Sind
junge Männer unreifer als junge Frauen? Zieht man die gymnasiale
Maturitätsquote, Inbegriff des Reifebeweises, als Beurteilungsgrösse heran,
scheint der Fall klar. – Beginnen wir aber am Anfang: Jedes Jahr hoffen
Tausende Schüler – und mit ihnen deren Eltern –, den Sprung ins Gymnasium zu
schaffen. Mehr als die Hälfte aller Kantone kennen im Regelfall keine
Aufnahmeprüfung. Im Kanton Zug beispielsweise genügen Empfehlungen, die von
Klassenlehrpersonen und Eltern gemeinsam getroffen werden. Und nicht in allen
Kantonen sind die Chancen gleich gross, einen allgemeinbildenden Abschluss zu
erlangen. Im Tessin, in Genf oder Basel-Stadt liegt die Quote bei über 30
Prozent, in den Kantonen Ob- und Nidwalden oder Glarus hingegen bei nur 16
Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, eine allgemeinbildende Ausbildung zu
absolvieren, ist bei den erstgenannten Kantonen damit beinahe doppelt so hoch.
Maturitätsquote: Mädchen verdrängen Knaben, NZZ, 7.5. von Matthias Ammann
Feminisierung der Bildung
Die
Chancen unterscheiden sich aber nicht nur durch den Wohnort, sondern auch durch
das Geschlecht. Vor 1990 besuchten noch mehr Jungen als Mädchen ein Gymnasium.
Inzwischen haben die Mädchen nicht nur zu den Knaben aufgeschlossen, sondern
sie sogar weit hinter sich gelassen. Die Differenz war noch nie so gross wie
heute: 7,6 Prozentpunkte. Während der Anteil Gymnasiasten seit über 20 Jahren
konstant bei 16 Prozent (+/–1 Prozentpunkt) verharrt, ist die Quote der Mädchen
auf über 25 Prozent angewachsen. Der Anstieg der gymnasialen Maturitätsquote
ist daher hauptsächlich auf das Mehr der jungen Frauen zurückzuführen.
Inzwischen beträgt der Anteil Mädchen in den Gymnasialklassen im Schweizer
Durchschnitt fast 57 Prozent. Mit der Folge, dass es mittlerweile eine
stattliche Anzahl reiner Mädchenklassen gibt.
Zwar
schliessen auch in den meisten OECD-Ländern häufiger Mädchen als Knaben eine
allgemeinbildende Schule ab, die Schweiz liegt jedoch über dem Mittel. In den
Niederlanden beträgt der Durchschnitt 52 Prozent, in Kanada, Australien oder
Neuseeland 51 Prozent. Gewiss, viele OECD-Länder kennen kein duales Bildungssystem,
wie es in der Schweiz fest verankert ist. Das heisst, es mangelt an attraktiven
Alternativen. Denn Fähigkeiten und Präferenzen können bei Mädchen und Knaben
anders gelagert sein. Aber auch in Deutschland oder Dänemark, die ebenfalls auf
ein duales System bauen, liegt der Anteil allgemeinbildender Abschlüsse der
Knaben näher bei den Mädchen als in der Schweiz. Die Unterschiede müssen also
nicht zwangsläufig so ausgeprägt sein.
Eine
Trendwende zeichnet sich nicht ab. Aus der Forschung weiss man, dass beide
Geschlechter mit vergleichbaren Kompetenzen ausgestattet sind. Die
Voraussetzungen, um eine allgemeinbildende Schulkarriere zu absolvieren, sind
somit nahezu deckungsgleich. Länger schon ist aber bekannt, dass Knaben in der
Schule tendenziell schlechter abschneiden. Beispielsweise zeigt sich das in der
höheren Schulabbrecherquote von Jungen auf Sekundarstufe II. Prominente
Jugendpsychologen verweisen auf die «Feminisierung» der Schule: In der Tat sind
über 82 Prozent aller Lehrpersonen auf Primarstufe Lehrerinnen.
Bildungsexperten identifizieren jedoch keine negativen Effekte, die vom
Überhang an Lehrerinnen ausgehen. Offenbar benachteiligen Lehrerinnen Knaben
nicht.
Hintergründe der Selektion
In
Zeiten, in denen Geschlechterquoten in Kaderfunktionen gefordert werden,
sollten die Entwicklungen in den Schulen nicht aus dem Blick verloren werden.
Denn – so viel ist sicher – die Bildungszukunft gehört laut Statistiken den
Mädchen. Wir dürfen gespannt sein, ob sich die am Gymnasium erworbenen
Fähigkeiten der vielen jungen Frauen im Erwerbsleben auswirken werden, etwa in
einem höheren Anteil an weiblichen Führungspersonen.
Die
Forderung nach mehr Rollenbildern für Frauen in der Wirtschaft ist angesichts
des kleinen Anteils von weiblichen Führungskräften in den Geschäftsleitungen nachvollziehbar. Mit gleicher Aufmerksamkeit
muss man sich aber auch um die gerechte Förderung der Schüler kümmern, ohne
gleich eine Knabenquote fürs Gymnasium zu fordern. Quoten sind selten eine gute
Lösung, da sie beim Symptom ansetzen. Vielmehr muss die Ursache des
Ungleichgewichts analysiert werden. So bleibt etwa zu klären, ob und allenfalls
inwiefern der Zeitpunkt des Übertritts und das Aufnahmeverfahren einen Einfluss
auf die Selektion haben und wie das Gymnasium für junge Männer attraktiver
gestaltet werden könnte. Möglicherweise ist eine Aufnahmeprüfung in der
6. Klasse für Knaben zu früh angesetzt, weil sich Mädchen und Buben in diesem
Alter unterschiedlich schnell entwickeln. Es gilt zu untersuchen, welche
pädagogischen Lehren man aus den verschiedenen Maturitätsquoten von Knaben und
Mädchen ziehen muss.
Matthias
Ammann analysiert als Fellow bei Avenir Suisse unter anderem Bildungsthemen.
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