Er war
Gymnasiallehrer und vertrat jahrzehntelang die Interessen der Schweizer Lehrer.
Beat Zemp erlebte in dieser Zeit unzählige Reformen, neue Unterrichtsmethoden
und wie sich Schüler und Eltern verändert haben. Zum Abschiedsinterview
empfängt der Baselbieter am Hauptsitz des Schweizer Lehrerverbandes in der Nähe
der Zürcher Hardbrücke. Am Eingang prangert der berühmte Satz des verstorbenen
US-Präsidenten John F. Kennedy: «Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als
Bildung: keine Bildung.»
"Künftig werden auch Roboter an Schulen unterrichten", Schweiz am Wochenende, 15.6. von Yannick Nock
Erinnern Sie sich an Ihren ersten Schultag?
Beat
Zemp: Natürlich, das war an einer Primarschule im Oberbaselbiet. Den
Kindergarten gab es damals noch nicht, weshalb Kinder die ersten sechs Jahre zu
Hause verbrachten – bis einen die Mutter dann zur Schule brachte. Ich hatte ein
mulmiges Gefühl, denn mir wurde gesagt, dass jetzt der Ernst des Lebens
beginne.
Waren Sie ein guter Schüler?
Die
gesamte Schulzeit über hatte ich meistens nur Bestnoten. Um mich nicht als
Streber darzustellen, flüsterte mir der Rektor an der Maturafeier 1974 ins Ohr,
dass ich die beste Matur des Jahrgangs gemacht hatte. Das war allerdings nicht
immer hilfreich. Ich hatte zu Beginn Mühe damit, mich in Mitschüler
hineinzuversetzen, wenn sie etwas nicht verstanden hatten.
Was gerade ein Lehrer können sollte.
Ich habe
meinen Klassenkameradinnen am Gymnasium ab und zu Nachhilfe gegeben. Für mich
war das sehr heilsam, so konnte ich sehen, welche Probleme sie hatten. Eine
Kollegin, die in der Mathematik sehr schlecht war, hat dann plötzlich eine 6
geschrieben. Unser Lehrer war total verwirrt (lacht). Das war ein
Schlüsselerlebnis, danach wusste ich, dass der Lehrerberuf eine gute Option für
mich wäre.
Haben Sie Ihren Lehrern auch mal einen Streich
gespielt?
Natürlich,
allerdings waren das damals eher harmlose Streiche. Zum Beispiel haben wir
einem Lehrer einen nassen Schwamm auf den Stuhl gelegt. Das kann man nicht mit
heute vergleichen.
Inwiefern?
Wir
hatten gerade einen Fall in Sursee: Da verglichen Gymnasiasten am letzten Tag
die Schulzeit bei einem Lehrer mit dem Holocaust. Sie würden im Klassenzimmer
quasi in die Gaskammer gesteckt. Über einen anderen Lehrer hiess es, er
verbreite eine tödliche Krankheit. Das ist nicht lustig, sondern üble Nachrede
und Ehrverletzung. Diese Schüler haben nun eine Strafanzeige am Hals.
Streiche sind das eine, wie hat sich die Schule
in den vergangenen 30 Jahren insgesamt verändert?
Extrem
verändert hat sich vor allem die Situation der Schüler zu Hause. Die
Lebenswelten sind sehr unterschiedlich geworden, das ist eine grosse
Herausforderung für Schulen. Die einen wachsen behütet auf, andere werden
vernachlässigt. Einige haben reiche Eltern, während andere nicht mal genügend
Geld für kleine Ausflüge aufbringen können. In einer meiner Maturaklassen
erhielt ein Schüler für seinen Abschluss sogar einen nagelneuen BMW.
Lässt sich schulischer Erfolg kaufen?
Natürlich
können Eltern Nachhilfe kaufen. Allerdings zeigen Studien, dass ein permanentes
Nachhilfedoping kaum etwas bringt. Nachhilfe ist dann sinnvoll, wenn ein Kind längere
Zeit gefehlt oder in einem bestimmten Fach eine Teilschwäche hat. Aber über
Jahre und sämtliche Schulstufen hinweg, systematisch Nachhilfe in Anspruch zu
nehmen, bringt nichts. Irgendwann kommt der Moment, an dem die Intelligenz
einfach nicht mehr reicht, um die gestellten Aufgaben zu meistern.
Wo haben Schweizer Schulen selbst
Nachholbedarf?
Unser
Bildungswesen hat zwei grosse Schwächen: Die Frühförderung vor dem
Schuleintritt wird vernachlässigt und daher ist die Chancengerechtigkeit alles
andere als gut. Im Alter von 0 bis 4 Jahren machen wir viel zu wenig. Einige
Kantone wie Basel-Stadt bemühen sich jetzt zwar, Kinder mit ungenügenden
Sprachkentnissen zu fördern, damit die Unterschiede später nicht zu gross sind.
Doch das ist längst nicht in allen Kantonen der Fall.
Das müssten die Schulen doch ausgleichen
können.
Leider
nicht bei allen. Oftmals lassen sich die Lücken nicht mehr schliessen. Je nach
Familie und Erziehung sind die Kinder unterschiedlich weit. Wer seinen
Nachwuchs die ersten Jahre einfach vor den Fernseher setzt, begeht einen
grossen Fehler.
Trotzdem bleibt ein guter Lehrer entscheidend
für den schulischen Erfolg. Was haben Lehrer früher besser gemacht als heute?
Früher
war längst nicht alles besser. Heute holen sich gute Lehrpersonen Feedback von
anderen Lehrkräften und den Lernenden selbst, um sich weiter zu verbessern.
Denn es gibt immer Dinge, die man selbst nicht sieht.
Was war Ihr blinder Fleck?
Wie
gesagt war es für mich am Anfang schwierig, die Sichtweise von schwachen
Schülern einzunehmen, da ich in meiner eigenen Schulzeit solche Probleme nicht
kannte. Mir war es ein Rätsel, warum man einfache mathematische Zusammenhänge
nicht begreifen konnte. Aber solche Blockaden lassen sich lösen, wie ich heute
weiss.
Wie zeigen sich diese Blockaden?
Eine
Schülerin wollte mir weismachen, dass es genetisch bedingt sei, dass sie in der
Mathematik Probleme hat. Ihre Eltern hätten es schon nicht begriffen, deshalb
mache es bei ihr auch keinen Sinn. Aber das stimmte natürlich nicht. Die Kunst
eines Lehrers ist es zu spüren, was jeder Schüler braucht und wie man ihm oder
ihr helfen kann.
Sie halten seit Jahrzehnten den Lehrerberuf
hoch. Trotzdem gelingt es nicht, mehr junge Menschen für den Job im
Klassenzimmer zu begeistern. Dabei ist es ein krisenfester Beruf. Was läuft
schief?
Wenn man
den Zukunftsforschern am World Economic Forum zuhört, dann soll vor allem der
Primarlehrerjob krisenfest sein. Allerdings ist es schwierig, vorherzusagen,
wie sich der Beruf durch die Digitalisierung verändern wird. Es kommen bereits
heute digitale Lernhilfen zum Einsatz. Ich bin überzeugt, dass es an den
Schulen eines Tages Roboter im Klassenzimmer geben wird, die den Lehrpersonen
beim Unterrichten helfen. In Südkorea gibt es bereits Roboter-Tutoren, die
Englisch unterrichten.
Klingt futuristisch.
Nicht nur
Lehrer, auch Schüler dürften von Robotern profitieren. Bereits heute können
Kinder vom Spital aus mithilfe eines Roboter-Avatars am Unterricht teilnehmen,
wenn sie längere Zeit verhindert sind. Sie können die Roboter mithilfe eines
iPads steuern und verpassen dadurch nichts. So hört und sieht das Kind alles
und bleibt Teil der sozialen Gruppe, bis es wieder gesund ist.
Noch lässt sich der Lehrermangel allerdings
nicht digital beheben.
Das
stimmt. Der Lehrermangel hat aber nichts mit sinkendem Interesse am Beruf zu
tun. Die Ursache liegt einerseits in den steigenden Schülerzahlen, andererseits
gehen die Babyboomer in Pension. Ich gehöre ja selbst dieser Generation an.
Einige Kantone versuchen, mit mehr Lohn dem
Mangel entgegenzuwirken. Welche Rolle spielt das Gehalt, gerade bei jungen
Lehrern?
Das
spielt schon eine Rolle. In Zürich hat man reagiert und zahlt für junge
Primarlehrpersonen mit 92000 Franken jährlich gute Einstiegslöhne. In anderen
Kantonen wie Graubünden ist er mit 72000 Franken schlicht zu tief. Zudem
sollten auch Primarlehrpersonen künftig einen Masterabschluss haben.
Diesbezüglich sind wir das Schlusslicht in Europa. Es gibt kein anderes Land,
wo eine Lehrperson bereits nach drei Jahren Ausbildung vor eine Primarklasse
treten kann und sämtliche Fächer unterrichten darf.
Gerade Primarlehrer arbeiten oft Teilzeit. Um
den Mangel zu beheben, könnten Mindestpensen eingeführt werden. Eine gute Idee?
Nein, das
würde alles nur noch schlimmer machen. Wenn Lehrerinnen gezwungen werden,
mindestens in einem 50-Prozent-Pensum zu arbeiten, werden viele den Beruf
verlassen, weil sie zu Beginn der Kinderphase weniger unterrichten wollen,
dafür aber später das Pensum wieder aufstocken.
Genf praktiziert quasi ein Teilzeitverbot, fast
alle Lehrer arbeiten Vollzeit. Dort herrscht kein Mangel.
Genf
zahlt die besten Löhne der Schweiz. Ausserdem gibt es wegen der Grenzgänger ein
grosses Reservoir an Lehrpersonen aus Frankreich. Dann kann man solche
Bedingungen vorschreiben. Aber stellen Sie sich eine solche Regelung in Bern
vor, wo auf manche Ausschreibungen eine einzige Bewerbung eingeht. Wenn dann
noch ein bestimmtes Pflichtpensum vorgeschrieben wird, finden sie gar keine
Lehrer mehr.
Heute kommt es an Schulen viel öfter zu Streit
mit Eltern. Warum?
Der
grösste Teil der Eltern sind in meinen Augen kritische Freunde der Schule: Sie
schauen genau hin, kritisieren auch mal, bleiben aber immer konstruktiv. Die
Probleme kommen von anderer Seite. Es gibt Väter und Mütter, denen ist die
schulische Leistung ihrer Kinder vollkommen egal. Sie erscheinen an keinem
Elternabend und müssen mit Bussen daran erinnert werden, ein Zeugnis zu
unterschreiben. Und dann gibt es die Helikopter-Eltern, die ihre Kinder ständig
begleiten. Wir hätten uns früher geschämt, wenn unsere Eltern mit ans Gymnasium
oder gar an die Universität gekommen wären oder wenn sie direkt mit dem Anwalt
auftauchten, ohne vorher das Gespräch mit der Lehrperson gesucht zu haben.
Die Probleme können nicht nur bei den Eltern
liegen. Auch Väter und Mütter, die nicht zu den Helikopter-Eltern zählen,
beklagen, dass man ihnen nicht zuhört.
Ja, das
kann es geben. Auch Lehrpersonen sind nicht perfekt. Deshalb fordern wir Lehrer
eine unabhängige Ombudsstelle für Eltern. Diese könnte viele Konflikte
entschärfen, bevor sie eskalieren.
Ein häufiger Streitpunkt bleiben die Noten. Der
Lehrplan 21 legt den Fokus neu auf Kompetenzen. Bleibt die klassische Skala
von1bis 6 das beste Bewertungssystem?
Das beste
ist es nicht. Es ist unbefriedigend, einen Menschen bloss mit einer Ziffer zu
bewerten. Aber wenn wir die Noten tatsächlich abschaffen würden, gäbe dies
einen riesigen Aufschrei – vonseiten der Politik, der Wirtschaft und der
Eltern. Wie die Zeugnisse aussehen, ist Sache jedes Kantons.
Es gibt Bildungsexperten, die sich für ein
Wortzeugnis starkmachen.
Aus der
Politik kamen zuletzt eher gegenteilige Signale. Noch immer sehen viele
Parteien die Noten als unentbehrlicher Teil des Schulalltags, weil ohne Noten
nicht mehr gelernt würde. Konsequent wäre es aber, Noten durch Kompetenzprofile
zu ersetzen.
Wie würden die aussehen?
Ähnlich
wie es zum Beispiel bei Portfolios für Fremdsprachen gemacht wird. Je nach
Leistungsstand würde das Erreichen bestimmter Kompetenzen das Niveau bestimmen.
Das ist natürlich viel aufwendiger als eine Ziffernote und benötigt mehr Zeit
für die Bewertung jedes Kindes. Und diese Zeit haben wir leider nicht.
Sie sind seit fast 30 Jahren der oberste Lehrer
der Schweiz, nicht nur Medien wenden sich an Sie. Was waren die kuriosesten
Anfragen?
In der
Einführungsphase des Lehrplans 21 rief mich tatsächlich ein grosser
Detailhändler an und fragte, welches Schulsortiment er künftig im Laden
anbieten solle. Da schüttelte ich nur den Kopf und sagte: «Sorry, aber dafür
bin ich nicht zuständig.»
Wann war der öffentliche Druck am stärksten?
Die wohl
schlimmsten Reaktionen hatte ich 2006 nach einem Artikel in einer
Boulevardzeitung. Mir wurde gebrauchtes Toilettenpapier zugesandt und meine
Frau wurde telefonisch beschimpft. Dabei handelte es sich bei der Geschichte um
eine Falschmeldung. Mich rief eine Journalistin an und fragte, ob sich
muslimische Kinder von einer christlichen Weihnachtsfeier mit Gebeten an einer
Schule dispensieren lassen dürfen. Ich verwies auf Artikel 15 der
Bundesverfassung: Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft
beizutreten oder religiösem Unterricht zu folgen.
Warum dann der Aufruhr?
Weil am
nächsten Tag zu lesen war: «Adventskränze und Christbäume haben im
Klassenzimmer nichts zu suchen», und weil der Titel des Artikels «Weihnachts-Verbot
an Schulen?» lautete. Das war schlicht eine Frechheit. Nicht einmal annähernd
habe ich etwas in diese Richtung geäussert. Die Reaktionen waren extrem. Später
habe ich aber auch den umgekehrten Fall erlebt.
Inwiefern?
Als ich
mich für das Fach Ethik und Religionen im Lehrplan 21 einsetzte. Im selben
Boulevardblatt wurde ich dann zum Retter des Christentums hochstilisiert. Zudem
erhielt ich haufenweise Postkarten und Briefe von Evangelikalen, die mir
schrieben, dass sie mich in ihre Gebete einschliessen. Dieser Gegensatz war
schon kurios (lacht). Vielleicht schreibe ich eines Tages ein Buch über die
vergangenen 30 Jahre.
Wenn Beat Zemp aus seiner Schulpraxis berichtet, widerspricht er sich und beweist selber, dass Intelligenz nicht genetisch bedingt ist, Nachhilfe immer etwas bringt und Roboter im Klassenzimmer ein völliger Unsinn sind:
AntwortenLöschen"Eine Schülerin wollte mir weismachen, dass es genetisch bedingt sei, dass sie in der Mathematik Probleme hat. Ihre Eltern hätten es schon nicht begriffen, deshalb mache es bei ihr auch keinen Sinn. Aber das stimmte natürlich nicht. Die Kunst eines Lehrers ist es zu spüren, was jeder Schüler braucht und wie man ihm oder ihr helfen kann".
Wäre er doch bei seinen Leisten geblieben!