22. Juni 2019

Steiner: "Wir haben die besten öffentlichen Schulen"


Von der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner hörte man zuletzt im Fall Andreas Glarner. Sie ärgerte sich öffentlich über dessen «halbherzige» Entschuldigung, nachdem er die Telefonnummer einer Lehrerin ins Netz gestellt hatte. Wenns um Bildung geht, kommt sie in Fahrt. Das zeigt sich auch im BLICK-Interview in ihrem Büro in Zürich. Die Präsidentin der Erziehungsdirektoren nimmt sich spontan doppelt so viel Zeit wie ursprünglich vereinbart.
"Wir müssen mehr in die Begabten investieren", Blick, 20.6. von Helena Schmid und Rebecca Wyss


Einiges deutet darauf hin, dass wir uns in Richtung England bewegen: gute Schulen für die Reichen, der Rest muss sich mit den öffentlichen Zweitklassschulen abfinden. Macht Ihnen dieses Szenario nicht Sorgen?
Silvia Steiner:
 Wir bewegen uns in der Schweiz nicht Richtung England. Die Engländer wären wahrscheinlich froh, sie würden sich Richtung Schweiz bewegen. Wir haben die besten öffentlichen Schulen für alle Kinder. Das zeigen auch die Pisa-Studien.

Trotzdem haben die Privatschulen Zulauf.
Ja, aber nur in bestimmten Regionen und bei den zweisprachigen Schulen. Zum Beispiel in städtischen Regionen mit vielen Expat-Eltern, die einen Hochschulabschluss haben. Im Durchschnitt gehen schweizweit 4,6 Prozent der Kinder an eine Privatschule. In Genf liegt dieser Anteil bei 16,1 Prozent. In der Ostschweiz sind es nur 2,4 Prozent. Manche Eltern wollen ihre Kinder an einer Montessori- oder Steiner-Schule haben. Oder in einer religiösen Bildungseinrichtung.

Weshalb der Boom bei den Expats?
Unser duales Bildungssystem ist bei ihnen nicht so bekannt. Sie fürchten, dass ihre Kinder mit einem Volksschulabschluss nicht gerüstet sind, um später an Hochschulen im Ausland zu studieren. Das ist falsch. Dies betrifft aber auch nur jene Expats, die wieder weiterziehen wollen. Die, die hier bleiben, schicken ihre Kinder in der Regel an unsere öffentlichen Schulen.

Sie selber sagten im Zürcher Kantonsrat, ihre Kinder hätten sich in der Volksschule systematisch gelangweilt. Weshalb?
Meine Kinder langweilten sich zum Teil, weil sie eher zu den Schnelleren gehörten. So geht es auch vielen anderen. Die Aufgabe der Volksschule ist es, für alle da zu sein. Das gelingt vielen Schulen sehr gut.

Wäre die Privatschule für Ihre Kinder nicht besser gewesen?
Nein. Klar ist aber auch: In den letzten Jahren haben wir viel in die Förderung der Schwachen investiert. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um gezielter und mehr in die Begabten zu investieren.

Unsere Recherchen zeigen aber, dass gerade auch überforderte Kinder an Privatschulen gehen. Wird die Volksschule ihnen wirklich gerecht?
Absolut. Mit den Schwächeren müssen wir intensiver arbeiten, sie brauchen mehr Zeit. Aber auch sie finden ihren Weg. Im Kanton Zürich haben 91 Prozent der 25-Jährigen im Minimum einen Lehrabschluss oder eine Maturität.

An den öffentlichen Schulen sitzen bis zu 25 Schüler im Klassenzimmer. An den Privatschulen sind die Klassen kleiner – das ist doch besser.
An den meisten öffentlichen Schulen steht mehr als eine Lehrperson im Klassenzimmer – im Kanton Zürich jedenfalls. Es gibt Klassenbegleiter, Heilpädagogen und Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache. Die Klage, die an mich herangetragen wird, ist eine ganz andere: Es seien zu viele Leute im Klassenzimmer.

Warum ist das ein Problem?
Es gibt eine Unruhe im Klassenzimmer und es braucht viele Absprachen. Die Hauptklassenlehrerin wird zur Managerin, die schaut, welches Kind in welchen Kurs muss. Das ist die Konsequenz davon, dass man den einzelnen Bedürfnissen der Kinder versucht gerecht zu werden.

Allen Bedürfnissen gerecht zu werden – das ist ein hoher Anspruch. Erst recht, wenn man bedenkt, dass wir in den Städten einen hohen Anteil Migrantenkinder haben, die vor der Primarschule kein Deutsch sprechen.
Diese Kinder, die bei uns eingeschult werden, machen uns keine Sorgen. Selbstverständlich müssen wir investieren, bis diejenigen, die bei uns eingeschult werden, die Sprache können. Aber das klappt gut. Unser Problem sind jene, die zum Beispiel erst mit 12 Jahren in die Schweiz kommen und dann in der Sekundarschule mithalten müssen.

Das klingt, als wären Klassen mit hohem Ausländeranteil kein Problem.
Wir müssen damit leben, dass es sie gibt. In diesen Klassen braucht es mehr Fördermassnahmen. Die Lehrpersonen brauchen mehr Ressourcen, auch finanzielle. Und es muss die Möglichkeit geben, Kinder, die nicht mitkommen, für eine begrenzte Zeit aus der Klasse zu nehmen und zu fördern.

Und dann gibt es noch die Kinder, bei denen die Eltern viel Geld in Gymi-Nachhilfestunden stecken. Übertreiben es diese Eltern nicht?
Ich verstehe, dass die Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen. Der Gymi-Hype hat damit zu tun, dass manche nicht wissen, welche guten Chancen unser duales Bildungssystem bietet. Als Eltern rät man seinem Kind zu dem Weg, den man am besten kennt.

Bei Akademikern ist es der Gymi-Weg. Auf der anderen Seite gibt es viele mit «nur» einem Lehrabschluss, die sich heute abgehängt fühlen. Verstehen Sie das?
Das reicht auch tatsächlich nicht mehr. Man wird heute nicht mehr dort pensioniert, wo man nach der Lehre angefangen hat. Globalisierung, Digitalisierung, Zuwanderung von gut Ausgebildeten – der Druck wächst. Wenn ich heute jungen Leuten zuhöre, ist es für sie klar, dass sie sich nach der Lehre weiterbilden wollen. Schwieriger ist es für die 40-Jährigen, die sich nie weitergebildet haben.

Ein grosser Druck, der da auf den Jungen lastet.
Haben Sie jemals in Ihrem Leben sagen können: Jetzt mache ich nichts mehr? Den Anspruch, dass sich die Jungen weiterbilden, müssen wir haben.

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