In den USA sinkt das Interesse an
Studienfächern wie Geschichte, Philosophie und Literatur dramatisch. Institute
schliessen, Professoren werden entlassen. Auch in der Schweiz ist die Lage
besorgniserregend. Die Folgen sind fatal.
Geschichte fällt heute aus, NzzaS, 17.3. von Felix E. Müller
Geisteswissenschaften verlieren in den USA an
Bedeutung. Institute schliessen, wie hier in Wisconsin. Die Bücher werden zwar
in Austin nicht gerade verbrannt, aber mit grossen Lastwagen zu Lagerhäusern in
den Vorstädten gekarrt. Dort, wo sich an der University of Texas bisher die
reichhaltige Bibliothek der Abteilung für Kunstgeschichte befand, sollen
schicke Multimediaräume entstehen. Für die verbleibenden Bücher hat es nun viel
weniger Platz.
So wie den Kunsthistorikern an der besten
Universität von Texas geht es in den USA Geisteswissenschaftern im ganzen Land.
Es herrscht Untergangsstimmung, und das mit guten Gründen. Die Studentenzahlen
befinden sich in freiem Fall. In Scharen wenden sich die Studienanfänger von
Geschichte, Philosophie, Ethnologie, Soziologie und verwandten sogenannt
weichen Fächern ab. Master-Abschlüsse in Geschichte sind in den USA sei 2007 um
45 und solche in Englisch seit Ende der neunziger Jahre um fast 50 Prozent
zurückgegangen. Bei den Bachelor-Abschlüssen verzeichneten die Geisteswissenschaften
2014 mit 6,1 Prozent den tiefsten Anteil an der Gesamtmenge seit dem Jahr, in
dem man diese Zahl erstmals erhoben hatte – 1948. Dass die Vertreter dieser
Fachschaften von einer Krise sprechen, ist mehr als nachvollziehbar.
Kürzlich machte die Universität von Stevens
Point in Wisconsin landesweit Schlagzeilen, weil sie die Möglichkeit, einen
Master in Geschichte, Philosophie, Spanisch, Deutsch, Französisch und
Soziologie zu erwerben, abschaffte. Institutsgebäude werden geschlossen,
Professoren entlassen – ein Prozess, den eine Geschichtsstudentin gegenüber der
«New York Times» zum ungläubigen Kommentar veranlasste: «Was ist eine
Universität ohne Geschichte als Hauptfach?» Es ist das Erstaunen darüber, dass
Fächer, die einst im Zentrum der universitären Formung standen, plötzlich
irrelevant werden für die höhere Bildung in den USA; in Stevens Point wollte
man ursprünglich gar die Möglichkeit, einen Master in Englisch zu erwerben –
also in der Landessprache –, eliminieren.
Natürlich gab es schon immer gewisse Zyklen in
der Nachfrage nach bestimmten Fächern. Die Präferenz für die
Geisteswissenschaften hatte stets die Tendenz, dem Verlauf der Konjunktur zu
folgen. In wirtschaftlich schwierigeren Zeiten stieg das Interesse an stärker
berufsorientierten Studienrichtungen, während in wirtschaftlich guten Phasen
auch die Geisteswissenschaften erblühten. Doch die jetzige Krisenstimmung wird
genährt durch die Erkenntnis, dass dieser Mechanismus nicht mehr spielt: Trotz
einem bald seit zehn Jahren anhaltenden Wirtschaftsaufschwung, trotz faktischer
Vollbeschäftigung gehen die Einschreibungen bei den «Humanities», den
Geisteswissenschaften, zurück, während sie bei den Mint-Fächern, Mathematik,
Informatik, Technik, Naturwissenschaften, stetig steigen. Es scheint also, dass
fundamentalere Kräfte am Werk sein müssen.
In konservativen Kreisen heisst es rasch, die
Geisteswissenschaften seien selber schuld an ihrer Misere. Mit exotischen
Fächern wie Queer studies, der kritischen Hinterfragung sexueller Identitäten,
mit der Obsession für französische postmoderne Philosophen, mit ihrer
Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffs hätten sie sich von der Realität des
Durchschnittsamerikaners so weit entfernt, dass sie für die Bewältigung eines
beruflichen Alltags irrelevant geworden seien. Zudem wirke die wachsende
politische Einseitigkeit der Professorenschaft abschreckend auf Studenten.
Letztere Kritik trifft einen Nerv: Tatsächlich soll gemäss einer Erhebung das
Verhältnis von Demokraten zu Republikanern unter Geschichtsprofessoren 33 zu 1
sein.
Millionen
für die Naturwissenschaft
Doch aus dem linken Lager wird diese
Argumentation gekontert mit dem Hinweis, der Rückgang der Geisteswissenschaften
sei an der von – konservativen – Mormonen dominierten Brigham Young University
in Utah ähnlich ausgeprägt wie im Rest des Landes, weshalb der Vorwurf von
linken und nutzlosen Bildungsgängen ins Leere ziele. In diesen Kreisen
bevorzugt man eine andere Erklärung. In einer Kampfschrift «Not for Profit –
Why Democracy needs the Humanities» hat die Philosophin Martha Nussbaum
postuliert, die Geisteswissenschaften seien reichen reaktionären Milliardären
wie etwa den Gebrüdern Koch zum Opfer gefallen. Diese hätten mit
Millionengeschenken Hunderte von Universitäten und Colleges dazu gebracht,
Lehrpläne so abzuändern, dass Naturwissenschaften und Ökonomie zulasten der
Humanities gefördert wurden. Nehme deren Einfluss ab, verliere die (tendenziell
linke) Gesellschaftskritik an Gewicht und Einfluss. Auf diese Weise versuchten
die Koch-Brüder, ihre libertäre politische Agenda – tiefe Steuern,
Regulierungsabbau, weniger Staat – durchzusetzen.
Nun mögen der linke wie der rechte
Erklärungsversuch für die Krise der Geisteswissenschaften nicht gänzlich unbegründet
sein. Aber beide treffen die Realität eines 18-Jährigen, der sich für ein
Studienfach entscheiden muss, wohl kaum. Dieser wird sich andere, näherliegende
Überlegungen machen.
Es fällt nämlich auf, dass der Absturz der
Geisteswissenschaften ernsthaft im Jahr 2008 einsetzte (siehe Grafik). Sie sind
somit ein weiteres Opfer der Finanzkrise, und zwar gleich in einem doppelten
Sinn. Viele Gliedstaaten begannen damals, ihre Bildungsbudgets zu beschneiden.
Der finanzielle Druck auf die Universitäten ist heute viel grösser als früher.
Wenn etwa Stevens Point vom Staat Wisconsin in den siebziger Jahren noch rund
50 Prozent seines Budgets erhielt und heute gerade noch 17 Prozent, verfügt die
Institution über viel weniger Substanz, um an kleineren geisteswissenschaftlichen
Fächern auch in ökonomisch schwierigen Zeiten festzuhalten. Zum andern ist es
offensichtlich, dass sich seit der historischen Finanzkrise 2008 Studenten
verstärkt Fächern zuwenden, von denen sie sich erhoffen, diese würden ihre
Chancen im Arbeitsmarkt verbessern.
Nun ist es in den USA ganz ähnlich wie in der
Schweiz: Geisteswissenschafter haben etwas mehr Mühe als Mint-Absolventen oder
Juristen und Ökonomen, nach dem Studienabschluss eine Stelle zu finden. Doch
nach fünf Jahren gibt es keinen Unterschied mehr, und wenn schon, dann einen
zugunsten der Geisteswissenschafter.
Tatsache ist aber auch, dass Absolventen von
Geisteswissenschaften tendenziell etwas weniger verdienen. Doch die
Unterschiede sind im Durchschnitt nicht sehr gross. Für angehende Studenten
wird der Verdienst kaum ein Kernargument ihrer Studienwahl darstellen. So ist
die Abwendung von den Geisteswissenschaften primär ein Indikator für eine
generelle Verunsicherung, welche eine Folge der Finanzkrise ist und auch zur
Kritik an der Globalisierung und zum Aufschwung der Populisten geführt hat. Die
angehenden Hochschüler reagieren darauf auf ihre Weise: «Die Studenten meiden
die Geisteswissenschaften seit der Finanzkrise, weil sie sich vor dem Jobmarkt
fürchten», schreibt der Historiker Benjamin Schmidt in einem Artikel im Magazin
«The Atlantic». Dabei handle es sich um einen Denkfehler: «Sie meiden die
Geisteswissenschaften, weil sie meinen, sie hätten mit diesen schlechte
Berufsaussichten. Dabei sind sie gar nicht mies.»
Dass der Niedergang der Geisteswissenschaften
die Idee der klassischen Hochschule in ihrem Mark trifft, ist offensichtlich.
Geschichte, Sprache, Literatur, Philosophie galten seit der Renaissance als
Essenz einer universitären Bildung. Sie bildeten das Rückgrat der humanistischen
Bildung und standen am Ursprung der modernen Wissenschaften, «indem sie den
Studenten die Fähigkeit vermittelten, Gedanken, Ideen, Argumente kritisch zu
überprüfen, Dogmatik und Ideologie durch kritische Diskussion zu ersetzen und
damit Reflexions- und Orientierungswissen zu schaffen. Das sollte es dem
Einzelnen erlauben, sich selbst eine eigene Meinung zu bilden», schreibt die
Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften in einem Artikel,
der den Titel trägt: «Es sind die Geisteswissenschaften, Dummkopf!»
Eine Gesellschaft, in der solche Kompetenzen
abnehmen, dürfte anfälliger werden für Meinungsmanipulation durch Fake-News,
sie dürfte dem Informations- und Desinformationsstrom in den sozialen
Netzwerken noch hilfloser ausgesetzt sein, als sie es jetzt schon ist.
Politische Verführer dürften es damit einfacher haben, Wähler von ihren
Rezepten zu überzeugen. Und in den Mint-- Fächern finden sich die Antworten auf
die schwierigen gesellschaftlichen Fragen nicht wirklich. Kein Algorithmus ist
in der Lage, die adäquate Antwort auf den Islamismus zu geben, keiner, wie auf
den Machtanspruch Chinas zu reagieren sei. Selbst wenn man näher am
Arbeitsmarkt bleibt, ist die Aussage nicht verwegen, die modernen
Gesellschaften brauchten eher mehr Geisteswissenschafter als weniger. Denn
gerade wenn das Datamining und die künstliche Intelligenz uns bald einmal viele
Aufgaben abnehmen sollten, werden andere Fähigkeiten umso wichtiger sein. Teamarbeit,
Kreativität, Interaktionen mit Kunden, Marketing, Querdenken, kritische
Reflexion – Dinge, die eher ein Studium der Geisteswissenschaften vermittelt
als eine Ingenieursausbildung.
Politischer
Druck in der Schweiz
In der Schweiz ist die Lage der Geisteswissenschaften
nur vordergründig besser als in den USA. Nicht grundlos kämpft die
Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften seit einigen
Jahren für mehr Wertschätzung und auch mehr Finanzmittel für diese Fachgebiete.
Die Situation wirkt auf den ersten Blick
insofern besser, als die Gesamtzahl der Studentinnen und Studenten der Sozial-
und Geisteswissenschaften kaum rückläufig ist. Doch Fächer wie Geschichte,
Germanistik, Philosophie oder Soziologie haben in den vergangenen 15 Jahren
einen deutlichen Rückgang erfahren.
Und politisch befinden sich die
Geisteswissenschaften hierzulande längst in der Defensive. Die SVP-Fraktion
etwa reichte 2015 eine Interpellation im Nationalrat ein, mit welcher sie den
Bundesrat aufforderte, die Zahl der «Psychologen, Ethnologen, Historiker und
Kulturwissenschafter» zu reduzieren. Andere haben schon einen Numerus clausus
für Psychologen oder andere PhilEiner gefordert. Unablässig ertönt der Ruf nach
einer verstärkten Förderung der Mint-Fächer zulasten sogenannter
Orchideenfächer wie Islamwissenschaften, Indogermanistik oder Kulturanalyse; in
Basel standen gerade diese kleinen geisteswissenschaftlichen Disziplinen jüngst
im Fokus von Abbauplänen. Der Geschichtsunterricht wird auf breiter Front und
auf allen Schulstufen zurückgefahren. «Unnütz», sagen die einen, «links», die
andern, sparen in diesem Bereich wollen beide.
Kommt hinzu, dass die Geisteswissenschaften
einen massiven Bedeutungsverlust erlitten haben. Für die 68er Generation waren
Soziologie, Geschichte, Germanistik oder (politische) Philosophie
Leitdisziplinen, unter anderem dank dem italienischen Marxisten Antonio
Gramsci. Dieser hatte mit seiner Theorie der «kulturellen Hegemonie» dafür
gesorgt, dass die Revolte der 68er Generation argumentativ auf dem Gebiet der
Geisteswissenschaften ausgetragen wurde. Die Literaturkritik, die
Geschichtsforschung dienten dazu, bürgerliche Verlogenheit aufzudecken, in den
Theatern wurden die Klassiker gründlich entstaubt, die ideologische Einseitigkeit
der Geschichtsschreibung im Dienst des Establishments kritisiert. Mit
marxistischen Ansätzen rückten die Studenten dem Kapitalismus auf den Leib.
Von all dem ist heute nichts geblieben. Heute
dreht sich alles um Big Data, um Digitalisierung, um Statistik, um Gensequenzen
und Genmanipulationen. Die Geisteswissenschaften spielen kaum eine Rolle in der
öffentlichen Debatte.
Was diese in der Schweiz vorläufig noch
schützt, sind ein boomender Arbeitsmarkt, volle Staatskassen und ein grösseres
Traditionsbewusstsein auf dem Gebiet der universitären Bildung. Doch es muss
nicht ewig so bleiben. Vielleicht hinken wir auch hier einfach ein wenig hinter
den USA her.
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