23. Juli 2019

100 Jahre Steinerschulen


Christoph Seidlitz tanzt ein I. Dann ein A, O, E. Die Bewegungsabfolge ist Teil des Morgenrituals. Die Klasse begrüsst ihren Lehrer im Chor, dann sagt sie den Morgenspruch auf. Um Licht und Kraft und Seele geht es darin, um Liebe und Dank dafür, arbeitsam und lernbegierig zu sein. 
Die ideologische Schule, BZ Basel, 23.7. von Diana Hagmann-Bula


Seidlitz bittet ein Mädchen nach vorne, um ihren Zeugnisspruch vorzutragen. Ein Zitat aus der Philosophie, ausgewählt vom Lehrer, das Kind beschreibend. Es zeigt der Schülerin auf, wie sie sich in den kommenden Monaten weiterentwickeln kann. 

Steinerschulen geht es nicht um blosse Wissensvermittlung, sondern um Erfahrungen. Diese sollen den Schülern helfen, Platz im Leben zu finden. Ganze Klassen vermessen deshalb Felder für die SBB oder für Bauern. Sie fahren mit Velo und Zug dem Rhein entlang, von der Quelle bis zur Meermündung. Und was genau ist nun diese Eurythmie? Zwei Stunden pro Woche wird vermittelt, wie mit Tonhöhe und Bewegung Sprache wiedergegeben werden kann. Sie fördere das Kind seelisch, gedanklich, körperlich, stärke die Sozialkompetenz, «weil man nicht nur auf sich, sondern auch auf die anderen achten muss», sagt Volker Kraft. Er ist mit Christoph Seidlitz Lehrer an der Rudolf-SteinerSchule in St. Gallen. Man spürt, wie ihn diese Art der Schule begeistert. 

Unterricht ohne Beamer oder andere Technik 
Im Zimmer von Christoph Seidlitz hat unterdessen der Epochenunterricht begonnen. Während drei bis vier Wochen bleibt die Klasse jeweils von acht bis zehn Uhr am gleichen Thema dran. Pflanzenkunde ist es momentan. Gestern die Exkursion in den Wald, heute die Theorie dazu. «Pilze und Flechten sind die Babys im Pflanzenreich. Sie können noch nicht so viel wie die Blütenpflanzen», sagt Seidlitz. Hellraumprojektor oder andere Technik scheinen hier unnötig zu sein. Die Wandtafel genügt, darauf aufwendige Zeichnungen und sauberste Schnürlischrift. Die Schüler notieren mit. Sie gestalten ihr Lehrbuch selber. 

In der Schweiz sind die Schülerzahlen an den Steinerschulen nach dem Einbruch Ende der 1990er-Jahre stabil. In Deutschland erleben die Waldorfschulen, wie sie dort heissen, gerade einen Boom. Sie gehen auf Emil Molt, den Inhaber der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria in Stuttgart, zurück. Er bat Rudolf Steiner, eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter zu gründen. Diese Aufgabe nahm der Mann, der Demeterbrot, biologischdynamische Landwirtschaft, organische Architektur und anthroposophische Medizin für die einzig richtigen Werte hielt, gerne an. Heute gibt es weltweit 1092 Waldorfschulen und 1857 Waldorfkindergärten in 64 Ländern. Im Schuljahr 2015/2016 besuchten in der Schweiz 5010 Jugendliche eine Steinerschule, das sind 0,54 Prozent aller Schweizer Schüler. 

Ortswechsel, Zürich. Dort behandelt die dritte Klasse von Maurus Johnson gerade deutsche Grammatik. Und hält im Heft fest: «Das Wiewort sagt uns, wie etwas ist, ob gross oder klein, ob froh oder traurig, ob stark oder schwach. Wir fühlen es in unserem Herzen. Das Wiewort flüstert uns zu, wie die Dinge sind.» Eine schönere Umschreibung eines Adjektivs kann man Kindern wohl kaum mitgeben. Und irgendwie steht sie exemplarisch für das, was die Steiner Schulen sein wollen: eine Schmiede von kreativen, gefühlsvollen, achtsamen, kritischen, guten Menschen. 

Das Kind steht im Zentrum, notenfrei, ganzheitlich erzogen. «Wir wollen nicht auslesen, wir wollen individuell fördern», fasst Robert Thomas, Präsident der Arbeitsgemeinschaft Steinerschulen Schweiz & Liechtenstein, das Konzept der Privatschule zusammen. Noten gibt es erst ab der achten Klasse, eingeschätzt werden die Kinder davor mit schriftlichen Zeugnissen, die eher beschreiben als bewerten. Doch viele Eltern befürchten, der Nachwuchs gerate ohne Noten in Rückstand. Thomas nennt das ein Klischee: «Nach der neunten Klasse erfüllen unsere Schüler die minimalen Standards einer öffentlichen Schule. Nur lernen sie die Dinge zu einer anderen Zeit. Zu ihrer Zeit.» 

Zwei Fremdsprachen ab der ersten Klasse, Bruchrechnen und Botanik ab der dritten Klasse, beides früh. Gartenbau ist Unterrichtsfach. Doch warum schreiben und lesen Steinerschüler oft erst nach drei Jahren Schule? «Schreiben und Lesen sind eine Konvention der Erwachsenen. Den Umgang mit Zahlen empfindet das Kind hingegen als natürlich. Ein Universum, vier Jahreszeiten, fünf Finger», sagt Lehrer Volker Kraft. 

Die Eltern zahlen mehr und putzen mit 
Ob Legasthenie, ADHS oder eine andere Schwierigkeit – im Steiner-Universum hat das für die Schüler keine negativen Folgen. Jeder kommt mit bis zur neunten Klasse. Auch der Hauptlehrer bleibt bis zur sechsten Klasse. «Steiner glaubte, dass das Kind in dieser Altersstufe nur anhand der Persönlichkeit des Lehrers Fortschritte macht. In der Begegnung und Auseinandersetzung mit ihm», sagt Kraft. 

Noch so ein Klischee: Die Steinerschulen sind das Auffangbecken für leistungsschwache Schüler, die an der staatlichen Schule scheitern. Robert Thomas widerspricht. Vielleicht sei das mal so gewesen, heute aber sei die Quote an Maturanden an Steinerschulen höher als an der Regelschule. Jürgen Oelkers, deutscher Erziehungswissenschafter und emeritierter Professor der Universität Zürich, kennt den Grund dafür: «Das liegt vor allem an der Zusammensetzung der Privatschulen. Viele Schüler stammen aus einem Elternhaus, das stark begünstigt ist. Oft sind die Eltern bildungsaffine Akademiker.» 

Oelkers sagt weiter, die Steinerschulen würden keine neuen Lernformen ausprobieren wollen und seien bezüglich Digitalisierung sehr skeptisch. Robert Thomas kontert: «Wir lehnen Digitalisierung nicht ab. Wir überlegen uns einfach, wie wir es schaffen, Menschen grosszuziehen, die als 18-Jährige vernünftig mit diesen Geräten umgehen.» Im Schulalltag bedeutet das: indirekte Medienkompetenz, etwa die Nutzung von Tablets, erst ab der siebten Klasse. 

Zu viel Esoterik schreckt die Eltern ab 
Als problematisch stuft Oelkers gewisse Ansichten des Gründervaters Rudolf Steiner ein. Der Begründer der Anthroposophie war überzeugt, dass der Mensch alle sieben Jahre einen grossen Entwicklungsschritt macht. Der Lehrer solle den Unterricht diesem Rhythmus und den vier Temperamenten anpassen, in die Steiner die Menschheit eingeteilt hatte. «Reine Esoterik!», findet Oelkers, «zu viel Anthroposophie und Dogmatismus verträgt es nicht. In den Schulalltag dürfen sie jedenfalls nicht einfliessen, sonst hat die Schule die Eltern nicht hinter sich», meint Oelkers. 

Und auf die zählt sie stark. Das Schulgeld beträgt zwischen 900 und 2000 Franken pro Monat, je nach Einkommen. Eltern leisten Putzdienst, Kochdienst, helfen im Garten oder im Vorstand mit, verkaufen am Basar. «Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen wachsen so zusammen», meint Thomas.

Einen Überblick über die Eltern der Steinerschüler liefert ein soeben erschienenes Buch. Demnach sind 15 Prozent Akademiker, knapp 20 Prozent arbeiten in sozialen Berufen, rund 10 Prozent in kaufmännischen, technischen oder handwerklichen Berufen. Die überraschendste Sparte: 8 Prozent der Eltern sind Lehrer, aber nicht an einer Steinerschule. 57 Prozent wohnen auf dem Land, 43 in der Stadt. 

Der HSG-Professor Pietro Beritelli an der Uni St. Gallen schickt seine beiden Söhne an die Steinerschule. «Mein Grosser spürte den Notendruck im öffentlichen System und hatte zunehmend Kopfweh. Mein Kleiner ist ein extrovertierter Bub, der lieber plaudert, als stillzusitzen. Für ihn war das staatliche System nicht geeignet.» Nach einer kurzen Testphase bei der Steinerschule ging der jüngere Sohn plötzlich gerne in den Unterricht. Obwohl er beruflich sehr eingebunden sei, finde er Zeit, um sich als Vater für die Schule zu engagieren. «Diese Anlässe fallen für mich nicht unter Arbeit. Am Schluss gehen alle zusammen Kaffee trinken. Ein bereicherndes Erlebnis.» 

Weniger positiv hat eine Mutter aus der Ostschweiz die Zeit ihrer Kinder an einer Steinerschule erlebt. Viele Wechsel in der Lehrerschaft habe es gegeben. «Und als ich als Mutter mit Kaugummi zu einem Anlass erschienen bin, musste ich ihn rausnehmen.» Sie habe sich als erwerbstätige Familienfrau möglichst rausgehalten aus der Elternarbeit für die Schule. «Kochen, putzen, mithelfen am Basar, das geht doch nur mit dem traditionellen Rollenmodell, wo sie nur für die Kinder lebt.» Das Steiner-Konzept sei ihr mit der Zeit zu eng geworden. «Wie eine Religion. Andere Meinungen sind nicht gern gehört.»

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