14. April 2019

Zweierlei Gerechtigkeit


Es erstaunt schon, dass selbst der schweizerische Wissenschaftsrat aus dem arg strapazierten Begriff der Chancengleichheit die Forderung ableitet, man müsste die Kinder möglichst früh schon darauf vorbereiten, dass sie bei Schuleintritt alle die gleichen Startchancen hätten. Mit Recht stellt sich Walter Herzog dieFrage, ob Gleichheit überhaupt ein relevantes Kriterium für Gerechtigkeit sei(NZZ 29. 3. 19). Es gibt sehr wohl das Gerechtigkeitsprinzip «jedem das Gleiche». Die Kinder achten sehr darauf, ob zum Beispiel eine Torte in gleich grosse Stücke geteilt wird. Sie haben ein feines Gespür, ob ein Lehrer allen Schülern gleich viel Aufmerksamkeit schenkt und niemanden bevorzugt. Wird dieses Prinzip aber derart umgesetzt, dass möglichst früh auf Förderung und Beschulung gesetzt wird, was dann bald einmal einer Abrichtung entspricht, dann ist dieses Prinzip verfehlt. Gerechtigkeit auf höherer Stufe – und das müssen Kinder und zuweilen auch noch Erwachsene erst lernen – bedeutet nämlich: jedem das Seine. Weil die individuellen Unterschiede hinsichtlich Begabung, Entwicklungsstand und milieubedingter Voraussetzungen bei Kindern gross sind, ist es gerechter, wenn nicht alle über den gleichen Kamm geschert werden, sondern auf ihre besondere Situation eingegangen wird. Wohin das Prinzip «jedem das Gleiche» führt und schon geführt hat, können wir unschwer erkennen, seit Kinder allzu früh eingeschult werden oder massiv überforderte Schüler zu spät oder überhaupt nicht einen ihren Voraussetzungen gemässen, differenzierten Unterricht erhalten.
NZZ, 10.4. Leserbrief von Peter Schmid

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