Der vierjährige Bub, nennen wir ihn Philipp, fiel schon am ersten Tag
auf. Dass er Anweisungen ignorierte und trötzelte, wäre noch verkraftbar
gewesen, sagt die Kindergärtnerin, die in einem Zürcher Aussenquartier
arbeitet. Aber dabei blieb es nicht.
Der kleine Raufbold zettelte immer wieder Streit an, provozierte die
anderen Kindergärtler, zerstörte mutwillig ihre Zeichnungen und Bastelarbeiten.
Jedes fünfte Kind stört den Unterricht, Sonntagszeitung, 28.4. von Nadja Pastega und Sylvain Besson
Dann kam der Tag, an dem Philipp zum ersten Mal so richtig ausrastete.
Er demolierte Spielsachen und schlug andere Kinder. Die Kindergärtnerin
weigerte sich, den Bub auch im zweiten Kindergartenjahr zu unterrichten.
Schliesslich wurde der rabiate Störenfried versetzt – in einen kleineren
Kindergarten, wo er, wie es hiess, «intensiver» betreut werden könne.
Schüler wie Philipp gibt es in jedem Schulhaus. Sie sind renitent,
werfen Mobiliar durch das Klassenzimmer, beschimpfen Lehrer und Mitschüler.
Andere sind weniger auffällig, sie stören den Unterricht aber auch, etwa durch
Zwischenrufe und Umherlaufen. Überall kämpfen Schulen in der Schweiz mit
Unruhestiftern im Klassenzimmer.
Etwa ein Fünftel der Kinder ist schwierig zu unterrichten
Wie viele dieser verhaltensauffälligen Schülern die Schulbank drücken,
war bislang unbekannt. Jetzt wurde das erstmals für Zürich und Winterthur
erhoben. Reto Luder, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich, führte
eine Umfrage bei 450 Mitarbeitern an Schulen durch, darunter 250 Klassenlehrer,
die Angaben machten zum Verhalten von 4300 Schülern. Ergebnis: Jeder Fünfte ist
verhaltensauffällig. Konkret: «950 Schüler wurden von den Lehrpersonen als
auffällig eingeschätzt, das entspricht 22 Prozent», sagt Luder.
Ein weiterer Befund: Für 60 Prozent der Klassenlehrer sind
verhaltensauffällige Schüler der grösste Belastungsfaktor. Sie werden als noch
strapaziöser empfunden als Schulreformen und Elterngespräche.
Luder kennt die ganze Bandbreite der verhaltensauffälligen Schüler: «Das
reicht von Unkonzentriertheit über dauerndes Dreinreden im Unterricht bis zu
Extremfällen, in denen Schüler gewalttätig werden.»
Das Problem fängt im Kindergarten an
Bisher vermutete man die Radau-Schüler vor allem auf der Oberstufe. Doch
jetzt zeigen noch unveröffentlichte Zahlen aus dem Bildungsdepartement des
Kantons Genf ein anderes Bild: Die Meldungen von Schulen über «gewalttätiges,
aggressives und obstruktives Verhalten», die zwischen August 2018 und April
2019 eingingen, betrafen häufiger Vierjährige als 13- bis 14-jährige Schüler.
Auch in anderen Kantonen wie Basel-Stadt und Zürich sitzen schon in den
Kindergärten und Primarschulen kleine Radau-Schüler. Bei der Freiwilligen
Schulsynode Basel-Stadt, dem Verband der Basler Lehrer, stellt man eine Zunahme
von Respektlosigkeit gegenüber den Lehrern fest, bei jüngeren Schülern sei das
ein neues Phänomen.
Ähnliches beobachtet Ursina Zindel, Präsidentin des Verbands
Kindergarten Zürich. «Die Kinder sind heute viel Aufmerksamkeit gewohnt. Wenn
sie im Kindergarten plötzlich eine Lehrperson mit 20 anderen Kindern teilen
müssen, sind sie überfordert.» Dann fallen manche Knirpse mit störendem
Verhalten auf. Typische Beispiele: «Die Kinder können kein Nein akzeptieren,
zerstören mutwillig Dinge, wollen die Regeln nicht einhalten und plagen andere
Kinder, verbal und körperlich», sagt Zindel
Das Problem der «digitalen Demenz»
Das Problem fängt im Kindergarten an – und zieht sich dann durch alle
Schulstufen. In Basel meldeten sich gleich mehrere Primarlehrerinnen beim
Rechtsdienst der Schulsynode. Der Grund: Schüler hätten sie beleidigt, getreten
und gebissen.
«Die Zahl der Vorfälle mit verhaltensauffälligen Kindern ist in den
letzten Jahren stark gestiegen», sagt Jean-Michel Héritier, Präsident der
Basler Schulsynode. Er bestätigt den Befund der Zürcher Untersuchung. «Heute
ist bereits etwa ein Fünftel aller Schüler im Kindergarten und in der
Primarschule sehr anspruchsvoll zu unterrichten.»
Die Zunahme habe verschiedene Gründe. Laut Héritier ist sie einerseits
darauf zurückzuführen, dass die Kleinklassen für verhaltensauffällige Schüler
vor acht Jahren aufgehoben wurden, diese Kinder sind seither in normalen
Regelklassen untergebracht. Es liege aber auch daran, sagt Héritier, «dass wir
heute mehr Kinder in der Schule haben, die zu Hause zu wenig betreut sind.»
Das betreffe vor allem bildungsferne Familien. «Man spricht hier von
‹digitaler Demenz›. Diese Kinder verbringen zu viel Zeit vor dem Bildschirm und
zu wenig mit Gleichaltrigen.» Die Folge seien eine geringe Frustrationstoleranz
und Konzentrationsschwächen. «Im Klassenverband sind diese Kinder sozial und
emotional schnell überfordert und reagieren oft aggressiv.»
Die Schule muss sich den Schülern anpassen
Wie viele Mitschüler, Lehrer und Eltern unter Problemschülern leiden,
die den Unterricht lahmlegen, ist zahlenmässig kaum zu erfassen. Einen Hinweis
liefern Zahlen aus dem Kanton Zürich. 2017 erfüllten demnach 5674 Schüler die
normalen schulischen Anforderungen nicht und bekamen sonderpädagogische
Förderung – wegen Lernstörungen, auffälligen Verhaltens oder einer Behinderung.
2940 dieser Schüler waren in normalen Regelklassen untergebracht. Mehr als die
Hälfte.
Als besonders belastend gelten vor allem die Schüler mit «emotionalem
und sozialem» Förderbedarf, wie Verhaltensauffällige im Fachjargon genannt
werden. Lehrer erzählen von Kindern, die den Tag unter dem Pult verbringen,
fluchen, freche Antworten geben, den Unterricht mit nervtötendem Dauergelärm
lahmlegen, ständig quasseln. Oder wegen einer schlechten Note den Stuhl durch
das Zimmer werfen und einfach davonlaufen, wenn ihnen etwas nicht passt.
2004 trat in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft.
Damals gab die Bildungspolitik unter dem Stichwort «Inklusion» ein grosses
Versprechen ab: Alle Kinder, egal, wie verschieden sie sind, sollen im
regulären Schulsystem einen Platz finden – unabhängig von Behinderungen,
psychischen Problemen, Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen. Aber in der
Praxis stösst das Schulsystem an Grenzen: wenn ein Kind besonders grosse
Freiräume und die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrers braucht. Wenn sich eine
Schule den Bedürfnissen des Kindes anpassen müsste – statt umgekehrt.
Eine kleine Zahl von Kindern, stellt man in den Schulämtern fest,
beschäftigte eine grosse Zahl von Erwachsenen.
In der Deutschschweiz sind Verhaltensauffällige längst ein Thema – in
der Westschweiz merken die Behörden erst jetzt, dass die Integration der
kleinen Wutbürger für viele Pädagogen das Problem Nummer eins ist.
Eine kleine Zahl von Kindern, stellt man in den Schulämtern fest,
beschäftigte eine grosse Zahl von Erwachsenen. Verhaltensauffällige Schüler
generieren eine explosionsartige Zunahme von Sitzungen mit den Eltern,
Schulleitern, Psychologen, Logopäden, Schulsozialarbeitern. In Extremfällen
sitzen mehr als 15 Leute am Tisch.
Basel-Stadt greift wieder auf Einführungsklassen zurück
An praxistauglicher Unterstützung mangle es oft, klagen Lehrerverbände.
«Es gibt noch immer viele Schulen, an denen die Lehrer mit solchen Kindern
alleingelassen werden», sagt Héritier von der Basler Schulsynode.
Richten sollen es die Heilpädagogen. Doch davon gibt es viel zu wenige.
Im Kanton Zürich etwa kommt in der Regel eine Heilpädagogin auf acht Klassen.
Bei einem Pensum von 24 Lektionen sind das drei Stunden pro Klasse, in der oft
mehrere Schüler mit besonderem Betreuungsbedarf sitzen.
Im Vergleich zu den Kleinklassen sind die Möglichkeiten einer
Heilpädagogin beschränkt – wenn wieder ein Konflikt ausbricht, ist sie oft
gerade nicht da. Die Kleinklassen, sagen Kritiker, wurden vorwiegend aus
dogmatischen Gründen aufgelöst. Devise: Kein Kind darf ausgegrenzt werden.
Mehr Heilpädagogen, mehr Spezialisten, mehr Sondersettings, mehr Geld –
kann das wirklich die Lösung sein?
Erste Kantone reagieren und gleisen Massnahmen auf, um die Schulen zu
entlasten. In Basel-Stadt soll es künftig wieder Einführungsklassen geben für
Kinder, die noch nicht bereit sind für die Schule. Baselland baut das
Sonderschulangebot aus – und schafft mehr Plätze für verhaltensauffällige
Kinder.
Mitarbeit: Oliver Zihlmann
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