«Lehrpersonen wickeln
keine Kinder», lautet die zentrale Forderung des Verbands Kindergarten Zürich
(VKZ) in einem Positionspapier. Doch immer wieder kommt es vor, dass
Kindergärtnerinnen genau dies machen müssen. Das zeigt, wie stark Lehrpersonen
gefordert sind. «Viel häufiger zeigen sich bei den jüngsten Kindern jedoch
andere Probleme: Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der
Bezugspersonen sowie wenig Interesse und Bereitschaft, in einer grossen Gruppe
gemeinsam etwas zu machen. Dies sind die Thematiken, die unsere Arbeit
erschweren bis verunmöglichen», erklärt Verbandspräsidentin Ursina Zindel.
Grafik: Joana Kelén / NZZ
Kantone erhören Hilferuf: Lehrpersonen sollen keine Windeln wechseln müssen, NZZ, 8.2. von Erich Aschwanden
Auch für Familien ist es
eine Herausforderung, wenn ihr Kind bereits mit vier Jahren in die Schule
kommt. So werden die Eltern etwa im Luzerner Vorort Ebikon angehalten, dafür zu
sorgen, dass der Kindergärtler sich «selber an- und auskleiden kann sowie sein
Eigentum (Znünitäschli, Finken, Turnsack) kennt». So zumindest steht es in der
Rubrik «Voraussetzungen
für einen guten Start» auf der Gemeinde-Website.
Gegen den Trend
Es ist kein Zufall, dass
sich solche Probleme momentan häufen. Im Rahmen der Harmonisierung der
Volksschule haben viele Kantone den Stichtag für den Schuleintritt auf den
31. Juli festgelegt. Dies bedeutet, dass alle vor diesem Datum geborenen
Vierjährigen obligatorisch oder freiwillig den Kindergarten besuchen. Die
jüngsten Kinder haben damit knapp zwei Wochen vor dem Schulbeginn ihren vierten
Geburtstag gefeiert.
Nun reagieren zwei Kantone
auf die Klagen von Lehrern, Eltern und Lehrmeistern. Nidwalden und Schwyz heben
die Altersgrenze für die Einschulung wieder an. In Nidwalden wird der Stichtag
von Ende Juni auf Ende Februar vorgezogen. Kinder, die in den Monaten März bis
Juni geboren sind, gehen damit ein Jahr später zur Schule. «Die Reaktionen auf
diesen Beschluss waren unisono positiv», erklärt der Nidwaldner
Bildungsdirektor Res Schmid (svp.). Der Entscheid sei aufgrund langjähriger
Erfahrung und Rückmeldungen von Schulen und Lehrbetrieben erfolgt. Zusätzlich
werde die Korrektur durch deutsche und britische Studien erhärtet.
Nicht überall stösst das
Ausscheren der Innerschweizer auf Begeisterung. Beat W. Zemp, der
Präsident des Schweizer Lehrerverbandes, spricht von einer verpassten Chance:
«Wenn man einfach das Stichdatum vorverlegt, verwehrt man dadurch einem Drittel
der Kinder eines Jahrgangs die wertvolle Frühförderung in einer professionellen
Lernumgebung.» Zemp bedauert, dass die Frühförderung in der Schweiz im
Vergleich zu anderen OECD-Ländern immer noch als Stiefkind behandelt wird. Er
vermutet politische Gründe dahinter: «Solange es keinen politischen Konsens bei
diesem umstrittenen Thema gibt, wird es auch keine Harmonisierung im Bereich
des Schuleintrittsalters geben.» Schmid betont, dass Eltern weiterhin wählen
können, ob sie ihr Kind ein oder zwei Jahre in den Kindergarten schicken
wollen. Wenn es die intellektuelle und persönliche Entwicklung des Kindes
erfordert, könne der Kindergarten sogar in drei Jahren durchlaufen werden.
In der Wissenschaft sorgt
der Entscheid der Nidwaldner Regierung für Diskussionen und wird durchaus auch
positiv bewertet. So schreibt Margrit Stamm, emeritierte Professorin der
Universität Freiburg, in einem Blog-Beitrag: «Früh instruierte Kinder bekommen
zwar einen Vorsprung gegenüber anderen, aber dieser wächst sich relativ schnell
aus.» Der Schuleintritt sei zwar sehr bedeutsam. «Doch eine ausgewogene
physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes
Selbstwertgefühl sind ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche
Schullaufbahn.»
Eltern behalten Kinder zu Hause
«Der Ernst des Lebens
beginnt für die Kinder mit dem vorverlegten Schulbeginn früher. Das hat
entwicklungspsychologisch durchaus seine Nachteile», erklärt Stamm auf Anfrage.
Die sich häufenden Probleme unmittelbar nach der Einschulung führt sie auch
darauf zurück, dass der Kindergarten im Vergleich zu früher professioneller
geworden ist. Die Kinder spielten weniger und müssten sich wie Schüler
verhalten. «Es werden andere Kompetenzen verlangt, die viele Vierjährige gar
noch nicht erfüllen können», beobachtet Stamm.
Die Kantone tragen dem
Umstand Rechnung, dass der Entwicklungsstand von Kindern unterschiedlich ist.
Laut Marion Völger, Leiterin des Zürcher Volksschulamtes, verläuft die
Entwicklung im neuen Lehrplan 21 kontinuierlich und ist in Zyklen von drei bis
vier Jahren gegliedert. Lehrerinnen und Lehrer würden durch adäquate
Weiterbildungen und auch durch Lehrmittel unterstützt, die Schülerinnen und
Schüler an die Kompetenzziele heranzuführen.
Vielen Eltern genügt dies
allerdings nicht. Sie reagieren auf die tatsächliche oder vermutete
Überforderung, indem sie ihre Kinder ein Jahr länger zu Hause behalten. So
berichtete die «Solothurner Zeitung» im vergangenen Jahr, dass der Anteil der
später eingeschulten Kinder markant zunehme. Kamen im Schuljahr 2012/2013 noch
rund 2 Prozent der Kinder später in die Schule, waren es fünf Jahre später
bereits 10,6 Prozent. In Solothurn müssen Eltern für eine Rückstellung keine
bestimmten Gründe oder ein Gutachten vorlegen. Andere Kantone sind bei der
Bewilligung deutlich restriktiver. Zahlen über die Anzahl Gesuche und bewilligter
Rückstellungen aus anderen Kantonen liegen nicht vor. In städtischen Gebieten,
wo die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine wichtige Rolle spielt, dürfte
die Zahl der Rückstellungen geringer sein als auf dem Land.
Margrit Stamm beobachtet
jedoch, dass die Bedenken gegenüber einer frühen Einschulung deutlich grösser
geworden sind. Angesichts ständig steigender Ausnahmen wäre es aus ihrer Sicht
zu begrüssen, wenn man vom «am Schreibtisch festgelegten Termin vom
31. Juli» abweichen würde. «Ideal wäre aus meiner Sicht ein
flexibilisierter Termin. Darüber braucht es nun eine schweizweite Debatte»,
erklärt die Erziehungswissenschafterin.
Diese fordert auch Ursina
Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich. Sie hofft, dass die
Haltung der Innerschweizer Kantone eine gesamtschweizerische Diskussion über
das Stichdatum für den Schuleintritt auslöst, wie dies ihr Verband bereits vor
zwei Jahren forderte. Kurzfristig könne man die Probleme mit Assistenzen für
den Schuleintritt entschärfen, wie dies verschiedene Gemeinden heute schon
machten. «Langfristig bekommen wir jedoch Probleme im ganzen Bildungssystem,
wenn Kinder zu früh eingeschult werden. Denn nichts ist teurer als ein
schlechter Start», erklärt Zindel.
Vorläufig bleibt die
Schweiz in Sachen Schuleintritt ein Flickenteppich. In Graubünden, Zug, Schwyz
und Nidwalden sowie den beiden Appenzell, die dem Harmos-Konkordat nicht
angehören, kommen die Kinder später in den Kindergarten. Eine ganz spezielle
Lösung kennt das Wallis: Für Kinder aus dem oberen Kantonsteil gilt der
30. April als Stichtag, für Kinder aus dem Unterwallis der 31. Juli.
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