Oberster Lehrer der
Schweiz: Dieses Prädikat hat Beat W. Zemp, Gymnasiallehrer für Mathematik
und Geografie, 29 Jahre lang getragen. Ende Juli tritt der 64-Jährige als
Zentralpräsident des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) ab.
Er stand einem Verband vor, der seine Mitgliederzahl von 22 000 auf heute
56 000 steigern konnte. Abgesehen von den universitären Hochschuldozenten
und -dozentinnen vertritt der LCH alle Lehrkräfte des Landes.
"Wer einen Beruf will, der nicht langweilt, muss Lehrer werden", NZZ, 24.7. von Jörg Krummenacher
Beat Zemp wird noch in
einzelnen Fachgremien aktiv bleiben: etwa als Präsident der Ebenrain-Konferenz,
der grössten Arbeitnehmerkonferenz der Schweiz, oder als Vizepräsident der
Stiftung «éducation 21», die sich um Bildung für nachhaltige Entwicklung kümmert.
Als Abschlussbukett ist Zemp diese Woche nach Thailand gereist, wo er die
Schweizer Delegation am Weltkongress
der Bildungsinternationale leitet.
Beat Zemp, ist die Schule
in der Schweiz heute besser als 1990, als Sie Ihr Amt angetreten haben?
Sie hat eine enorme
Entwicklung durchgemacht. Als ich begann, gab es keine obligatorischen
Kindergärten, keine Berufsmatur, keine Fachhochschulen und pädagogischen
Hochschulen. Es gab nur den gymnasialen Bildungsweg oder die Berufslehre. Diese
waren praktisch nicht verbunden wegen der frühen Selektion. Heute ist das
anders: Wir haben mehrere Passerellen. Heute können Sie eine Maurerlehre machen
und zum Schluss Mathematikprofessor werden. Das zeigt, dass unser
Bildungssystem viel durchlässiger geworden ist. Ob es besser ist als 1990, ist
eine Frage der Messart: Seit 2000 haben wir Pisa-Tests, und die lassen den
Schluss zu, dass wir besser geworden sind.
Sind auch die Lehrkräfte
besser geworden?
Sie sind sicher besser
ausgebildet. Ich glaube, dass die Professionalisierung des Lehrberufs und die
Wissenschaftsorientierung dazu beigetragen haben. Diese ging aber nicht
zulasten der Praxisausbildung, wie oft behauptet wird. Die frühere
seminaristische Ausbildung war eine Ausbildung auf Sekundarstufe II, heute
haben wir eine Ausbildung auf Masterniveau. Das gilt allerdings nicht bei den
Primarlehrpersonen, und das ärgert mich. Wir sind das einzige Land in Europa,
in dem man diese drei Jahre lang ausbildet und dann vor die Klasse stellt. Die
Anforderungen an Primarlehrpersonen sind enorm gestiegen, und es würde sich
lohnen, bei der Ausbildung zwei Jahre anzuhängen. Ich bin überzeugt, dass das
kommen wird, aber es braucht noch ein wenig Zeit.
Wie sehen Sie Ihren Anteil
an den Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte?
Mein Anteil als gewählter
Repräsentant der Lehrerschaft war, die Positionen zu all den Reformen, zu denen
auch Harmos, der Lehrplan 21 und die Regelung bei den Fremdsprachen gehören,
gebündelt in der Öffentlichkeit zu vertreten. Zum Beispiel setzte ich mich beim
Lehrplan 21 vehement gegen die erste Version ein, die wir als überladen
einstuften, und musste dafür Kritik von den Bildungsbehörden einstecken. Dann
folgte aber eine zweite, schlankere Version, die wir unterstützen konnten.
Wie sind Sie vorgegangen,
um Ihren Einfluss in den diversen Gremien geltend zu machen?
Wissen Sie, das
Bildungswesen ist wie eine komplizierte Tinguely-Maschine – mit vielen
Zahnrädern und vielen Förderbändern. Man muss wissen, an welchen Rädchen man
drehen muss, um Wirkung zu erzielen. Das muss man zuerst lernen. Und man
braucht Sitzleder, wenn man etwas erreichen will.
War das der Grund, dass
Sie 29 Jahre geblieben sind? Viele Führungspersonen sagen nach einigen Jahren,
es sei genug, nun müssten neue Kräfte daran.
Es hat schon damit zu tun,
dass Bildungsreformen lange brauchen, bis sie umgesetzt werden. Bis sich etwas
wirklich manifestiert in unserem komplexen System mit 26 verschiedenen
Bildungssystemen, braucht es Zeit. Die Schweiz wurde Anfang der 1990er Jahre
kritisiert, sie schöpfe ihr Potenzial nicht aus, die Maturaquote sei zu tief,
es herrsche Kantönligeist. Dann entwickelten wir ein Berufsleitbild und versuchten,
dieses gemeinsam mit den Kantonen umzusetzen. 2006 hat das Stimmvolk dann den
neuen Bildungsartikel in der Verfassung mit 85 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen.
Ziel war die Harmonisierung des Schulwesens.
Die Umsetzung ist mit
Harmos inzwischen einigermassen gelungen. Kritiker sprachen indes von
Reformitis.
Die Schule ist mit der
Gesellschaft eng verzahnt. Wenn sich die Schule nicht mit der Gesellschaft und
der Wirtschaft verändern würde, wäre sie schlicht obsolet. Die Schule von 1990
hätte heute keine Rechtfertigung mehr. Es war ja übrigens die FDP (die
Liberal-Radikalen), welche die Grundlagen der demokratisch verfassten Schule
schuf, indem sie 1874 das obligatorische und unentgeltliche Volksschulwesen in
der Verfassung verankerte.
Sie sagen, Sie hätten viel erreicht, anderseits haben die Lehrkräfte in den letzten Jahrzehnten markant an Ansehen verloren, die Anforderungen sind gestiegen. Ist der Lehrerberuf noch attraktiv?
Wenn man einen Beruf
ausüben will, der einen nicht langweilt, dann muss man Lehrer werden. Natürlich
hat sich die Autorität der Lehrpersonen völlig verändert. Als ich in die
Primarschule ging, waren Primarlehrer vor allem Unteroffiziere, die
militärischen Drill im Turnunterricht übten und noch körperlich züchtigten. Das
hat sich erst mit einem Bundesgerichtsentscheid 1991 geändert, der die Ohrfeige
eines Lehrers als Entlassungsgrund wertete. Aber schon mit der 1968er Bewegung
wurden nicht nur die Lehrpersonen, sondern alle Autoritäten generell vom Sockel
geholt. Heute schauen die Eltern sehr genau hin, was in der Schule mit ihren
Kindern geschieht. Die meisten sind aber konstruktiv kritisch. Ich nenne sie
«critical friends», da sie Freunde des Volksschulsystems sind.
Es gibt auch jene Eltern,
die kein gutes Haar an der öffentlichen Schule lassen.
Da gibt es zwei Gruppen,
die Mühe machen. Die einen kümmern sich gar nicht um die Schulkarriere ihrer
Kinder. Denen muss man mit Bussenandrohungen den Hintern heiss machen, damit
sie ihre Kinder verpflegt in die Schule schicken und Zeugnisse und Absenzen
unterschreiben. Dann gibt es die andere Gruppe, die Helikoptereltern, die quasi
von oben beobachten und jeden Schritt ihrer Kinder planen. Diese Eltern kommen
auch schon einmal mit dem Anwalt ans Elterngespräch. Damit umzugehen, ist vor
allem für junge Lehrpersonen schwierig. Das kann dazu führen, dass Lehrkräfte
den Beruf wechseln.
Das verschärft wiederum
den Lehrermangel zusätzlich. Gemäss dem Bildungsbericht, der vor einem Jahr
herausgekommen ist, werden 2025 rund 2000 Lehrkräfte mehr benötigt als 2015.
Wir steuern auf einen
historischen Höchststand von über einer Million Schülern in der Volksschule zu.
Gleichzeitig müssen wir den Abgang der Babyboomer-Lehrpersonen verkraften,
häufig Männer mit Vollpensum, die ersetzt werden müssen durch Teilzeit-Lehrpersonen.
Die pädagogischen Hochschulen bilden zurzeit nur etwa die Hälfe des kommenden
Bedarfs aus. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sich der
Lehrermangel verschärfen wird.
Für die Digitalisierung
hat der LCH einen Forderungskatalog aufgestellt. Haben Sie auch ein Konzept,
wie der Lehrerberuf wieder attraktiver gemacht werden kann – gerade auch für
männliche Lehrkräfte?
Das gibt es schon. Wir
konnten immerhin eine Trendwende erreichen, indem wir viele männliche
Quereinsteiger geholt haben. Ihre Motivation für den Berufswechsel ist, dass
sie es als sinnvoll erachten, Kinder und Jugendliche zu einem bestimmten Ziel
zu bringen. Aber ich will es nicht schönreden: Es ist auch ein sehr
herausfordernder Beruf, in dem man an seine persönlichen Grenzen kommen kann.
Und was die Löhne betrifft, so sind die Einstiegslöhne in den meisten Kantonen
zwar gut, aber die Lohnentwicklung hat insgesamt nicht Schritt gehalten mit
ähnlich anforderungsreichen Berufen.
Kommt hinzu, dass sich der
Beruf weiter wandelt. Wird die Lehrperson künftig vor allem ein Digital-Coach
sein?
Ich glaube nicht, dass
Lehrpersonen vollständig durch Roboter ersetzt werden können. Davon sind wir
noch meilenweit entfernt. Ich bin aber sicher, dass Lehrpersonen vermehrt
Assistenten mit künstlicher Intelligenz einsetzen werden. Selbst die Gurus beim
World Economic Forum sagen: Wenn es einen Beruf gibt, dessen Zukunft gesichert
ist, dann jener des Volksschullehrers.
Sprechen wir von den
Kindern und Jugendlichen. Manche Bildungsökonomen bezeichnen sie als
Humankapital, das möglichst effizient auszubilden ist. Was sagt Ihnen dieser
Begriff?
Humankapital ist ein
eigenartiges Begriffskonstrukt. Jeder Mensch ist einzigartig, das ist nicht
gleich wie beim Kapital, wo der eine Franken gleich ist wie der andere. Es geht
in der Pädagogik um die Entwicklung von Menschen und nicht um skalierbare
Produktionsfaktoren. Der wirtschaftliche Druck auf die Schüler ist aber
deutlich spürbar, wobei ich die Sichtweise, dass die Schule von den Kindern zu
wenig Leistung abverlange, überhaupt nicht teile.
Thema ist auch die
Chancenungerechtigkeit: Kinder aus unterschiedlichen Milieus haben ungleiche
Startchancen.
Das ist eine der zwei
grossen Schwachstellen des Schweizer Bildungswesens: dass beim Start in die
Schule, also zu Beginn des Kindergartens, keine Chancengerechtigkeit besteht.
Ich finde, da müssen wir als Gesellschaft mehr investieren. Das hat nichts mit
Staatskindern zu tun. Sinnvoll sind aber staatliche Frühinterventionen in
Familien, bei deren Kindern der Sprachschatz oder die Motorik zu wenig
entwickelt sind. Der Kanton Basel-Stadt geht da seit einigen Jahren voran. Man
weiss aus der Hirnforschung, dass die ersten vier Jahre enorm wichtig für die
weitere Entwicklung sind. Klar ist auch, dass solche Defizite in den folgenden
elf Schuljahren nicht mehr vollständig kompensiert werden können. Andere Länder
machen das besser: Sie investieren deutlich mehr in die Frühförderung.
Der Eingriff des Staates
in die Familien ist in einem liberalen Staat heikel.
Die Familien in Basel
sehen es aber offensichtlich nicht so, sondern eher wie ein Gutscheinsystem.
Die Eltern wollen in aller Regel das Beste für ihre Kinder. Nur wissen sie
nicht immer, was das Beste ist. Wenn sie aber sozusagen Betreuungsgutscheine
einlösen können, dann tun sie das. Einverstanden: Das kostet etwas. Aber wie
John F. Kennedy einst sagte: «Es gibt nur eines, was teurer ist als
Bildung – keine Bildung.»
Von Bund und Kantonen
verlangen Sie konkret, mehr in die Frühförderung zu investieren.
Ja. Die Frühförderung ist
die zweite Schwachstelle neben der Chancengerechtigkeit. Die beiden hängen
zusammen. Investitionen in die Frühförderung würden sich mehrfach auszahlen.
Wenn wir möglichst alle Jugendliche mittels Bildung dazu befähigen wollen, ein
Leben lang ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen und nicht den Sozialwerken
zur Last zu fallen, dann müssen wir sie zu einem Abschluss auf Stufe Sek II bringen
können.
Welche weiteren
Forderungen haben Sie an Bund und Kantone?
Wichtigste Themen sind die
Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Bildungswegen und die Qualität des
Bildungswesens. In diesen Bereichen sind Bund und Kantone gemeinsam zuständig.
Die Fragen lauten: Wie können die Bedingungen verbessert werden, um von einem
Gleis aufs andere zu wechseln, und wie können die höheren Fachschulen, die noch
immer ein Stiefkind sind, gestärkt werden? Auch hier gilt: Jeder
Bildungsfranken, der gut investiert ist, fliesst dem Staat wiederum mehrfach in
Form von Steuern zurück. Es ist daher keine gescheite Politik, wenn es
kurzfristig nur darum geht, Steuern zu senken, gleichzeitig aber schlechtere
Arbeits- und Unterrichtsbedingungen an den Schulen in Kauf genommen werden. Das
geht letztlich zulasten der Qualität.
Nehmen wir einmal an, dass
die Qualität nicht sinken wird. Wie sieht die Schule der Zukunft in Ihren Augen
aus?
Wenn wir zwanzig Jahre
vorausschauen, nicht viel anders als heute. Es wird aber immer mehr digitalisierte
Hilfsmittel geben, zum Beispiel in Form von Lerngames und Tutorials. Ich glaube
aber beispielsweise nicht, dass analoge Tätigkeiten, wie von Hand zu schreiben,
völlig verschwinden werden – denn was man mit der Hand aufschreibt, wird im
Gehirn besser gespeichert.
Wie sieht Ihre persönliche
Zukunft aus – in Interviews haben Sie damit kokettiert, Ihr Markenzeichen, den
Schnauz, abzuschneiden?
Tatsächlich ist mein
Schnauz zu einer Erkennungsmarke geworden, das war mir gar nicht so bewusst.
Ich weiss nicht, ob er bleibt. Sicher ist, dass ich nicht mehr in den Medien
auftreten werde. Ab August wird meine Nachfolgerin Dagmar Rösler oberste
Lehrerin der Schweiz sein. Dann kommt bei mir mehr zum Zug, was in den letzten
Jahren etwas zu kurz kam, meine vier K: Konzerte, Kochen, Kunst und
Körperwellness. Einst war ich Bandleader und habe Saxofon gespielt. Nun werde
ich Didgeridoo lernen.
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