Die Zeiten des
Frontalunterrichts sollen bald der Vergangenheit angehören. Zumindest, wenn es
nach dem Willen vieler Bildungsminister geht. In den Industrienationen werden
Milliarden in die Digitalisierung von Bildung gesteckt. In den Niederlanden
sorgten die «Steve-Jobs-Schulen» für Aufsehen, wo Schüler statt mit Büchern mit
dem iPad lernen. Google hat in den USA in den vergangenen Jahren heimlich das
Klassenzimmer erobert – mit Low-Cost-Laptops wie dem Chromebook, das auf
Googles Betriebssystem läuft. Apple unterstützt weltweit 400
Bildungseinrichtungen, sogenannte «Apple Distinguished Schools», mit digitalen
Lerntechnologien.
Bildschirmfrei ist das neue Bio: Warum die Programmierer im Silicon Valley ihre Kinder computerfrei erziehen, St. Galler Tagblatt, 2.4. von Adrian Lobe
Doch ausgerechnet im
Silicon Valley, wo die digitalen Lernwerkzeuge entwickelt werden und die
Bildungsrevolution ausgerufen wird, findet nun ein Umdenken statt. Mitarbeiter
grosser Tech-Konzerne wie Google, Apple und Yahoo schicken ihre Kinder vermehrt
an Schulen, die auf eine technologiefreie Lernumgebung setzen.
Waldorf-Schulen erleben im
Silicon Valley gerade einen Boom. Die Canterbury Christian School in Los Altos
kann sich vor Anmeldungen kaum retten – nicht wegen der Bibelverse, die dort
jeden Morgen zitiert werden, sondern weil Laptops, Tablets und Smartphones aus
dem Klassenzimmer verbannt werden. Die Programmierer und Unternehmer haben die
Sorge, dass digitale Technologien die Konzentrationsfähigkeit und Entwicklung
ihrer Kinder nachhaltig beeinträchtigen.
Bill Gates' Töchter bekamen erst mit 14 ein
Handy
Der ehemalige
Google-Ingenieur Tristan Harris warnt mit seiner Bewegung «Time Well Spent» vor
den Suchtgefahren von Smartphone-Apps. Die Apps seien so designt, dass sie mit
Belohnungsmechanismen an den Dopamin-Rezeptoren im Gehirn andocken und abhängig
machen. Der Psychiater und Bildungsforscher Manfred Spitzer vertritt diese
These schon seit Jahren.
Die neue Low-Tech-Bewegung
im Silicon Valley kann sich auf durchaus prominente Vorreiter berufen.
Microsoft-Gründer Bill Gates und Apple-Gründer Steve Jobs erzogen ihre Kinder
technikfrei – zumindest, was die Nutzung von High-Tech-Geräten betraf. Die Töchter
von Bill und Melinda Gates bekamen ihr erstes Handy erst im Alter von 14
Jahren.
Steve Jobs verbot seinen
Kindern sogar, das neue iPad zu nutzen. «Wir setzen eine Grenze, wie viel
Technologie unsere Kinder zu Hause nutzen», sagte der 2011 verstorbene Apple-Gründer
in einem seiner letzten Interviews der «New York Times».
Mediennutzung hängt vom Einkommen ab
Für eine zeitliche
Begrenzung mobiler Endgeräte sprechen triftige Gründe: das blaue
Bildschirmlicht, das die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin hemmt.
Schäden für die Augen. Ablenkungsgefahr. Konzentrationsdefizite. Doch wenn ein
Konzern ein Produkt an Schulen als Lernwerkzeug vermarktet, dessen Nutzung der
Unternehmensgründer seinen eigenen Kindern verbietet – ist das nicht
unglaubwürdig?
Was die digitalen
Technologien mit den Köpfen der Kinder machen, wird erst erforscht. Was sie mit
der Gesellschaft machen, zeichnet sich dagegen schon ab. Laut einer Studie von
Common Sense Media verbringen Teenager aus einkommensschwachen Familien in den
USA durchschnittlich gut acht Stunden am Tag an Bildschirmen zur Unterhaltung,
Jugendliche aus wohlhabenden Familien dagegen nur beinahe sechs Stunden.
Das
Mediennutzungsverhalten hängt also stark vom Einkommen der Eltern ab.
Alternative (analoge) Beschäftigungen wie Klavierunterricht oder ein
Sportverein muss man sich leisten können.
Reiche gehen in analoge Privatschulen
Der Politikwissenschafter
Andre Wilkens beschrieb schon 2015 im Buch «Analog ist das neue Bio» die
Herausbildung einer neuen «Digitalen Schere» zwischen denen, die es sich
leisten können, nicht immer digital zu sein und den anderen. Damit bekommt die
Digitalisierung eine soziale Dimension – obwohl das Bildungsversprechen ja
immer lautet, dass alle Menschen angeschlossen und ermächtigt werden.
Die Zukunft könnte in den
USA so aussehen, dass die Kinder der Google- und Facebook-Entwickler auf
(analoge) Privatschulen gehen, während das digitale Prekariat Online-Kurse
belegt. Es ist also nicht damit getan, jedem Schüler ein iPad an die Hand zu
geben, um Ungleichheiten in der Gesellschaft zu beseitigen.
Die Steve-Jobs-Schulen in
den Niederlanden, die mal als Vorbild für das digitale Klassenzimmer
herangezogen wurden, gelten heute als gescheitert.
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