Lernen? Gerne. Aber muss der Schulstress sein? Das
fragen sich viele Eltern – und schicken ihren Nachwuchs an Privatschulen. Die
Zahl hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Die Flucht aus der Volksschule: Viele Eltern suchen für die Kinder nach Alternativen, Aargauer Zeitung, 9.4. von Caren Battaglia
Blöd. Reich. Oder beides. Das sind die drei grob
geschreinerten Schubladen, in die Schüler von Privatschulen gern gesteckt
werden. Doch es sieht so aus, als wären die Schubladen bald ein Fall für den
Sperrmüll: Alternative Schulen sind gefragt wie nie. Im Vergleich zum Jahr 2011
hat, laut Bundesamt für Statistik, die Zahl der Privatschüler auf
Primarstufenniveau um 30 Prozent zugenommen. Pädagogische Projekte spriessen
aus dem Boden wie Primeln im Frühjahr. Allein im Kanton Zürich besuchen derzeit
1047 Kinder eine alternative Schule. Über die Gründe und die Rolle der Expats
kann man mutmassen. Sicher aber ist, dass eine neue Gruppe von Eltern sich für
eine Schule in privater Trägerschaft entscheidet: Mittelschichteltern mit
Bauchschmerzen.
Denn was diesen jungen Müttern und Vätern im Magen
liegt, ist weniger die Angst, ihr Kind könnte die Schule nicht schaffen, als
vielmehr die Angst, die Schule könnte ihr Kind schaffen. Liest man nicht
täglich von Kindern mit Burnout? Von Klassen ausser Rand und Band, in denen
Ellenbögeln-Lernen dringlicher ist als das Einmaleins? Muss das schon in der
Primarschule sein, dieses Benoten, Bewerten und Rundschleifen, bis das Kind
hineinpasst in diese Schablone, die Erfolg verspricht? Und – Hilfe! – was ist,
wenn das eigene Kind sich dabei verhakt? Gilt dann: Was nicht passt, wird
passend gemacht?
Sandra Holthaus (Name geändert) jedenfalls hat sich
vor ihrem perfekt eingefügten Kind erschreckt. Ihre Tochter Mia geht seit einem
Jahr in die öffentliche Schule. Die Achtjährige ist gut. Sie ist fleissig. Sie
ist gewissenhaft. Kein Problem. «Doch beim ersten Elternbesuchstag hats mich
richtig ‹tschudderet›. Mein lustiges Mädchen sass da wie ferngesteuert. Mit teilnahmslosem
Blick. Und hat einfach nur getan, was sie sollte.» Gruselig, findet die
Praxisassistentin Sandra Holthaus und hat Mia für das nächste Schuljahr an der
Wetzikoner «Schule für Kinder» angemeldet. Ein privates Schulprojekt im Aufbau,
für das Schulleiterin Andrea Büsser derzeit nach passenden Räumlichkeiten sucht
und Lernen in Freiheit verspricht.
Das Risiko des Ungewissen geht die Familie Holthaus
ein. Besser ein Wagnis als ein blutleeres Kind. Vielleicht sind diese Sorgen
übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die amerikanische
Psychologin Sarah Engel etwa hat in einer Untersuchung festgestellt, dass
kindliche Neugierde proportional zur Anzahl der Schuljahre abnimmt: Stellten
Kinder im ersten Schuljahr noch etwa 20 Fragen im Laufe einer Schulstunde – an
wen auch immer –, war es in der 5. Klasse noch eine einzige. Höchstens. Dabei
ist Neugier die erogene Zone der Bildung; sie ist es – mehr noch als
Intelligenz – die über Schulerfolg entscheidet. Wenn es stimmt, was die Uni
Oxford analysiert hat, nämlich dass schon in wenigen Jahren von 700
untersuchten Berufsfeldern die Hälfte wegfallen oder sich bis zur
Unkenntlichkeit verändern wird, dann ist Kreuzworträtsel-Wissen sinnlos, sind
kreative Frager, Quer- und Neudenker wichtig. Nicht angepasste Fleissbienchen.
Auch Alexander Horrolt hat seine Tochter aus der
normalen Sek genommen und in die Rudolf-Steiner-Schule Sihlau geschickt. Ein
Problemkind hat auch er nicht. «Emily möchte die Matura machen, aber das ganze
Trara, das ums Gymi gemacht wird, mit Vorbereitungskursen, Aufnahmeprüfungen,
Nachhilfe, Tränen … Meine Güte, es geht doch nicht um eine Bewerbung für
Harvard! Ne, darauf hatten wir keine Lust.» In der Steiner-Schule, hofft der
Vater, könne Emily ihrem Ziel kindgerechter, individueller näherkommen.
Angela Jörg (44) hat deshalb gleich eine eigene
Schule gegründet. In der Dandelion im Zürcher Freilager-Quartier soll es den
Schülern nicht ergehen, wie es ihrem Ältesten erging. «Schon im Kindergarten
war er eigen, wollte lieber beobachten als mitmachen. Aber er durfte nicht
sein, wie er war.» In der Dandelion soll es deshalb anders laufen. Schulhund
Wilma schnüffelt durch die Gänge. Keine Lust aufs Mathe-Arbeitsblatt? Okay.
Vielleicht ist mündlich ja mehr Lust da. Kein Druck, keine Hausaufgaben, keine
Noten. Höchstens auf Wunsch.
Jedes Wort davon Musik im Ohr besorgter Eltern.
Dafür zahlen sie bis zur 5. Klasse 1850 Franken Schulgeld pro Monat, in der 6.
Klasse 2050 Franken.
Das kann nicht jeder. Schweizweit gehen etwa 6
Prozent der Kinder auf eine private Schule. Im Kanton Aargau ist es 1 Prozent.
In Zürich liegt die Zahl stabil bei 7 Prozent. In Zumikon, gelegen an der
«Goldküste» des Zürichsees, besucht jedes dritte Kind eine private Schule und
im Steuerparadies Höfe in Schwyz ist es jedes vierte. Die Möglichkeit
mitzubestimmen, dem eigenen elterlichen Unbehagen abzuhelfen und Dämmmaterial
zwischen das Kind und die raue Welt zu schieben, bestimmt nicht allein der
Wille, sondern auch der Verdienst. Drei Viertel aller Privatschüler, so
zumindest eine deutsche Erhebung, kommen deshalb nach wie vor aus bildungsnahen
Schichten, damit vielleicht nicht aus reichen Elternhäusern, aber mindestens
nicht aus armen.
Schwyzer Volksschüler besser
Doch lohnt sich der Tausch Bildung gegen Bares
überhaupt? Sind die Privaten wirklich besser als die öffentliche Volksschule?
Nein. Zumindest nicht, soweit sich das
quantifizieren lässt. Vor drei Jahren liess der Erziehungsrat des Kantons
Schwyz die Leistungen der öffentlichen und privaten Schülerschaften
vergleichen. Ergebnis: Durchgängig schnitten die privaten schlechter ab. Am
auffälligsten die Schüler der 8. Klassen. Dort erzielten die Privaten in einem
Mathetest durchschnittlich 450 Punkte, die Schüler der öffentlichen Sek 571
Punkte. In Französisch hinkten die Privatschüler noch deutlicher hinterher.
Mehr als eine Momentaufnahme einer umgrenzten
Region ist das Ergebnis vermutlich nicht. In einer Analyse des deutschen
Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen waren die Neuntklässler von
Schulen in freier Trägerschaft denen in staatlichen Schulen in den Fächern
Englisch, Mathe und Deutsch um ein halbes Schuljahr voraus. Rechnete man jedoch
die soziale Herkunft der Eltern heraus, schmolz der Vorsprung weg. Hier lautet
der Endstand privat gegen öffentlich: unentschieden.
Volksschul-Bashing unnötig
Das ist die messbare kalte Leistungsseite. Doch
ebendiese ist es ja häufig, die Eltern den Exodus von der Volksschule anstreben
lässt. Von den privaten erhoffen sie sich Tieferes. Menschliches. Seelisches.
Möglicherweise ist die Sichtweise etwas holzschnittartig: hier die angeblich
fantasie- und empathielose Volksschule, dort die kreative, kindgerechte private
Schule. Aber diese Sichtweise macht es leichter, vor sich selbst und anderen
Ausgaben für Unterricht von vielleicht 20'000 Franken pro Jahr zu
rechtfertigen.
Peter Metz, Mitglied der Schulleitung an der
Rudolf-Steiner-Schule Sihlau, muss über so viel Idealismus manchmal schmunzeln.
Auch am Volksschul-Bashing mag er sich nicht beteiligen. Die eine allein
seligmachende Schule, die für alle Kinder perfekt passe, die sei doch eine
Illusion. «Es könnte sogar sein», lacht er, «dass ein extrem kognitiv
ausgerichtetes, ehrgeiziges Kind unter all unseren vielen wunderschönen Fächern
hier leiden würde.» Vielfalt dagegen, damit jeder etwas Passendes findet, das
wäre gut. Und doch gibt es etwas, das er verallgemeinern würde: «Für Kinder
sollte die Welt schön sein.» Ein bisschen rosarot. Denn nur wer sich geborgen
fühle, könne das Selbstbewusstsein entwickeln, die weniger rosarote Realität zu
ändern, wenn sie ihm nicht passe.
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