15. Juni 2019

Frühförderung für mehr Chancengerechtigkeit


Er war Gymnasiallehrer und vertrat jahrzehntelang die Interessen der Schweizer Lehrer. Beat Zemp erlebte in dieser Zeit unzählige Reformen, neue Unterrichtsmethoden und wie sich Schüler und Eltern verändert haben. Zum Abschiedsinterview empfängt der Baselbieter am Hauptsitz des Schweizer Lehrerverbandes in der Nähe der Zürcher Hardbrücke. Am Eingang prangert der berühmte Satz des verstorbenen US-Präsidenten John F. Kennedy: «Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.»
"Künftig werden auch Roboter an Schulen unterrichten", Schweiz am Wochenende, 15.6. von Yannick Nock



Erinnern Sie sich an Ihren ersten Schultag?
Beat Zemp: Natürlich, das war an einer Primarschule im Oberbaselbiet. Den Kindergarten gab es damals noch nicht, weshalb Kinder die ersten sechs Jahre zu Hause verbrachten – bis einen die Mutter dann zur Schule brachte. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, denn mir wurde gesagt, dass jetzt der Ernst des Lebens beginne.

Waren Sie ein guter Schüler?
Die gesamte Schulzeit über hatte ich meistens nur Bestnoten. Um mich nicht als Streber darzustellen, flüsterte mir der Rektor an der Maturafeier 1974 ins Ohr, dass ich die beste Matur des Jahrgangs gemacht hatte. Das war allerdings nicht immer hilfreich. Ich hatte zu Beginn Mühe damit, mich in Mitschüler hineinzuversetzen, wenn sie etwas nicht verstanden hatten.

Was gerade ein Lehrer können sollte.
Ich habe meinen Klassenkameradinnen am Gymnasium ab und zu Nachhilfe gegeben. Für mich war das sehr heilsam, so konnte ich sehen, welche Probleme sie hatten. Eine Kollegin, die in der Mathematik sehr schlecht war, hat dann plötzlich eine 6 geschrieben. Unser Lehrer war total verwirrt (lacht). Das war ein Schlüsselerlebnis, danach wusste ich, dass der Lehrerberuf eine gute Option für mich wäre.

Haben Sie Ihren Lehrern auch mal einen Streich gespielt?
Natürlich, allerdings waren das damals eher harmlose Streiche. Zum Beispiel haben wir einem Lehrer einen nassen Schwamm auf den Stuhl gelegt. Das kann man nicht mit heute vergleichen.

Inwiefern?
Wir hatten gerade einen Fall in Sursee: Da verglichen Gymnasiasten am letzten Tag die Schulzeit bei einem Lehrer mit dem Holocaust. Sie würden im Klassenzimmer quasi in die Gaskammer gesteckt. Über einen anderen Lehrer hiess es, er verbreite eine tödliche Krankheit. Das ist nicht lustig, sondern üble Nachrede und Ehrverletzung. Diese Schüler haben nun eine Strafanzeige am Hals.

Streiche sind das eine, wie hat sich die Schule in den vergangenen 30 Jahren insgesamt verändert?
Extrem verändert hat sich vor allem die Situation der Schüler zu Hause. Die Lebenswelten sind sehr unterschiedlich geworden, das ist eine grosse Herausforderung für Schulen. Die einen wachsen behütet auf, andere werden vernachlässigt. Einige haben reiche Eltern, während andere nicht mal genügend Geld für kleine Ausflüge aufbringen können. In einer meiner Maturaklassen erhielt ein Schüler für seinen Abschluss sogar einen nagelneuen BMW.

Lässt sich schulischer Erfolg kaufen?
Natürlich können Eltern Nachhilfe kaufen. Allerdings zeigen Studien, dass ein permanentes Nachhilfedoping kaum etwas bringt. Nachhilfe ist dann sinnvoll, wenn ein Kind längere Zeit gefehlt oder in einem bestimmten Fach eine Teilschwäche hat. Aber über Jahre und sämtliche Schulstufen hinweg, systematisch Nachhilfe in Anspruch zu nehmen, bringt nichts. Irgendwann kommt der Moment, an dem die Intelligenz einfach nicht mehr reicht, um die gestellten Aufgaben zu meistern.

Wo haben Schweizer Schulen selbst Nachholbedarf?
Unser Bildungswesen hat zwei grosse Schwächen: Die Frühförderung vor dem Schuleintritt wird vernachlässigt und daher ist die Chancengerechtigkeit alles andere als gut. Im Alter von 0 bis 4 Jahren machen wir viel zu wenig. Einige Kantone wie Basel-Stadt bemühen sich jetzt zwar, Kinder mit ungenügenden Sprachkentnissen zu fördern, damit die Unterschiede später nicht zu gross sind. Doch das ist längst nicht in allen Kantonen der Fall.

Das müssten die Schulen doch ausgleichen können.
Leider nicht bei allen. Oftmals lassen sich die Lücken nicht mehr schliessen. Je nach Familie und Erziehung sind die Kinder unterschiedlich weit. Wer seinen Nachwuchs die ersten Jahre einfach vor den Fernseher setzt, begeht einen grossen Fehler.

Trotzdem bleibt ein guter Lehrer entscheidend für den schulischen Erfolg. Was haben Lehrer früher besser gemacht als heute?
Früher war längst nicht alles besser. Heute holen sich gute Lehrpersonen Feedback von anderen Lehrkräften und den Lernenden selbst, um sich weiter zu verbessern. Denn es gibt immer Dinge, die man selbst nicht sieht.

Was war Ihr blinder Fleck?
Wie gesagt war es für mich am Anfang schwierig, die Sichtweise von schwachen Schülern einzunehmen, da ich in meiner eigenen Schulzeit solche Probleme nicht kannte. Mir war es ein Rätsel, warum man einfache mathematische Zusammenhänge nicht begreifen konnte. Aber solche Blockaden lassen sich lösen, wie ich heute weiss.

Wie zeigen sich diese Blockaden?
Eine Schülerin wollte mir weismachen, dass es genetisch bedingt sei, dass sie in der Mathematik Probleme hat. Ihre Eltern hätten es schon nicht begriffen, deshalb mache es bei ihr auch keinen Sinn. Aber das stimmte natürlich nicht. Die Kunst eines Lehrers ist es zu spüren, was jeder Schüler braucht und wie man ihm oder ihr helfen kann.

Sie halten seit Jahrzehnten den Lehrerberuf hoch. Trotzdem gelingt es nicht, mehr junge Menschen für den Job im Klassenzimmer zu begeistern. Dabei ist es ein krisenfester Beruf. Was läuft schief?
Wenn man den Zukunftsforschern am World Economic Forum zuhört, dann soll vor allem der Primarlehrerjob krisenfest sein. Allerdings ist es schwierig, vorherzusagen, wie sich der Beruf durch die Digitalisierung verändern wird. Es kommen bereits heute digitale Lernhilfen zum Einsatz. Ich bin überzeugt, dass es an den Schulen eines Tages Roboter im Klassenzimmer geben wird, die den Lehrpersonen beim Unterrichten helfen. In Südkorea gibt es bereits Roboter-Tutoren, die Englisch unterrichten.

Klingt futuristisch.
Nicht nur Lehrer, auch Schüler dürften von Robotern profitieren. Bereits heute können Kinder vom Spital aus mithilfe eines Roboter-Avatars am Unterricht teilnehmen, wenn sie längere Zeit verhindert sind. Sie können die Roboter mithilfe eines iPads steuern und verpassen dadurch nichts. So hört und sieht das Kind alles und bleibt Teil der sozialen Gruppe, bis es wieder gesund ist.

Noch lässt sich der Lehrermangel allerdings nicht digital beheben.
Das stimmt. Der Lehrermangel hat aber nichts mit sinkendem Interesse am Beruf zu tun. Die Ursache liegt einerseits in den steigenden Schülerzahlen, andererseits gehen die Babyboomer in Pension. Ich gehöre ja selbst dieser Generation an.

Einige Kantone versuchen, mit mehr Lohn dem Mangel entgegenzuwirken. Welche Rolle spielt das Gehalt, gerade bei jungen Lehrern?
Das spielt schon eine Rolle. In Zürich hat man reagiert und zahlt für junge Primarlehrpersonen mit 92000 Franken jährlich gute Einstiegslöhne. In anderen Kantonen wie Graubünden ist er mit 72000 Franken schlicht zu tief. Zudem sollten auch Primarlehrpersonen künftig einen Masterabschluss haben. Diesbezüglich sind wir das Schlusslicht in Europa. Es gibt kein anderes Land, wo eine Lehrperson bereits nach drei Jahren Ausbildung vor eine Primarklasse treten kann und sämtliche Fächer unterrichten darf.

Gerade Primarlehrer arbeiten oft Teilzeit. Um den Mangel zu beheben, könnten Mindestpensen eingeführt werden. Eine gute Idee?
Nein, das würde alles nur noch schlimmer machen. Wenn Lehrerinnen gezwungen werden, mindestens in einem 50-Prozent-Pensum zu arbeiten, werden viele den Beruf verlassen, weil sie zu Beginn der Kinderphase weniger unterrichten wollen, dafür aber später das Pensum wieder aufstocken.

Genf praktiziert quasi ein Teilzeitverbot, fast alle Lehrer arbeiten Vollzeit. Dort herrscht kein Mangel.
Genf zahlt die besten Löhne der Schweiz. Ausserdem gibt es wegen der Grenzgänger ein grosses Reservoir an Lehrpersonen aus Frankreich. Dann kann man solche Bedingungen vorschreiben. Aber stellen Sie sich eine solche Regelung in Bern vor, wo auf manche Ausschreibungen eine einzige Bewerbung eingeht. Wenn dann noch ein bestimmtes Pflichtpensum vorgeschrieben wird, finden sie gar keine Lehrer mehr.

Heute kommt es an Schulen viel öfter zu Streit mit Eltern. Warum?
Der grösste Teil der Eltern sind in meinen Augen kritische Freunde der Schule: Sie schauen genau hin, kritisieren auch mal, bleiben aber immer konstruktiv. Die Probleme kommen von anderer Seite. Es gibt Väter und Mütter, denen ist die schulische Leistung ihrer Kinder vollkommen egal. Sie erscheinen an keinem Elternabend und müssen mit Bussen daran erinnert werden, ein Zeugnis zu unterschreiben. Und dann gibt es die Helikopter-Eltern, die ihre Kinder ständig begleiten. Wir hätten uns früher geschämt, wenn unsere Eltern mit ans Gymnasium oder gar an die Universität gekommen wären oder wenn sie direkt mit dem Anwalt auftauchten, ohne vorher das Gespräch mit der Lehrperson gesucht zu haben.

Die Probleme können nicht nur bei den Eltern liegen. Auch Väter und Mütter, die nicht zu den Helikopter-Eltern zählen, beklagen, dass man ihnen nicht zuhört.
Ja, das kann es geben. Auch Lehrpersonen sind nicht perfekt. Deshalb fordern wir Lehrer eine unabhängige Ombudsstelle für Eltern. Diese könnte viele Konflikte entschärfen, bevor sie eskalieren.

Ein häufiger Streitpunkt bleiben die Noten. Der Lehrplan 21 legt den Fokus neu auf Kompetenzen. Bleibt die klassische Skala von1bis 6 das beste Bewertungssystem?
Das beste ist es nicht. Es ist unbefriedigend, einen Menschen bloss mit einer Ziffer zu bewerten. Aber wenn wir die Noten tatsächlich abschaffen würden, gäbe dies einen riesigen Aufschrei – vonseiten der Politik, der Wirtschaft und der Eltern. Wie die Zeugnisse aussehen, ist Sache jedes Kantons.

Es gibt Bildungsexperten, die sich für ein Wortzeugnis starkmachen.
Aus der Politik kamen zuletzt eher gegenteilige Signale. Noch immer sehen viele Parteien die Noten als unentbehrlicher Teil des Schulalltags, weil ohne Noten nicht mehr gelernt würde. Konsequent wäre es aber, Noten durch Kompetenzprofile zu ersetzen.

Wie würden die aussehen?
Ähnlich wie es zum Beispiel bei Portfolios für Fremdsprachen gemacht wird. Je nach Leistungsstand würde das Erreichen bestimmter Kompetenzen das Niveau bestimmen. Das ist natürlich viel aufwendiger als eine Ziffernote und benötigt mehr Zeit für die Bewertung jedes Kindes. Und diese Zeit haben wir leider nicht.

Sie sind seit fast 30 Jahren der oberste Lehrer der Schweiz, nicht nur Medien wenden sich an Sie. Was waren die kuriosesten Anfragen?
In der Einführungsphase des Lehrplans 21 rief mich tatsächlich ein grosser Detailhändler an und fragte, welches Schulsortiment er künftig im Laden anbieten solle. Da schüttelte ich nur den Kopf und sagte: «Sorry, aber dafür bin ich nicht zuständig.»

Wann war der öffentliche Druck am stärksten?
Die wohl schlimmsten Reaktionen hatte ich 2006 nach einem Artikel in einer Boulevardzeitung. Mir wurde gebrauchtes Toilettenpapier zugesandt und meine Frau wurde telefonisch beschimpft. Dabei handelte es sich bei der Geschichte um eine Falschmeldung. Mich rief eine Journalistin an und fragte, ob sich muslimische Kinder von einer christlichen Weihnachtsfeier mit Gebeten an einer Schule dispensieren lassen dürfen. Ich verwies auf Artikel 15 der Bundesverfassung: Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder religiösem Unterricht zu folgen.

Warum dann der Aufruhr?
Weil am nächsten Tag zu lesen war: «Adventskränze und Christbäume haben im Klassenzimmer nichts zu suchen», und weil der Titel des Artikels «Weihnachts-Verbot an Schulen?» lautete. Das war schlicht eine Frechheit. Nicht einmal annähernd habe ich etwas in diese Richtung geäussert. Die Reaktionen waren extrem. Später habe ich aber auch den umgekehrten Fall erlebt.

Inwiefern?
Als ich mich für das Fach Ethik und Religionen im Lehrplan 21 einsetzte. Im selben Boulevardblatt wurde ich dann zum Retter des Christentums hochstilisiert. Zudem erhielt ich haufenweise Postkarten und Briefe von Evangelikalen, die mir schrieben, dass sie mich in ihre Gebete einschliessen. Dieser Gegensatz war schon kurios (lacht). Vielleicht schreibe ich eines Tages ein Buch über die vergangenen 30 Jahre.

1 Kommentar:

  1. Wenn Beat Zemp aus seiner Schulpraxis berichtet, widerspricht er sich und beweist selber, dass Intelligenz nicht genetisch bedingt ist, Nachhilfe immer etwas bringt und Roboter im Klassenzimmer ein völliger Unsinn sind:

    "Eine Schülerin wollte mir weismachen, dass es genetisch bedingt sei, dass sie in der Mathematik Probleme hat. Ihre Eltern hätten es schon nicht begriffen, deshalb mache es bei ihr auch keinen Sinn. Aber das stimmte natürlich nicht. Die Kunst eines Lehrers ist es zu spüren, was jeder Schüler braucht und wie man ihm oder ihr helfen kann".

    Wäre er doch bei seinen Leisten geblieben!

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