Es
spricht für die Brisanz des Themas, wenn sich an einem lauen Frühsommerabend
150 oder mehr Menschen – Pädagogen, Gewerkschafter, Eltern–zu einem Vortrag in
die Aula des Irmgardis Gymnasiums von Köln-Bayenthal hocken. „Schraim nach Gehöa“
hatten Prof. Una Röhr-Sendlmeier von der Uni Bonn und ihr Doktorand Tobias Kuhl
den Abend orthografisch angemessen keck benannt, denn um „Wege und Irrwege im
Rechtschreibunterricht“ sollte es ja gehen. Die Wissenschaftler stellten ihre
Studie vor; sie hatten untersucht, nach welchen Methoden und mit welchem Erfolg
Grundschüler in NRW Schreiben und Lesen lernen. Die Ergebnisse–die Mehrzahl der
Kinder lernt Orthografie nicht oder nicht hinreichend gut–hatten die Zuhörer
geahnt; dennoch herrschte am Ende im Auditorium eine Form von zorniger
Ratlosigkeit: Warum werden Schüler nach Methoden unterrichtet, die im Ergebnis
nicht funktionieren? Wir haben mit Frau Professor Una Röhr-Sendlmeier gesprochen.
"Kinder werden systematisch in die Irre geführt", Kölner Stadt-Anzeiger, 13.7. von Karlheinz Wagner und Michael Hesse
Frau
Röhr-Sendlmeier, eine Frage zum Beginn der Ferien: Was wird sich im nächsten
Schuljahrändern–immerhin hat die NRW-Landesregierung eine Neuausrichtung zum Thema
Rechtschreib-Unterrichtangeordnet?
Wenn–wie die
Ministerin sagt– Fehler von Anfang an korrigiert werden sollen, wenn die Kinder
einen verbindlichen Mindestwortschatz erwerben und wenn die Regeln der
Schriftsprache vermittelt werden sollen–dann sind das drei wichtige Säulen, die
man nur begrüßen kann. Wenn aber gesagt wird, dass der Ansatz „Lesen durch Schreiben“
weiterhin im Anfangsunterricht möglich sein soll, dann ist Vorsicht geboten.
Bei systematischem Unterricht kann man Anlauttabellen als Zusatzmaterial anbieten.
Man darf die Kinder aber nicht in dem Glauben lassen, sie könnten sich die
Rechtschreibung über die Anlauttabelle selbst erschließen. Und es muss
freundlich korrigiert werden von Personen, die die Orthografie beherrschen, damit
sich die Kinder nichts Falsches einprägen.
Wollen Sie
die unterschiedlichen Methoden noch einmal skizzieren?
Wir haben
drei didaktische Ansätze untersucht.
1.
Fibel-Unterricht: Dabei spielen die Lehrer als Wissensvermittler eine zentrale
Rolle, es wird geübt und das Geschriebene korrigiert. Der Unterricht ist
strukturiert nach den Prinzipien der Schriftsprache–es geht vom Einfachen zum
Schwierigen; vom Häufigen zum Seltenen.
2.
Rechtschreib-Werkstatt: Es gibt Arbeitsblätter und Kärtchen für
Abschreibübungen, die die Kinder selbst auswählen. Der Lehrer hat eine beratende
Rolle, er korrigiert nicht; die Kinder sollen sich selbst korrigieren und mit dem
Material selber das Schreiben beibringen. Gelernt wird unter anderem mit der Anlaut-Tabelle.
3. Lesen
durch Schreiben (oder: Schreiben nach Gehör): Der Lehrer gibt Anregungen zum Schreiben
mit Hilfe der Anlauttabelle. Es soll motiviert, nicht korrigiert werden; die
Kinder legen Stoff und Lerntempo selbst fest– sie managen ihren Orthografie-Unterrichtselbst.
Zu diesem
Themenbereich haben Sie eine Studie veranlasst. Was war der Grund?
Die
Rektorin einer Grundschule aus NRW ist auf mich zugekommen mit der Beobachtung,
dass ihre Schüler am Ende des 4. Schuljahres nicht korrekt schreiben können. Und
sie fragte, welche Didaktik sie an ihrer Schule einsetzen solle. Ohne eine breitangelegte
und methodisch sauber durchgeführte Studie konnte ich keine Antwort geben.
Wie sind Sie
vorgegangen?
Begonnen haben wir in der Schule, deren Rektorin mich damals
angesprochen hatte. Es sind dann elf weitere Schulen hinzugekommen – insgesamt
haben wir über drei Jahre hinweg bei denselben 284 Schülern von Schulbeginn an die
Entwicklung der Rechtschreibung nach einem gesicherten Verfahren gemessen: nach
der Einschulung und dann jedes schulische Halbjahr – insgesamt also fünfmal.
Das ist eine sogenannte Längsschnittstudie. Zusätzlich haben wir von 2800 Kindern
der Klassen eins bis vier jeweils zum Ende der Schulhalbjahre die Rechtschreibkenntnisse
erfasst.
Wie waren
die Ergebnisse?
In beiden
Teilstudien waren die Ergebnisse der Kinder mit Fibel-Unterricht signifikant besser
als bei den Kindern, die nach Lesen durch Schreiben oder Rechtschreibwerkstatt gelernt
hatten. In der Längsschnittstudie konnten wir auch die Vorkenntnisse der Schülererfassen–denn
es ist wichtig, ob Kinder zum Beispiel schon Buchstaben kennen. Diese Vorkenntnisse
wurden in der Auswertung berücksichtigt und nur die Lernzuwächse der Schüler verglichen.
Das Ergebnis: 1. Kinder, die strukturiert nach einer Fibel lernen, erreichen in
ihren Rechtschreibleistungen mindestens ein durchschnittliches bis
überdurchschnittliches Niveau; nur wenige Kinder lernen nicht gut schreiben,
aber auch das auf einem relativ moderaten Niveau. 2.Kinder, die nach einer der freien
Methoden lernen, erreichen vielfach nicht ein mittleres Niveau, sondern
schreiben unterdurchschnittlich. Es gibt allerdings auch bei den freien Methoden
Kinder, die gute und sehr gute Leistungen zeigen.
Woran liegt
das?
Man kann fragen,
ob das auch an der Unterstützung liegt, die diese Schüler vom Elternhaus
erfahren. Die Kinder, die Schulen mit der „Lesen durch Schreiben“-Methode
besuchten, hatten signifikant höhere Vorkenntnisse. Dies ist ein Hinweis auf
bildungsnähere Familien. Recht neu ist zudem das Phänomen, dass Schüler in großer
Zahl in Nachhilfe-Institute gehen, um die Orthografie zu lernen, damit
Rechtschreibdefizite, die durch die freien Methoden entstehen, ausgeglichen werden.
Hat Sie
das Ergebnis überrascht?
Nun, das Lernen
mit Anlaut-Tabellen suggeriert, man könne sich mit einer solchen Abbildung
sämtliche Realisierungen von Wörtern erschließen. Dabei enthalten die Tabellen
viel zu starke Vereinfachungen. Der Buchstabe E ist etwa illustriert mit einem
Esel – da entspricht der Laut tatsächlich dem Namen des Buchstabens. Aber es
ist auch eine Ente abgebildet, und das E von Ente ist ein anderer Laut als das E
des Esels. Oder: Für das I wird ein Igel gezeigt. Das lange I wird aber in 72
Prozent der Fälle mit „ie“ geschrieben. Die Kinder werden systematisch in die
Irre geführt. Man soll dadurch, dass man viel schreibt, lesen lernen. Das ist Unsinn,
denn die Prozesse sind lernpsychologisch sehr verschieden. Es wird den Kindern gesagt:
Schreib, wie du sprichst. Und weil kein Kind genau weiß, wie es spricht, wurde das
abgewandelt: Schreib auf, was du hörst. Die Kinder sollen die Laute, die sie
beim Vorsprechen hören, in der Anlauttabelle suchen und die entsprechenden Buchstabenaufschreiben.
Aber
Deutsch wird eigentlich nicht geschrieben, wie man es spricht...
Es gibt
nur relativ wenige Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen Lauten und Buchstaben. Wir
haben Buchstaben, die unterschiedlichen Lauten zugeordnet werden–wie bei Ente und
Esel– und wir haben Laute, die verschiedenen Buchstaben zugeordnet sind. Ein gutes
Beispiel ist der Laut K, den wir in folgenden Schreibweisen finden: Krokodil,
Computer, Qualle, Stück, Fuchs, Weg, Akku, macchiato... Es ist einfach falsch,
wenn man den Kindern suggeriert: Ihr könnt euch die Schriftsprache durch Hören und
richtiges Sprechen selbst erschließen.
In Ihrem Vortrag
haben Sie erläutert, dass sich eine Alphabetschrift nicht von alleine
entwickelt; Schriftsprache sei eine kulturelle Errungenschaft, nicht Ergebnis
eines biologischen Prozesses...
Das gilt für die Schriftsprache, ja. Die
mündliche Sprachfähigkeit ist uns angeboren und biologisch verankert–Kinderkönnen
schon vor der Geburt die sprachlichen Laute ihrer natürlichen Umgebung
unterscheiden von anderen Geräuschen–bald nach der Geburt versucht das Kind, die
sprachlichen Laute seiner Umgebung zu imitieren. Aber die
Schriftspracheisteinganzanderer Fall; sie ist eine besondere kulturelle
Errungenschaft; es gibt viele Kulturen, die gar keine Schrift entwickelt haben,
oder Bilderschriften, die keine Hinweise auf die Lautung enthalten. Die Idee,
die enorme Abstraktionsleistung, Einzellaute mit Symbolen in Beziehung zu
setzen, ist gar nicht sehr alt; erste Zeugnisse deuten auf eine Entstehung etwa
2000 v. Chr. hin; sie entstanden zunächst parallel zu den ägyptischen Hieroglyphen.
Wie konnten
sich diese freien Didaktik-Modelle denn gegen den strukturierten Unterricht so
flächendeckend durchsetzen?
Nun, der
Zugang über eine Anlaut-Tabelle wurde als neue Idee in den 80er Jahren
propagiert – von dem Schweizer Jürgen Reichen. Er wollte alles Bürgerliche
abschaffen und eine völlig freie Entfaltung auch für Kinder verwirklichen.
Systematische Vermittlung von Strukturen und Korrekturen– das sei nicht gut,
befand er.Wörtlich:„Je weniger ein Kind belehrt wird, umso mehr lernt es.“ Das
war eine ideologische Vorgabe, die in den damaligen Zeitgeist passte.
Wenn Sie
den gesellschaftlichen Zeitgeist ansprechen – ist die Debatte auch eine politische
Auseinandersetzung zwischen einer eher konservativen Auffassung–die Fibel ist
ja ein klassisches Bildungswerkzeug–und einer eher linken Methodik?
Ich bin
Wissenschaftlerin und möchte Fragen objektiv beantworten. Die nüchterne Frage
nach einer hilfreichen Didaktik ist zu einer ideologischen Debatte auf
gesellschaftlicher Ebene geworden, leider. Es wird dabei ausgeblendet, dass der
moderne Fibel-Unterricht nur wenig zu tun hat mit den traditionellen Fibeln, wo
es häufig um langweilige Dinge ging und es keine Differenzierungsmöglichkeiten
gab zwischen denen, die etwas langsamer lernen, und denen, die schneller
vorankommen. Die Debatte selbst beinhaltet somit eine Schieflage. Es sollte
ausschließlich um das Wohl der Kinder gehen und nicht um politische Glaubenssätze.
Wie geht die
Politik mit Ihren Erkenntnissen um?
NRW hat
ja offensichtlich reagiert... Als wir die Ergebnisse hatten – vor etwa einem Jahr–haben
wir sie auf einer Tagung in Dortmund vorgestellt und sie Frau Ministerin Gebauer
in Kurzform regelrecht in die Hand gedrückt. In der Folge gab es weitere Fachkonferenzen,
und es gab Presseberichte. Danach erreichte uns die Aufforderung, dass man sich
im Ministerium doch mal treffen solle. Herr Kuhl hat die Studie vorgestellt, ich
habe den Hintergrund dargelegt–es wurde sehr engagiert diskutiert. Eine Woche
später hat die Ministerin die veränderten Vorgaben ausgegeben:
Mindestwortschatz, Korrekturen und Einführung in die Struktur der deutschen Orthografie.
Gab es weitere
Reaktionen?
Wir haben
viele Einladungen erhalten, unsere Studie vorzustellen. Und in Brandenburg, Schleswig-Holstein
und zwei Schweizer Kantonen darf Lesen durch Schreiben künftig nicht mehr als
eigene Didaktik verwendet werden. In Hamburg und Baden-Württemberg gibt es
schon länger solche Verbote. Insgesamt haben wir durchaus Gehör gefunden bei
der Politik. Und die Zahl der Einladungen und Anfragen nimmt nicht ab–die Unzufriedenheit
ist offenbar groß mit dem Lese-Rechtschreib-Unterricht unserer Kinder.
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