24. März 2019

Geisteswissenschaften unter Druck


In den USA sinkt das Interesse an Studienfächern wie Geschichte, Philosophie und Literatur dramatisch. Institute schliessen, Professoren werden entlassen. Auch in der Schweiz ist die Lage besorgniserregend. Die Folgen sind fatal.
Geschichte fällt heute aus, NzzaS, 17.3. von Felix E. Müller 


Geisteswissenschaften verlieren in den USA an Bedeutung. Institute schliessen, wie hier in Wisconsin. Die Bücher werden zwar in Austin nicht gerade verbrannt, aber mit grossen Lastwagen zu Lagerhäusern in den Vorstädten gekarrt. Dort, wo sich an der University of Texas bisher die reichhaltige Bibliothek der Abteilung für Kunstgeschichte befand, sollen schicke Multimediaräume entstehen. Für die verbleibenden Bücher hat es nun viel weniger Platz.

So wie den Kunsthistorikern an der besten Universität von Texas geht es in den USA Geisteswissenschaftern im ganzen Land. Es herrscht Untergangsstimmung, und das mit guten Gründen. Die Studentenzahlen befinden sich in freiem Fall. In Scharen wenden sich die Studienanfänger von Geschichte, Philosophie, Ethnologie, Soziologie und verwandten sogenannt weichen Fächern ab. Master-Abschlüsse in Geschichte sind in den USA sei 2007 um 45 und solche in Englisch seit Ende der neunziger Jahre um fast 50 Prozent zurückgegangen. Bei den Bachelor-Abschlüssen verzeichneten die Geisteswissenschaften 2014 mit 6,1 Prozent den tiefsten Anteil an der Gesamtmenge seit dem Jahr, in dem man diese Zahl erstmals erhoben hatte – 1948. Dass die Vertreter dieser Fachschaften von einer Krise sprechen, ist mehr als nachvollziehbar.

Kürzlich machte die Universität von Stevens Point in Wisconsin landesweit Schlagzeilen, weil sie die Möglichkeit, einen Master in Geschichte, Philosophie, Spanisch, Deutsch, Französisch und Soziologie zu erwerben, abschaffte. Institutsgebäude werden geschlossen, Professoren entlassen – ein Prozess, den eine Geschichtsstudentin gegenüber der «New York Times» zum ungläubigen Kommentar veranlasste: «Was ist eine Universität ohne Geschichte als Hauptfach?» Es ist das Erstaunen darüber, dass Fächer, die einst im Zentrum der universitären Formung standen, plötzlich irrelevant werden für die höhere Bildung in den USA; in Stevens Point wollte man ursprünglich gar die Möglichkeit, einen Master in Englisch zu erwerben – also in der Landessprache –, eliminieren.

Natürlich gab es schon immer gewisse Zyklen in der Nachfrage nach bestimmten Fächern. Die Präferenz für die Geisteswissenschaften hatte stets die Tendenz, dem Verlauf der Konjunktur zu folgen. In wirtschaftlich schwierigeren Zeiten stieg das Interesse an stärker berufsorientierten Studienrichtungen, während in wirtschaftlich guten Phasen auch die Geisteswissenschaften erblühten. Doch die jetzige Krisenstimmung wird genährt durch die Erkenntnis, dass dieser Mechanismus nicht mehr spielt: Trotz einem bald seit zehn Jahren anhaltenden Wirtschaftsaufschwung, trotz faktischer Vollbeschäftigung gehen die Einschreibungen bei den «Humanities», den Geisteswissenschaften, zurück, während sie bei den Mint-Fächern, Mathematik, Informatik, Technik, Naturwissenschaften, stetig steigen. Es scheint also, dass fundamentalere Kräfte am Werk sein müssen.

In konservativen Kreisen heisst es rasch, die Geisteswissenschaften seien selber schuld an ihrer Misere. Mit exotischen Fächern wie Queer studies, der kritischen Hinterfragung sexueller Identitäten, mit der Obsession für französische postmoderne Philosophen, mit ihrer Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffs hätten sie sich von der Realität des Durchschnittsamerikaners so weit entfernt, dass sie für die Bewältigung eines beruflichen Alltags irrelevant geworden seien. Zudem wirke die wachsende politische Einseitigkeit der Professorenschaft abschreckend auf Studenten. Letztere Kritik trifft einen Nerv: Tatsächlich soll gemäss einer Erhebung das Verhältnis von Demokraten zu Republikanern unter Geschichtsprofessoren 33 zu 1 sein.

Millionen für die Naturwissenschaft
Doch aus dem linken Lager wird diese Argumentation gekontert mit dem Hinweis, der Rückgang der Geisteswissenschaften sei an der von – konservativen – Mormonen dominierten Brigham Young University in Utah ähnlich ausgeprägt wie im Rest des Landes, weshalb der Vorwurf von linken und nutzlosen Bildungsgängen ins Leere ziele. In diesen Kreisen bevorzugt man eine andere Erklärung. In einer Kampfschrift «Not for Profit – Why Democracy needs the Humanities» hat die Philosophin Martha Nussbaum postuliert, die Geisteswissenschaften seien reichen reaktionären Milliardären wie etwa den Gebrüdern Koch zum Opfer gefallen. Diese hätten mit Millionengeschenken Hunderte von Universitäten und Colleges dazu gebracht, Lehrpläne so abzuändern, dass Naturwissenschaften und Ökonomie zulasten der Humanities gefördert wurden. Nehme deren Einfluss ab, verliere die (tendenziell linke) Gesellschaftskritik an Gewicht und Einfluss. Auf diese Weise versuchten die Koch-Brüder, ihre libertäre politische Agenda – tiefe Steuern, Regulierungsabbau, weniger Staat – durchzusetzen.

Nun mögen der linke wie der rechte Erklärungsversuch für die Krise der Geisteswissenschaften nicht gänzlich unbegründet sein. Aber beide treffen die Realität eines 18-Jährigen, der sich für ein Studienfach entscheiden muss, wohl kaum. Dieser wird sich andere, näherliegende Überlegungen machen.

Es fällt nämlich auf, dass der Absturz der Geisteswissenschaften ernsthaft im Jahr 2008 einsetzte (siehe Grafik). Sie sind somit ein weiteres Opfer der Finanzkrise, und zwar gleich in einem doppelten Sinn. Viele Gliedstaaten begannen damals, ihre Bildungsbudgets zu beschneiden. Der finanzielle Druck auf die Universitäten ist heute viel grösser als früher. Wenn etwa Stevens Point vom Staat Wisconsin in den siebziger Jahren noch rund 50 Prozent seines Budgets erhielt und heute gerade noch 17 Prozent, verfügt die Institution über viel weniger Substanz, um an kleineren geisteswissenschaftlichen Fächern auch in ökonomisch schwierigen Zeiten festzuhalten. Zum andern ist es offensichtlich, dass sich seit der historischen Finanzkrise 2008 Studenten verstärkt Fächern zuwenden, von denen sie sich erhoffen, diese würden ihre Chancen im Arbeitsmarkt verbessern.

Nun ist es in den USA ganz ähnlich wie in der Schweiz: Geisteswissenschafter haben etwas mehr Mühe als Mint-Absolventen oder Juristen und Ökonomen, nach dem Studienabschluss eine Stelle zu finden. Doch nach fünf Jahren gibt es keinen Unterschied mehr, und wenn schon, dann einen zugunsten der Geisteswissenschafter.

Tatsache ist aber auch, dass Absolventen von Geisteswissenschaften tendenziell etwas weniger verdienen. Doch die Unterschiede sind im Durchschnitt nicht sehr gross. Für angehende Studenten wird der Verdienst kaum ein Kernargument ihrer Studienwahl darstellen. So ist die Abwendung von den Geisteswissenschaften primär ein Indikator für eine generelle Verunsicherung, welche eine Folge der Finanzkrise ist und auch zur Kritik an der Globalisierung und zum Aufschwung der Populisten geführt hat. Die angehenden Hochschüler reagieren darauf auf ihre Weise: «Die Studenten meiden die Geisteswissenschaften seit der Finanzkrise, weil sie sich vor dem Jobmarkt fürchten», schreibt der Historiker Benjamin Schmidt in einem Artikel im Magazin «The Atlantic». Dabei handle es sich um einen Denkfehler: «Sie meiden die Geisteswissenschaften, weil sie meinen, sie hätten mit diesen schlechte Berufsaussichten. Dabei sind sie gar nicht mies.»

Dass der Niedergang der Geisteswissenschaften die Idee der klassischen Hochschule in ihrem Mark trifft, ist offensichtlich. Geschichte, Sprache, Literatur, Philosophie galten seit der Renaissance als Essenz einer universitären Bildung. Sie bildeten das Rückgrat der humanistischen Bildung und standen am Ursprung der modernen Wissenschaften, «indem sie den Studenten die Fähigkeit vermittelten, Gedanken, Ideen, Argumente kritisch zu überprüfen, Dogmatik und Ideologie durch kritische Diskussion zu ersetzen und damit Reflexions- und Orientierungswissen zu schaffen. Das sollte es dem Einzelnen erlauben, sich selbst eine eigene Meinung zu bilden», schreibt die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften in einem Artikel, der den Titel trägt: «Es sind die Geisteswissenschaften, Dummkopf!»

Eine Gesellschaft, in der solche Kompetenzen abnehmen, dürfte anfälliger werden für Meinungsmanipulation durch Fake-News, sie dürfte dem Informations- und Desinformationsstrom in den sozialen Netzwerken noch hilfloser ausgesetzt sein, als sie es jetzt schon ist. Politische Verführer dürften es damit einfacher haben, Wähler von ihren Rezepten zu überzeugen. Und in den Mint-- Fächern finden sich die Antworten auf die schwierigen gesellschaftlichen Fragen nicht wirklich. Kein Algorithmus ist in der Lage, die adäquate Antwort auf den Islamismus zu geben, keiner, wie auf den Machtanspruch Chinas zu reagieren sei. Selbst wenn man näher am Arbeitsmarkt bleibt, ist die Aussage nicht verwegen, die modernen Gesellschaften brauchten eher mehr Geisteswissenschafter als weniger. Denn gerade wenn das Datamining und die künstliche Intelligenz uns bald einmal viele Aufgaben abnehmen sollten, werden andere Fähigkeiten umso wichtiger sein. Teamarbeit, Kreativität, Interaktionen mit Kunden, Marketing, Querdenken, kritische Reflexion – Dinge, die eher ein Studium der Geisteswissenschaften vermittelt als eine Ingenieursausbildung.

Politischer Druck in der Schweiz
In der Schweiz ist die Lage der Geisteswissenschaften nur vordergründig besser als in den USA. Nicht grundlos kämpft die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften seit einigen Jahren für mehr Wertschätzung und auch mehr Finanzmittel für diese Fachgebiete.

Die Situation wirkt auf den ersten Blick insofern besser, als die Gesamtzahl der Studentinnen und Studenten der Sozial- und Geisteswissenschaften kaum rückläufig ist. Doch Fächer wie Geschichte, Germanistik, Philosophie oder Soziologie haben in den vergangenen 15 Jahren einen deutlichen Rückgang erfahren.

Und politisch befinden sich die Geisteswissenschaften hierzulande längst in der Defensive. Die SVP-Fraktion etwa reichte 2015 eine Interpellation im Nationalrat ein, mit welcher sie den Bundesrat aufforderte, die Zahl der «Psychologen, Ethnologen, Historiker und Kulturwissenschafter» zu reduzieren. Andere haben schon einen Numerus clausus für Psychologen oder andere PhilEiner gefordert. Unablässig ertönt der Ruf nach einer verstärkten Förderung der Mint-Fächer zulasten sogenannter Orchideenfächer wie Islamwissenschaften, Indogermanistik oder Kulturanalyse; in Basel standen gerade diese kleinen geisteswissenschaftlichen Disziplinen jüngst im Fokus von Abbauplänen. Der Geschichtsunterricht wird auf breiter Front und auf allen Schulstufen zurückgefahren. «Unnütz», sagen die einen, «links», die andern, sparen in diesem Bereich wollen beide.

Kommt hinzu, dass die Geisteswissenschaften einen massiven Bedeutungsverlust erlitten haben. Für die 68er Generation waren Soziologie, Geschichte, Germanistik oder (politische) Philosophie Leitdisziplinen, unter anderem dank dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Dieser hatte mit seiner Theorie der «kulturellen Hegemonie» dafür gesorgt, dass die Revolte der 68er Generation argumentativ auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften ausgetragen wurde. Die Literaturkritik, die Geschichtsforschung dienten dazu, bürgerliche Verlogenheit aufzudecken, in den Theatern wurden die Klassiker gründlich entstaubt, die ideologische Einseitigkeit der Geschichtsschreibung im Dienst des Establishments kritisiert. Mit marxistischen Ansätzen rückten die Studenten dem Kapitalismus auf den Leib.

Von all dem ist heute nichts geblieben. Heute dreht sich alles um Big Data, um Digitalisierung, um Statistik, um Gensequenzen und Genmanipulationen. Die Geisteswissenschaften spielen kaum eine Rolle in der öffentlichen Debatte.

Was diese in der Schweiz vorläufig noch schützt, sind ein boomender Arbeitsmarkt, volle Staatskassen und ein grösseres Traditionsbewusstsein auf dem Gebiet der universitären Bildung. Doch es muss nicht ewig so bleiben. Vielleicht hinken wir auch hier einfach ein wenig hinter den USA her.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen