13. Juni 2019

Schulpsychologe kritisiert Schulbehörde und Bildungsdepartement

Willi Ruoss macht sich Sorgen. Der ehemalige Thurgauer Schulpsychologe wohnt in Wigoltingen und hat die Konflikte in der dortigen Schule hautnah miterlebt. Dass so viele Lehrpersonen kündigten, schreibt er jedoch nicht nur dem neuen Tempo und der Führungsstruktur zu, sondern vor allem auch dem pädagogischen Konzept, welches die beiden neuen Schulleiter Mirko Spada und Philipp Zimmer nach Wigoltingen brachten.
Beide kommen aus Privatschulen, welche eine hohe Autonomie des Kindes ins Zentrum setzen. «Es tönt sympathisch, human und kindszentriert, aber es ist gefährlich», sagt Willi Ruoss. Es sei eine Überbetonung der kindlichen Selbstständigkeit. Er weiss, dass diese Ideologie und deren Umsetzung einer der Streitpunkte zwischen den Oberstufenlehrern und der Schulleitung waren. «Die Lehrer haben sich zu Recht gewehrt.»
"Die Behörde wurde geblendet", Thurgauer Zeitung, 13.6. von Sabrina Bächi

Das Lehrer-Kind-Verhältnis sollte ganz anders werden. Gemäss dieser pädagogischen Überzeugung, die fachlich höchst umstritten sei, wäre der Lehrer nur noch Lerncoach. Eine erwachsene Person auf Augenhöhe mit den Kindern. Diese habe eine negative Kehrseite. Mögliche Folgen können Hierarchieumkehr und Autoritätszerfall sein. Bereits heute werde sehr individualisiert und kindzentriert gearbeitet, sagt Ruoss. Eine zu grosse Autonomie führe oft zu einer Überforderung des Kindes und spätestens beim Übertritt in die Berufswelt zu Problemen. «Wenn die Autonomie der Kinder derart betont wird, glauben sie, dass es überall so funktioniert.» Kinder bräuchten klare Führung. Dies werde bei der Ideologie, welche die Schulleiter vertreten, in Frage gestellt.

Ein verlockendes Gesamtpaket
Ruoss kann jedoch nachvollziehen, weshalb sich die Schulbehörde Wigoltingen auf zwei Personen eingelassen hat, welche diese Art von Pädagogik vertreten. «Schulpräsidentin Nathalie Wasserfallen hat zu Recht auf die geschwächte Situation in der Schulgemeinde hingewiesen.» Das positiv klingende Gesamtpaket, welches Fortschritt verspricht, sei wohl sehr verlockend gewesen. «Die Behörde hat sich blenden lassen von den Versprechungen», sagt der Wigoltinger. Die Behörde sei noch nicht lange im Amt und habe sicherlich zu schnell zugegriffen.

«Sie hätte sich mehr Referenzen einholen und nachfragen sollen, das hätte ein anderes Bild ergeben.» Nun stünden die Lehrer als Verweigerer und faul da, weil sie sich gegen ein Lernkonzept wehren, das in einer Privatschule durchaus funktionieren, jedoch nicht vorbehaltlos auf die öffentliche Schule übertragen werden könne. Doch am «Schlamassel» der Schule Wigoltingen sei nicht nur die Naivität der Behörde schuld.

Kritik am Departement
Ruoss befürchtet auch, dass der Kanton zu wenig schnell reagiert und vielleicht auch nicht gut genug hingeschaut hat. «Das müssen letztlich die Untersuchungen zeigen, aber auch bei grosser Gemeindeautonomie hat das Schulinspektorat die Möglichkeit, Weisungen zu erlassen.» Etwa eine Fachperson zur Unterstützung von Schulpräsidentin Wasserfallen in der Krisensituation oder Weisungen im Umgang mit Medien wären für ihn denkbare Möglichkeiten gewesen. Spätestens Anfang April, so Ruoss, habe das Departement vom Konflikt über die Medien erfahren. Dann hätte es unterstützend eingreifen müssen. «Das Departement für Erziehung und Kultur hat zu lange zugeschaut und seine Pflicht nicht wahrgenommen.» Er fordert deshalb, dass eine externe Kommission untersuche, ob das Departement seine Aufsichtspflicht verletzte. Das sei ein happiger Vorwurf, doch die Politik müsse sich mit dem Fall Wigoltingen auseinandersetzen. «Es ist nicht ein Fall Hefenhofen, aber vergleichbar.» Das Departement für Erziehung und Kultur, das Amt für Volksschule sowie die Schulbehörde Wigoltingen wollten sich trotz Nachfrage derzeit nicht äussern.



2 Kommentare:

  1. In der NZZ vom Sonntag vom 8.6.2019 konnte man folgendes lesen: "Der ehemalige Schulpsychologe warnt davor, dass die öffentliche Schule übernommen werden könnte und verweist auf das Beispiel der Gemeinde Häggenschwil im Kanton St. Gallen, die ihre Oberstufe privatisierte. Weil die Schule 2010 vor der Schliessung stand, vertraute das Dorf die Führung der Sekundarschule einem privaten Anbieter an – jenem, zu dessen Netzwerk laut Ruoss die beiden Schulleiter in Wigoltingen gehören.

    Gemäss der Homepage, der SBW Secundaria Hägenschwil AG, ist das obgenannte Netzwerk, das SBW Haus des Lernens, das vom umstrittenen Schulreformer Peter Fratton gegründet wurde https://www.sbw.edu/de/secundaria-haeggenschwil/home-portraet/index.html

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  2. Danke für den Hinweis auf Fratton. Dieser hat ja gemäss Michael Winterhoffs "Deutschland verdummt" viel Unheil angerichtet. Bekannt sind Frattons "vier pädagogische Urbitten". Gabrielle Warminski-Leitheusser (SPD) war Kultursministern in Baden-Württemberg. Sie machte den Realschullehrer zum offiziellen Berater und begann, das Schulsystem ihres Bundeslandes nach dessen Vorstellungen umzugestalten. Das vormalige Vorzeige-Bundesland verschlechterte sich in der darauffolgenden Zeit dramatisch im Ländervergleich. Legendär ist Frattons Antwort auf eine Frage in einer Landtagsanhörung: "Ich habe keine Ahnung, was dabei herauskommt. Aber schön falsch ist auch schön".

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