung «éducation 21», die sich um Bildung für nachhaltige Entwicklung kümmert. Als Abschlussbukett ist Zemp diese Woche nach Thailand gereist, wo er die Schweizer Delegation am Weltkongress der Bildungsinternationale leitet.

Beat Zemp, ist die Schule in der Schweiz heute besser als 1990, als Sie Ihr Amt angetreten haben?
Sie hat eine enorme Entwicklung durchgemacht. Als ich begann, gab es keine obligatorischen Kindergärten, keine Berufsmatur, keine Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen. Es gab nur den gymnasialen Bildungsweg oder die Berufslehre. Diese waren praktisch nicht verbunden wegen der frühen Selektion. Heute ist das anders: Wir haben mehrere Passerellen. Heute können Sie eine Maurerlehre machen und zum Schluss Mathematikprofessor werden. Das zeigt, dass unser Bildungssystem viel durchlässiger geworden ist. Ob es besser ist als 1990, ist eine Frage der Messart: Seit 2000 haben wir Pisa-Tests, und die lassen den Schluss zu, dass wir besser geworden sind.

Sind auch die Lehrkräfte besser geworden?
Sie sind sicher besser ausgebildet. Ich glaube, dass die Professionalisierung des Lehrberufs und die Wissenschaftsorientierung dazu beigetragen haben. Diese ging aber nicht zulasten der Praxisausbildung, wie oft behauptet wird. Die frühere seminaristische Ausbildung war eine Ausbildung auf Sekundarstufe II, heute haben wir eine Ausbildung auf Masterniveau. Das gilt allerdings nicht bei den Primarlehrpersonen, und das ärgert mich. Wir sind das einzige Land in Europa, in dem man diese drei Jahre lang ausbildet und dann vor die Klasse stellt. Die Anforderungen an Primarlehrpersonen sind enorm gestiegen, und es würde sich lohnen, bei der Ausbildung zwei Jahre anzuhängen. Ich bin überzeugt, dass das kommen wird, aber es braucht noch ein wenig Zeit.

Wie sehen Sie Ihren Anteil an den Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte?
Mein Anteil als gewählter Repräsentant der Lehrerschaft war, die Positionen zu all den Reformen, zu denen auch Harmos, der Lehrplan 21 und die Regelung bei den Fremdsprachen gehören, gebündelt in der Öffentlichkeit zu vertreten. Zum Beispiel setzte ich mich beim Lehrplan 21 vehement gegen die erste Version ein, die wir als überladen einstuften, und musste dafür Kritik von den Bildungsbehörden einstecken. Dann folgte aber eine zweite, schlankere Version, die wir unterstützen konnten.

Wie sind Sie vorgegangen, um Ihren Einfluss in den diversen Gremien geltend zu machen?
Wissen Sie, das Bildungswesen ist wie eine komplizierte Tinguely-Maschine – mit vielen Zahnrädern und vielen Förderbändern. Man muss wissen, an welchen Rädchen man drehen muss, um Wirkung zu erzielen. Das muss man zuerst lernen. Und man braucht Sitzleder, wenn man etwas erreichen will.

War das der Grund, dass Sie 29 Jahre geblieben sind? Viele Führungspersonen sagen nach einigen Jahren, es sei genug, nun müssten neue Kräfte daran.
Es hat schon damit zu tun, dass Bildungsreformen lange brauchen, bis sie umgesetzt werden. Bis sich etwas wirklich manifestiert in unserem komplexen System mit 26 verschiedenen Bildungssystemen, braucht es Zeit. Die Schweiz wurde Anfang der 1990er Jahre kritisiert, sie schöpfe ihr Potenzial nicht aus, die Maturaquote sei zu tief, es herrsche Kantönligeist. Dann entwickelten wir ein Berufsleitbild und versuchten, dieses gemeinsam mit den Kantonen umzusetzen. 2006 hat das Stimmvolk dann den neuen Bildungsartikel in der Verfassung mit 85 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen. Ziel war die Harmonisierung des Schulwesens.

Die Umsetzung ist mit Harmos inzwischen einigermassen gelungen. Kritiker sprachen indes von Reformitis.
Die Schule ist mit der Gesellschaft eng verzahnt. Wenn sich die Schule nicht mit der Gesellschaft und der Wirtschaft verändern würde, wäre sie schlicht obsolet. Die Schule von 1990 hätte heute keine Rechtfertigung mehr. Es war ja übrigens die FDP (die Liberal-Radikalen), welche die Grundlagen der demokratisch verfassten Schule schuf, indem sie 1874 das obligatorische und unentgeltliche Volksschulwesen in der Verfassung verankerte.

Sie sagen, Sie hätten viel erreicht, anderseits haben die Lehrkräfte in den letzten Jahrzehnten markant an Ansehen verloren, die Anforderungen sind gestiegen. Ist der Lehrerberuf noch attraktiv?
Wenn man einen Beruf ausüben will, der einen nicht langweilt, dann muss man Lehrer werden. Natürlich hat sich die Autorität der Lehrpersonen völlig verändert. Als ich in die Primarschule ging, waren Primarlehrer vor allem Unteroffiziere, die militärischen Drill im Turnunterricht übten und noch körperlich züchtigten. Das hat sich erst mit einem Bundesgerichtsentscheid 1991 geändert, der die Ohrfeige eines Lehrers als Entlassungsgrund wertete. Aber schon mit der 1968er Bewegung wurden nicht nur die Lehrpersonen, sondern alle Autoritäten generell vom Sockel geholt. Heute schauen die Eltern sehr genau hin, was in der Schule mit ihren Kindern geschieht. Die meisten sind aber konstruktiv kritisch. Ich nenne sie «critical friends», da sie Freunde des Volksschulsystems sind.

Es gibt auch jene Eltern, die kein gutes Haar an der öffentlichen Schule lassen.
Da gibt es zwei Gruppen, die Mühe machen. Die einen kümmern sich gar nicht um die Schulkarriere ihrer Kinder. Denen muss man mit Bussenandrohungen den Hintern heiss machen, damit sie ihre Kinder verpflegt in die Schule schicken und Zeugnisse und Absenzen unterschreiben. Dann gibt es die andere Gruppe, die Helikoptereltern, die quasi von oben beobachten und jeden Schritt ihrer Kinder planen. Diese Eltern kommen auch schon einmal mit dem Anwalt ans Elterngespräch. Damit umzugehen, ist vor allem für junge Lehrpersonen schwierig. Das kann dazu führen, dass Lehrkräfte den Beruf wechseln.

Das verschärft wiederum den Lehrermangel zusätzlich. Gemäss dem Bildungsbericht, der vor einem Jahr herausgekommen ist, werden 2025 rund 2000 Lehrkräfte mehr benötigt als 2015.
Wir steuern auf einen historischen Höchststand von über einer Million Schülern in der Volksschule zu. Gleichzeitig müssen wir den Abgang der Babyboomer-Lehrpersonen verkraften, häufig Männer mit Vollpensum, die ersetzt werden müssen durch Teilzeit-Lehrpersonen. Die pädagogischen Hochschulen bilden zurzeit nur etwa die Hälfe des kommenden Bedarfs aus. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sich der Lehrermangel verschärfen wird.

Für die Digitalisierung hat der LCH einen Forderungskatalog aufgestellt. Haben Sie auch ein Konzept, wie der Lehrerberuf wieder attraktiver gemacht werden kann – gerade auch für männliche Lehrkräfte?
Das gibt es schon. Wir konnten immerhin eine Trendwende erreichen, indem wir viele männliche Quereinsteiger geholt haben. Ihre Motivation für den Berufswechsel ist, dass sie es als sinnvoll erachten, Kinder und Jugendliche zu einem bestimmten Ziel zu bringen. Aber ich will es nicht schönreden: Es ist auch ein sehr herausfordernder Beruf, in dem man an seine persönlichen Grenzen kommen kann. Und was die Löhne betrifft, so sind die Einstiegslöhne in den meisten Kantonen zwar gut, aber die Lohnentwicklung hat insgesamt nicht Schritt gehalten mit ähnlich anforderungsreichen Berufen.

Kommt hinzu, dass sich der Beruf weiter wandelt. Wird die Lehrperson künftig vor allem ein Digital-Coach sein?
Ich glaube nicht, dass Lehrpersonen vollständig durch Roboter ersetzt werden können. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Ich bin aber sicher, dass Lehrpersonen vermehrt Assistenten mit künstlicher Intelligenz einsetzen werden. Selbst die Gurus beim World Economic Forum sagen: Wenn es einen Beruf gibt, dessen Zukunft gesichert ist, dann jener des Volksschullehrers.

Sprechen wir von den Kindern und Jugendlichen. Manche Bildungsökonomen bezeichnen sie als Humankapital, das möglichst effizient auszubilden ist. Was sagt Ihnen dieser Begriff?
Humankapital ist ein eigenartiges Begriffskonstrukt. Jeder Mensch ist einzigartig, das ist nicht gleich wie beim Kapital, wo der eine Franken gleich ist wie der andere. Es geht in der Pädagogik um die Entwicklung von Menschen und nicht um skalierbare Produktionsfaktoren. Der wirtschaftliche Druck auf die Schüler ist aber deutlich spürbar, wobei ich die Sichtweise, dass die Schule von den Kindern zu wenig Leistung abverlange, überhaupt nicht teile.

Thema ist auch die Chancenungerechtigkeit: Kinder aus unterschiedlichen Milieus haben ungleiche Startchancen.
Das ist eine der zwei grossen Schwachstellen des Schweizer Bildungswesens: dass beim Start in die Schule, also zu Beginn des Kindergartens, keine Chancengerechtigkeit besteht. Ich finde, da müssen wir als Gesellschaft mehr investieren. Das hat nichts mit Staatskindern zu tun. Sinnvoll sind aber staatliche Frühinterventionen in Familien, bei deren Kindern der Sprachschatz oder die Motorik zu wenig entwickelt sind. Der Kanton Basel-Stadt geht da seit einigen Jahren voran. Man weiss aus der Hirnforschung, dass die ersten vier Jahre enorm wichtig für die weitere Entwicklung sind. Klar ist auch, dass solche Defizite in den folgenden elf Schuljahren nicht mehr vollständig kompensiert werden können. Andere Länder machen das besser: Sie investieren deutlich mehr in die Frühförderung.

Der Eingriff des Staates in die Familien ist in einem liberalen Staat heikel.
Die Familien in Basel sehen es aber offensichtlich nicht so, sondern eher wie ein Gutscheinsystem. Die Eltern wollen in aller Regel das Beste für ihre Kinder. Nur wissen sie nicht immer, was das Beste ist. Wenn sie aber sozusagen Betreuungsgutscheine einlösen können, dann tun sie das. Einverstanden: Das kostet etwas. Aber wie John F. Kennedy einst sagte: «Es gibt nur eines, was teurer ist als Bildung – keine Bildung.»

Von Bund und Kantonen verlangen Sie konkret, mehr in die Frühförderung zu investieren.
Ja. Die Frühförderung ist die zweite Schwachstelle neben der Chancengerechtigkeit. Die beiden hängen zusammen. Investitionen in die Frühförderung würden sich mehrfach auszahlen. Wenn wir möglichst alle Jugendliche mittels Bildung dazu befähigen wollen, ein Leben lang ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen und nicht den Sozialwerken zur Last zu fallen, dann müssen wir sie zu einem Abschluss auf Stufe Sek II bringen können.

Welche weiteren Forderungen haben Sie an Bund und Kantone?
Wichtigste Themen sind die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Bildungswegen und die Qualität des Bildungswesens. In diesen Bereichen sind Bund und Kantone gemeinsam zuständig. Die Fragen lauten: Wie können die Bedingungen verbessert werden, um von einem Gleis aufs andere zu wechseln, und wie können die höheren Fachschulen, die noch immer ein Stiefkind sind, gestärkt werden? Auch hier gilt: Jeder Bildungsfranken, der gut investiert ist, fliesst dem Staat wiederum mehrfach in Form von Steuern zurück. Es ist daher keine gescheite Politik, wenn es kurzfristig nur darum geht, Steuern zu senken, gleichzeitig aber schlechtere Arbeits- und Unterrichtsbedingungen an den Schulen in Kauf genommen werden. Das geht letztlich zulasten der Qualität.

Nehmen wir einmal an, dass die Qualität nicht sinken wird. Wie sieht die Schule der Zukunft in Ihren Augen aus?
Wenn wir zwanzig Jahre vorausschauen, nicht viel anders als heute. Es wird aber immer mehr digitalisierte Hilfsmittel geben, zum Beispiel in Form von Lerngames und Tutorials. Ich glaube aber beispielsweise nicht, dass analoge Tätigkeiten, wie von Hand zu schreiben, völlig verschwinden werden – denn was man mit der Hand aufschreibt, wird im Gehirn besser gespeichert.

Wie sieht Ihre persönliche Zukunft aus – in Interviews haben Sie damit kokettiert, Ihr Markenzeichen, den Schnauz, abzuschneiden?
Tatsächlich ist mein Schnauz zu einer Erkennungsmarke geworden, das war mir gar nicht so bewusst. Ich weiss nicht, ob er bleibt. Sicher ist, dass ich nicht mehr in den Medien auftreten werde. Ab August wird meine Nachfolgerin Dagmar Rösler oberste Lehrerin der Schweiz sein. Dann kommt bei mir mehr zum Zug, was in den letzten Jahren etwas zu kurz kam, meine vier K: Konzerte, Kochen, Kunst und Körperwellness. Einst war ich Bandleader und habe Saxofon gespielt. Nun werde ich Didgeridoo lernen.


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