Brief an Eva Wannenmacher, Fernsehen SRF, 16.3., von Alain Pichard
1. Die Schule Niederhasli hat auch eine andere
Geschichte Sie gehen von der Sekundarschule Niederhasli im Kt. Zürich aus und
porträtieren diese als vorbildlich und pionierhaft im Umgang mit den neuen
Medien. Originalzitat: «Schon vor sieben Jahren wurde hier begonnen, die
Digitalisierung als pädagogische Chance zu sehen, um ein innovatives Schulmodell
zu entwickeln, das auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung der
Schüler*innen setzt. Mit Erfolg. Die preisgekrönte Sekundarschule gilt als
Vorzeigeprojekt im Kanton Zürich.»
Und für sich selber nehmen Sie in Anspruch:
«Der «Kulturplatz» fragt: Zurecht?» Wenn Sie die Antwort wirklich interessiert
hätte, hätten sie gar nicht heftig recherchieren müssen: Die andere Seite
dieser Schule wurde pikanterweise von einem weiteren Sendegefäss Ihres Hauses
aufgegriffen. «Schweiz aktuell» berichtete über entrüstete Eltern, welche gegen
den individualisierten, computerbasierten Unterricht protestierten. Und dieser
Widerstand entstand keineswegs aufgrund diffuser Ängste, sondern hatte seinen
Ursprung in den Erfahrungen der Eltern und SchülerInnen mit dieser Art Unterricht.
Ich schicke Ihnen in den kommenden Tagen unseren «Einspruch 2» zu, der diese
Seite des Schulexperiments aus Sicht der Eltern, SchülerInnen und vieler
Lehrkräfte, welche gekündigt hatten, auf 5 Seiten darstellt. Nicht dass ich
erwarte, dass Sie diese Sicht der Dinge übernehmen. Aber mit keinem Wort auf
diese Vorgänge einzugehen, die im Übrigen mit der Kündigung des Schulleiters
einen Höhepunkt erreichten, empfinde ich als Gebührenzahler schon als «starkes
Stück».
2. Silicon Valley Ihre Reporter hätten gar
nicht ins Silicon Valley fahren müssen. In Birmensdorf existiert bereits eine
vollkommen auf Computerprogrammen abgestützte Privatschule. Kostenpunkt: 30'000
Fr. pro Jahr pro Lernenden. Wenn Sie aber nach Silicon Valley fahren, hätten
sie auch über die vielen Spezialisten der Computerbranche hinweisen können, die
ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken und ihnen bis 12 Jahren jegliche
Art Umgang mit Smartphone, Tablet und Laptop verbieten. Ich empfehle Ihnen
hierzu auch die Lektüre von Informatikprofessor Gerhard Lembke «Die digitale
Lüge», der zu einem gänzlich anderen Befund kommt, als Ihr euphorischer
Beitrag. https://www.youtube.com/watch?v=b5zH0-XXLco&t=36s
3. PISA, Singapur und Finnland Sie fallen in
Ihrem Bericht in einer der bekanntesten PISA-Fallen hinein. PISA betreibt keine
Ursachenforschung. Ihr Reporter tut dies dennoch und gänzlich faktenfrei und
reduziert die Erfolge dieser Länder auf Ihren Umgang mit den Tablets.
Im Fall von Singapur handelt es sich um eine
glatte Falschinformation. Die asiatischen Spitzenreiter Singapur, Hongkong,
Südkorea, Japan und Vietnam erreichen Ihre phänomenalen Zahlen vor allem mit
einem extrem leistungsbezogenen Mathematikunterricht und einem klar lehrerzentrierten,
von der Lehrkraft gestalteten Unterricht, der – wie der neuseeländische
Bildungsforscher Hattie in seiner Metastudie feststellte – immer noch die beste
Wirkung erreicht. Natürlich kommen in diesen Staaten die neuen Medien zum
Einsatz, aber als Erweiterung der Lehrmittel und nicht als programmatische
Lehrsteuerung. Ich empfehle Ihnen hier die Lektüren von Professor Roland
Reichenbach, der in Südkorea war, und die Erkenntnisse des Soziologen Gunnar
Heinsohn.
Was Finnland betrifft, scheinen Sie die
Ergebnisse der PISA-Studien aus dem Jahr 2015 nicht zur Kenntnis genommen zu
haben. Finnland hat in dieser letzten Testserie einen markanten Rückschlag
erlitten und ist heute auf demselben Stand wie Deutschland (und hinter der
Schweiz). Ausserdem hat Finnland trotz Notenfreiheit, wenig Selektionsdruck und
einer 90%-igen Maturquote die unmotiviertesten SchülerInnen (geht aus den
PISA-Befragungen hervor) und eine Jugendarbeitslosigkeit von 22%.
3. Frankreich
Sie berichten über das Collège de la Libérté in
Drancy bei Paris. Auch hier empfehle ich Ihnen, sich einmal auf Google (ja,
auch ich recherchiere auf Google) über dieses Institut zu informieren. Vor
kurzem gab es dort einen Schülerstreik für einen Lehrer, der von der
Schulleitung wegen seiner Gesinnung drangsaliert wurde (was leider auch in der
Schweiz immer häufiger vorkommt).
Viel interessanter ist aber die gegenwärtige
Bildungsdebatte in diesem stark verunsicherten Land.
Nach den schlechten TIMMS-Resultaten
beauftragte Herr Macron die renomierten Mathematiker Viliani und Tossiani mit
einer Untersuchung. Die beiden Mathematiker präsentierten 21 Punkte für eine
Verbesserung des Mathematikunterrichts. Darunter – man höre und staune – das
bekannte «back to the roots», das Zurückfahren des «entdeckenden Lernens» und
der «Individualisierung» - kurzum mehr Hattie und weniger «schülerzentrierte
Einheiten! (siehe Anhang)
4. Der Support
In all diesen Phantasmen werden sehr oft ganz
praktische Dinge ausser Acht gelassen: Auch in Ihrer Sendung: Da wäre einmal
der Support, denn die Verdrahtung und Digitalisierung einer mittleren Schule
ist wesentlich komplexer als die eines mittelständisches Unternehmens. Die
enorme Entwicklung erfordert einen immer schnelleren Ersatz von Geräten und
damit immer kürzere Laufzeiten der angeschafften Laptops du Tablets.
5. Grundsätzliche pädagogische und
philosophische Überlegungen
Natürlich ist es nicht möglich, all diese
Zusammenhänge in Ihrem Format «Kulturplatz» darzulegen. Die Frage stellt sich:
«Warum tun Sie das trotzdem?» Denn wenn man es versucht, riskiert man
Einseitigkeit, Unvollständigkeit, Mythenbildung und groteske Verzerrungen. Das
ist Ihnen passiert. Über die grundsätzlichen Herausforderungen der
digitalisierten Schule gäbe es noch einige Stichworte, die einer Analyse wert
wären: Die Schule als Mekka der Überwachungspädagogik! Klassenraum als Office,
Unterricht modelliert an der Projektarbeit eines High-Tech-Unternehmens.
Kooperation als Ressourcenaktivierung und Prozessualisierung von Steuerung
(Organisation, Feedback, Optimierung, Solutionismus), die Verkaufsabsichten und
Marketingstrategien der IT-Lobby, die Digitalisierung der Bildung als
technologiegetriebene und nicht als didaktische Diskussion usw.
Die Beurteilung darüber, welchem Menschenbild
Sie mit der kritiklosen Propagierung des digitalisierten Unterrichts Vorschub
leisten – notabene in einer Kultursendung – überlasse ich Ihnen. Im Anhang
sende ich Ihnen noch einige Belege für meine Aussagen. Ich danke Ihnen für die
Kenntnisnahme und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Alain Pichard
Belege:
Fakten zu Finnland und Digitalisierung Verschiedene
Artikel zu den Falschmeldungen über Finnland und die Digitalisierung
21 Punkte für eine Verbesserung des
Mathematikunterrichts in Frankreich Untersuchung
von Viliani und Tossiani
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