31. Juli 2019

Immer mehr gehen ans Gymi


Das Lehrjahr startet in wenigen Wochen, und noch immer sind an die 12000 Ausbildungsplätze frei. Die Jungen haben ­andere Pläne. ­Annähernd die Hälfte der Mädchen und sechs von zehn Romands und Tessinern zieht es ans Gymnasium. Einer von drei Schulabgängern landesweit erklärte im Frühjahr, an eine Mittelschule wechseln zu wollen. Ihr Anteil lag damit vier ­Prozentpunkte höher als bei der letztjährigen Befragung für das Nahtstellenbarometer des Bundes. Nur noch knapp die Hälfte der Teenager möchte in die Lehre gehen, und ihr Anteil sinkt leicht. 
Jede sechste Lehrstelle ist noch unbesetzt, NZZaS, 28.7. von Franziska Pfister


Fachleuten und Unternehmen macht das Sorgen. Denn dieser Trend unterläuft Bemühungen von Wirtschaft und Ämtern, das duale Bildungssystem zu bewahren. Es gehört zu den Erfolgsgeschichten des Schweizer Arbeitsmarkts, dass zwei von drei Jugendlichen pro Jahrgang eine Lehrstelle annehmen. In den letzten Jahren taten das jeweils 75000. Aber bleibt das auch so? 

Schwierige Suche nach Lernenden

Obwohl ein Teil der Betriebe schon ein Jahr im Voraus mit der Rekrutierung beginnt, suchen viele noch immer händeringend Auszubildende. Im Detailhandel, der überproportional viele Plätze vergibt, sind laut dem Portal Lena noch 1200 Stellen offen. Detailhandel, Gast­gewerbe und Bau meldeten im April gar noch beinahe die Hälfte der Lehrstellen als frei. Viele Firmen müssen darauf hoffen, dass sich Jugendliche melden, die an der Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium durchgefallen sind. Oder sich darauf einstellen, leer auszugehen.

«Es ist schwieriger geworden, Lehrlinge zu finden», sagt Martin Oppliger von Aprentas. Der Ausbildungsverbund rekrutiert Lernende für die Basler Chemie, Handel und Gewerbe. Nicht nur die Zahl der Schulabgänger sinke, sondern auch das Ansehen der Berufslehre. «Der Wunsch nach gymnasialer Bildung hat in den letzten Jahren zugenommen», beobachtet auch Annette Grüter, Leiterin des Berufsinformationszentrums Horgen. Sie erklärt das mit Prestigedenken und weil mit dem Besuch einer Mittelschule die Berufswahl hinausgeschoben werden könne. Das sei auch Eltern wichtig. Restaurants, Bäckereien und Metzgereien schliessen deutlich weniger Lehrverträge ab. Tiere zu töten, nachts in der Backstube oder abends in der Gaststube zu stehen, entspricht offenbar nicht dem Berufsalltag, den Junge sich wünschen. Vorne im Laden sieht es nicht besser aus: Im Verkauf gehen die Lehreintritte noch stärker zurück als im Handwerk. 

Branchenverbände beklagen die Entwicklung. Dass die Zahl der Lernenden stetig abnimmt, verschärfe laut Gastrosuisse den Fachkräftemangel im Gastgewerbe. Und der Fleischfachverband kritisiert die Eltern. «Nur allzu oft werden die Jugendlichen von den Erziehungsverantwortlichen zu einem Studium oder einer kaufmännischen Lehre gedrängt.» 

Für West- und Südschweizer sei eine Lehrstelle dritte Wahl, sagt Katrin Frei, Leiterin Berufsbildungspolitik des Staatssekretariats für ­Bildung, Forschung und Innovation. Die Jugendlichen dort orientierten sich an Nachbarländern ohne Berufslehre. Wer das Gymnasium nicht schaffe, wechsle an eine Fachmittelschule und erwäge eine Lehre erst, wenn er oder sie dort ebenfalls scheitere.

Nicht alle Firmen haben Probleme. Detailhandelskonzerne, Grossbanken und andere Grossbetriebe umwerben den Nachwuchs und fördern ihn nach Kräften. Das zahlt sich aus. Coop hat das Gros seiner 1000 Lehrstellen für diesen Sommer vergeben. Im Vorjahr seien es ungefähr gleich viele Plätze gewesen, sagt eine Sprecherin. 

KMU fühlen sich im Wettbewerb um die Jungen abgehängt. Der Mangel an Lernenden habe in verschiedenen Regionen dazu geführt, dass zu wenig ­geeignete Lehrbetriebe vorhanden seien, schreibt der Fleischfachverband. Fast jeder Kleinunternehmer weiss von einem Lehrling zu berichten, der später promoviert hat. «Das sollte aber nicht die Regel sein. Ein gelernter Bäcker muss später nicht Literaturprofessor werden», sagte Thomas Hess, Direktor des Zürcher KMU- und Gewerbeverbandes der NZZ. 

Frauen sind mit Matur im Vorteil

Teenagern ist bewusst, dass Lehrlinge mehr arbeiten, weniger Freizeit und Ferien haben und auch mehr Verantwortung tragen als ­Mittelschüler. Wird es auch in Zukunft gelingen, die jungen Leute für die traditionellen Bildungswege zu gewinnen? Oder werden sich die nach­rückenden geburtenstärkeren Jahrgänge vermehrt akademisieren, so wie Gleichaltrige im Ausland? Die Unsicherheit darüber ist so gross, dass die Fachleute des Bundes ihre Prognosen mit mehreren ­Szenarien absichern.

Bis 2027 soll die Zahl der Lehrabschlüsse gemäss dem Bundesamt für Statistik im schlechtesten Fall leicht zurückgehen oder bestenfalls um ein Fünftel zunehmen – eine enorme Bandbreite. Dagegen sind die Prognosen für die Maturanden ziemlich eindeutig: Gemäss dem konservativsten Szenario wird ihre Zahl bis 2027 um 8% zunehmen. 
Für junge Frauen zahlt es sich aus, das Gymnasium zu absolvieren. Über das ganze ­Erwerbsleben hinweg kämen sie mit Matura auf klar höhere kumulierte Löhne als mit einer Lehre, schreiben Maïlys Korber und Daniel Oesch von der Universität Lausanne. 
«Die Berufslehre bringt Männern mehr als Frauen», halten die Sozialwissenschafter fest. Ein Lehrabschluss eröffne Männern auf lange Sicht gleichwertige Perspektiven wie eine gymnasiale Matura, und das sowohl lohnmässig wie mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit, beschäftigt zu sein. 

Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hätten mit der Berufswahl zu tun, erklärt Katrin Frei vom Staatssekretariat für ­Bildung: Noch immer würden überproportional viele Frauen typische Frauenberufe erlernen. «Das sind nicht die Gebiete, in denen man enorm verdient.» 

Die tradierten Geschlechterrollen ­wirken in der «Generation Z» fort. Technische Berufe rangieren im Berufswunsch junger Frauen weit unten, Gesundheits- und Sozialbereich interessieren die Männer noch immer wenig, zeigt das Nahtstellenbarometer.
An Schweizer Universitäten sind mehr Frauen als Männer eingeschrieben. Sie schätzen laut den Lausanner Forschern die Rendite von Allgemeinbildung höher ein als jene einer Lehre. Unternehmen bildeten Nachwuchs gemäss ihren momentanen Bedürfnisse aus und rüsteten ihn zu wenig für Aufgaben, die sich infolge der Digitalisierung erst stellen. «Lehrabgänger müssen das Gefühl haben, in der Arbeitswelt die gleiche Chancen zu haben wie Uniabsolventen», sagt Oppliger von Aprentas.

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