Das
Lehrjahr startet in wenigen Wochen, und noch immer sind an die 12000
Ausbildungsplätze frei. Die Jungen haben andere Pläne. Annähernd die Hälfte
der Mädchen und sechs von zehn Romands und Tessinern zieht es ans Gymnasium.
Einer von drei Schulabgängern landesweit erklärte im Frühjahr, an eine
Mittelschule wechseln zu wollen. Ihr Anteil lag damit vier Prozentpunkte höher
als bei der letztjährigen Befragung für das Nahtstellenbarometer des Bundes.
Nur noch knapp die Hälfte der Teenager möchte in die Lehre gehen, und ihr
Anteil sinkt leicht.
Jede sechste Lehrstelle ist noch unbesetzt, NZZaS, 28.7. von Franziska Pfister
Fachleuten
und Unternehmen macht das Sorgen. Denn dieser Trend unterläuft Bemühungen von
Wirtschaft und Ämtern, das duale Bildungssystem zu bewahren. Es gehört zu den
Erfolgsgeschichten des Schweizer Arbeitsmarkts, dass zwei von drei Jugendlichen
pro Jahrgang eine Lehrstelle annehmen. In den letzten Jahren taten das jeweils
75000. Aber bleibt das auch so?
Schwierige
Suche nach Lernenden
Obwohl
ein Teil der Betriebe schon ein Jahr im Voraus mit der Rekrutierung beginnt,
suchen viele noch immer händeringend Auszubildende. Im Detailhandel, der
überproportional viele Plätze vergibt, sind laut dem Portal Lena noch 1200
Stellen offen. Detailhandel, Gastgewerbe und Bau meldeten im April gar noch
beinahe die Hälfte der Lehrstellen als frei. Viele Firmen müssen darauf hoffen,
dass sich Jugendliche melden, die an der Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium
durchgefallen sind. Oder sich darauf einstellen, leer auszugehen.
«Es
ist schwieriger geworden, Lehrlinge zu finden», sagt Martin Oppliger von
Aprentas. Der Ausbildungsverbund rekrutiert Lernende für die Basler Chemie,
Handel und Gewerbe. Nicht nur die Zahl der Schulabgänger sinke, sondern auch
das Ansehen der Berufslehre. «Der Wunsch nach gymnasialer Bildung hat in den
letzten Jahren zugenommen», beobachtet auch Annette Grüter, Leiterin des
Berufsinformationszentrums Horgen. Sie erklärt das mit Prestigedenken und weil
mit dem Besuch einer Mittelschule die Berufswahl hinausgeschoben werden könne.
Das sei auch Eltern wichtig. Restaurants, Bäckereien und Metzgereien schliessen
deutlich weniger Lehrverträge ab. Tiere zu töten, nachts in der Backstube oder
abends in der Gaststube zu stehen, entspricht offenbar nicht dem Berufsalltag,
den Junge sich wünschen. Vorne im Laden sieht es nicht besser aus: Im Verkauf
gehen die Lehreintritte noch stärker zurück als im Handwerk.
Branchenverbände
beklagen die Entwicklung. Dass die Zahl der Lernenden stetig abnimmt,
verschärfe laut Gastrosuisse den Fachkräftemangel im Gastgewerbe. Und der
Fleischfachverband kritisiert die Eltern. «Nur allzu oft werden die
Jugendlichen von den Erziehungsverantwortlichen zu einem Studium oder einer
kaufmännischen Lehre gedrängt.»
Für
West- und Südschweizer sei eine Lehrstelle dritte Wahl, sagt Katrin Frei,
Leiterin Berufsbildungspolitik des Staatssekretariats für Bildung, Forschung
und Innovation. Die Jugendlichen dort orientierten sich an Nachbarländern ohne
Berufslehre. Wer das Gymnasium nicht schaffe, wechsle an eine Fachmittelschule
und erwäge eine Lehre erst, wenn er oder sie dort ebenfalls scheitere.
Nicht
alle Firmen haben Probleme. Detailhandelskonzerne, Grossbanken und andere
Grossbetriebe umwerben den Nachwuchs und fördern ihn nach Kräften. Das zahlt
sich aus. Coop hat das Gros seiner 1000 Lehrstellen für diesen Sommer vergeben.
Im Vorjahr seien es ungefähr gleich viele Plätze gewesen, sagt eine Sprecherin.
KMU
fühlen sich im Wettbewerb um die Jungen abgehängt. Der Mangel an Lernenden habe
in verschiedenen Regionen dazu geführt, dass zu wenig geeignete Lehrbetriebe
vorhanden seien, schreibt der Fleischfachverband. Fast jeder Kleinunternehmer
weiss von einem Lehrling zu berichten, der später promoviert hat. «Das sollte
aber nicht die Regel sein. Ein gelernter Bäcker muss später nicht
Literaturprofessor werden», sagte Thomas Hess, Direktor des Zürcher KMU- und
Gewerbeverbandes der NZZ.
Frauen
sind mit Matur im Vorteil
Teenagern
ist bewusst, dass Lehrlinge mehr arbeiten, weniger Freizeit und Ferien haben
und auch mehr Verantwortung tragen als Mittelschüler. Wird es auch in Zukunft
gelingen, die jungen Leute für die traditionellen Bildungswege zu gewinnen? Oder
werden sich die nachrückenden geburtenstärkeren Jahrgänge vermehrt
akademisieren, so wie Gleichaltrige im Ausland? Die Unsicherheit darüber ist so
gross, dass die Fachleute des Bundes ihre Prognosen mit mehreren Szenarien
absichern.
Bis
2027 soll die Zahl der Lehrabschlüsse gemäss dem Bundesamt für Statistik im
schlechtesten Fall leicht zurückgehen oder bestenfalls um ein Fünftel zunehmen
– eine enorme Bandbreite. Dagegen sind die Prognosen für die Maturanden
ziemlich eindeutig: Gemäss dem konservativsten Szenario wird ihre Zahl bis 2027
um 8% zunehmen.
Für
junge Frauen zahlt es sich aus, das Gymnasium zu absolvieren. Über das ganze Erwerbsleben
hinweg kämen sie mit Matura auf klar höhere kumulierte Löhne als mit einer
Lehre, schreiben Maïlys Korber und Daniel Oesch von der Universität
Lausanne.
«Die
Berufslehre bringt Männern mehr als Frauen», halten die Sozialwissenschafter
fest. Ein Lehrabschluss eröffne Männern auf lange Sicht gleichwertige
Perspektiven wie eine gymnasiale Matura, und das sowohl lohnmässig wie mit
Blick auf die Wahrscheinlichkeit, beschäftigt zu sein.
Die
Unterschiede zwischen den Geschlechtern hätten mit der Berufswahl zu tun,
erklärt Katrin Frei vom Staatssekretariat für Bildung: Noch immer würden
überproportional viele Frauen typische Frauenberufe erlernen. «Das sind nicht
die Gebiete, in denen man enorm verdient.»
Die
tradierten Geschlechterrollen wirken in der «Generation Z» fort. Technische
Berufe rangieren im Berufswunsch junger Frauen weit unten, Gesundheits- und
Sozialbereich interessieren die Männer noch immer wenig, zeigt das
Nahtstellenbarometer.
An
Schweizer Universitäten sind mehr Frauen als Männer eingeschrieben. Sie
schätzen laut den Lausanner Forschern die Rendite von Allgemeinbildung höher
ein als jene einer Lehre. Unternehmen bildeten Nachwuchs gemäss ihren
momentanen Bedürfnisse aus und rüsteten ihn zu wenig für Aufgaben, die sich
infolge der Digitalisierung erst stellen. «Lehrabgänger müssen das Gefühl
haben, in der Arbeitswelt die gleiche Chancen zu haben wie Uniabsolventen»,
sagt Oppliger von Aprentas.
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