Christoph
Seidlitz tanzt ein I. Dann ein A, O, E. Die Bewegungsabfolge ist Teil des
Morgenrituals. Die Klasse begrüsst ihren Lehrer im Chor, dann sagt sie den
Morgenspruch auf. Um Licht und Kraft und Seele geht es darin, um Liebe und Dank
dafür, arbeitsam und lernbegierig zu sein.
Die ideologische Schule, BZ Basel, 23.7. von Diana Hagmann-Bula
Seidlitz bittet ein Mädchen nach
vorne, um ihren Zeugnisspruch vorzutragen. Ein Zitat aus der Philosophie,
ausgewählt vom Lehrer, das Kind beschreibend. Es zeigt der Schülerin auf, wie
sie sich in den kommenden Monaten weiterentwickeln kann.
Steinerschulen geht es
nicht um blosse Wissensvermittlung, sondern um Erfahrungen. Diese sollen den
Schülern helfen, Platz im Leben zu finden. Ganze Klassen vermessen deshalb
Felder für die SBB oder für Bauern. Sie fahren mit Velo und Zug dem Rhein
entlang, von der Quelle bis zur Meermündung. Und was genau ist nun diese
Eurythmie? Zwei Stunden pro Woche wird vermittelt, wie mit Tonhöhe und Bewegung
Sprache wiedergegeben werden kann. Sie fördere das Kind seelisch, gedanklich,
körperlich, stärke die Sozialkompetenz, «weil man nicht nur auf sich, sondern
auch auf die anderen achten muss», sagt Volker Kraft. Er ist mit Christoph
Seidlitz Lehrer an der Rudolf-SteinerSchule in St. Gallen. Man spürt, wie ihn
diese Art der Schule begeistert.
Unterricht ohne Beamer oder andere Technik
Im
Zimmer von Christoph Seidlitz hat unterdessen der Epochenunterricht begonnen.
Während drei bis vier Wochen bleibt die Klasse jeweils von acht bis zehn Uhr am
gleichen Thema dran. Pflanzenkunde ist es momentan. Gestern die Exkursion in
den Wald, heute die Theorie dazu. «Pilze und Flechten sind die Babys im
Pflanzenreich. Sie können noch nicht so viel wie die Blütenpflanzen», sagt
Seidlitz. Hellraumprojektor oder andere Technik scheinen hier unnötig zu sein.
Die Wandtafel genügt, darauf aufwendige Zeichnungen und sauberste
Schnürlischrift. Die Schüler notieren mit. Sie gestalten ihr Lehrbuch selber.
In der Schweiz sind die Schülerzahlen an den Steinerschulen nach dem Einbruch
Ende der 1990er-Jahre stabil. In Deutschland erleben die Waldorfschulen, wie
sie dort heissen, gerade einen Boom. Sie gehen auf Emil Molt, den Inhaber der
Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria in Stuttgart, zurück. Er bat Rudolf Steiner,
eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter zu gründen. Diese Aufgabe nahm der
Mann, der Demeterbrot, biologischdynamische Landwirtschaft, organische
Architektur und anthroposophische Medizin für die einzig richtigen Werte hielt,
gerne an. Heute gibt es weltweit 1092 Waldorfschulen und 1857
Waldorfkindergärten in 64 Ländern. Im Schuljahr 2015/2016 besuchten in der
Schweiz 5010 Jugendliche eine Steinerschule, das sind 0,54 Prozent aller
Schweizer Schüler.
Ortswechsel, Zürich. Dort behandelt die dritte Klasse von
Maurus Johnson gerade deutsche Grammatik. Und hält im Heft fest: «Das Wiewort
sagt uns, wie etwas ist, ob gross oder klein, ob froh oder traurig, ob stark
oder schwach. Wir fühlen es in unserem Herzen. Das Wiewort flüstert uns zu, wie
die Dinge sind.» Eine schönere Umschreibung eines Adjektivs kann man
Kindern wohl kaum mitgeben. Und irgendwie steht sie exemplarisch für das, was
die Steiner Schulen sein wollen: eine Schmiede von kreativen, gefühlsvollen,
achtsamen, kritischen, guten Menschen.
Das Kind steht im Zentrum, notenfrei,
ganzheitlich erzogen. «Wir wollen nicht auslesen, wir wollen individuell
fördern», fasst Robert Thomas, Präsident der Arbeitsgemeinschaft Steinerschulen
Schweiz & Liechtenstein, das Konzept der Privatschule zusammen. Noten gibt
es erst ab der achten Klasse, eingeschätzt werden die Kinder davor mit
schriftlichen Zeugnissen, die eher beschreiben als bewerten. Doch viele Eltern
befürchten, der Nachwuchs gerate ohne Noten in Rückstand. Thomas nennt das ein
Klischee: «Nach der neunten Klasse erfüllen unsere Schüler die minimalen Standards
einer öffentlichen Schule. Nur lernen sie die Dinge zu einer anderen Zeit. Zu
ihrer Zeit.»
Zwei Fremdsprachen ab der ersten Klasse, Bruchrechnen und Botanik
ab der dritten Klasse, beides früh. Gartenbau ist Unterrichtsfach. Doch warum
schreiben und lesen Steinerschüler oft erst nach drei Jahren Schule? «Schreiben
und Lesen sind eine Konvention der Erwachsenen. Den Umgang mit Zahlen empfindet
das Kind hingegen als natürlich. Ein Universum, vier Jahreszeiten, fünf
Finger», sagt Lehrer Volker Kraft.
Die Eltern zahlen mehr und putzen mit
Ob
Legasthenie, ADHS oder eine andere Schwierigkeit – im Steiner-Universum hat das
für die Schüler keine negativen Folgen. Jeder kommt mit bis zur neunten Klasse.
Auch der Hauptlehrer bleibt bis zur sechsten Klasse. «Steiner glaubte, dass das
Kind in dieser Altersstufe nur anhand der
Persönlichkeit des Lehrers Fortschritte macht. In der Begegnung und
Auseinandersetzung mit ihm», sagt Kraft.
Noch so ein Klischee: Die
Steinerschulen sind das Auffangbecken für leistungsschwache Schüler, die an der
staatlichen Schule scheitern. Robert Thomas widerspricht. Vielleicht sei das
mal so gewesen, heute aber sei die Quote an Maturanden an Steinerschulen höher
als an der Regelschule. Jürgen Oelkers, deutscher Erziehungswissenschafter und
emeritierter Professor
der Universität Zürich, kennt den Grund dafür: «Das liegt vor allem an der
Zusammensetzung der Privatschulen. Viele Schüler stammen aus einem Elternhaus,
das stark begünstigt ist. Oft sind die Eltern bildungsaffine Akademiker.»
Oelkers
sagt weiter, die Steinerschulen würden keine neuen Lernformen ausprobieren
wollen und seien bezüglich Digitalisierung sehr skeptisch. Robert Thomas
kontert: «Wir lehnen Digitalisierung nicht ab. Wir überlegen uns einfach, wie
wir es schaffen, Menschen grosszuziehen, die als 18-Jährige vernünftig mit
diesen Geräten umgehen.» Im Schulalltag bedeutet das: indirekte
Medienkompetenz, etwa die Nutzung von Tablets, erst ab der siebten Klasse.
Zu
viel Esoterik schreckt die Eltern ab
Als problematisch stuft Oelkers gewisse
Ansichten des Gründervaters Rudolf Steiner ein. Der Begründer der
Anthroposophie war überzeugt, dass der Mensch alle sieben Jahre einen grossen
Entwicklungsschritt macht. Der Lehrer solle den Unterricht diesem Rhythmus und
den vier Temperamenten anpassen, in die Steiner die Menschheit eingeteilt
hatte. «Reine Esoterik!», findet Oelkers, «zu viel Anthroposophie und
Dogmatismus verträgt es nicht. In den Schulalltag dürfen sie jedenfalls nicht
einfliessen, sonst hat die Schule die Eltern nicht hinter sich», meint Oelkers.
Und auf die zählt sie stark. Das Schulgeld beträgt zwischen 900 und 2000
Franken pro Monat, je nach Einkommen. Eltern leisten Putzdienst, Kochdienst,
helfen im Garten oder im Vorstand mit, verkaufen am Basar. «Nicht nur die Kinder,
auch die Erwachsenen wachsen so zusammen», meint Thomas.
Einen
Überblick über die Eltern der Steinerschüler liefert ein soeben erschienenes
Buch. Demnach sind 15 Prozent Akademiker, knapp 20 Prozent arbeiten in sozialen
Berufen, rund 10 Prozent in kaufmännischen, technischen oder handwerklichen
Berufen. Die überraschendste Sparte: 8 Prozent der Eltern sind Lehrer, aber
nicht an einer Steinerschule. 57 Prozent wohnen auf dem Land, 43 in der Stadt.
Der HSG-Professor Pietro Beritelli an der Uni St. Gallen schickt seine beiden
Söhne an die Steinerschule. «Mein Grosser spürte den Notendruck im öffentlichen
System und hatte zunehmend Kopfweh. Mein Kleiner ist ein extrovertierter Bub,
der lieber plaudert, als stillzusitzen. Für ihn war das staatliche System nicht
geeignet.» Nach einer kurzen Testphase bei der Steinerschule ging der jüngere
Sohn plötzlich gerne in den Unterricht. Obwohl er beruflich sehr eingebunden
sei, finde er Zeit, um sich als Vater für die Schule zu engagieren. «Diese
Anlässe fallen für mich nicht unter Arbeit. Am Schluss gehen alle zusammen
Kaffee trinken. Ein bereicherndes Erlebnis.»
Weniger positiv hat eine Mutter
aus der Ostschweiz die Zeit ihrer Kinder an einer Steinerschule erlebt. Viele
Wechsel in der Lehrerschaft habe es gegeben. «Und als ich als Mutter mit
Kaugummi zu einem Anlass erschienen bin, musste ich ihn rausnehmen.» Sie habe
sich als erwerbstätige Familienfrau möglichst rausgehalten aus der Elternarbeit
für die Schule. «Kochen, putzen, mithelfen am Basar, das geht doch nur mit dem
traditionellen Rollenmodell, wo sie nur für die Kinder lebt.» Das
Steiner-Konzept sei ihr mit der Zeit zu eng geworden. «Wie eine Religion.
Andere Meinungen sind nicht gern gehört.»
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