10. Februar 2019

Zu jung für den Kindergarten


«Lehrpersonen wickeln keine Kinder», lautet die zentrale Forderung des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ) in einem Positionspapier. Doch immer wieder kommt es vor, dass Kindergärtnerinnen genau dies machen müssen. Das zeigt, wie stark Lehrpersonen gefordert sind. «Viel häufiger zeigen sich bei den jüngsten Kindern jedoch andere Probleme: Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugspersonen sowie wenig Interesse und Bereitschaft, in einer grossen Gruppe gemeinsam etwas zu machen. Dies sind die Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen», erklärt Verbandspräsidentin Ursina Zindel.
Grafik: Joana Kelén / NZZ
Kantone erhören Hilferuf: Lehrpersonen sollen keine Windeln wechseln müssen, NZZ, 8.2. von Erich Aschwanden


Auch für Familien ist es eine Herausforderung, wenn ihr Kind bereits mit vier Jahren in die Schule kommt. So werden die Eltern etwa im Luzerner Vorort Ebikon angehalten, dafür zu sorgen, dass der Kindergärtler sich «selber an- und auskleiden kann sowie sein Eigentum (Znünitäschli, Finken, Turnsack) kennt». So zumindest steht es in der Rubrik «Voraussetzungen für einen guten Start» auf der Gemeinde-Website.

Gegen den Trend

Es ist kein Zufall, dass sich solche Probleme momentan häufen. Im Rahmen der Harmonisierung der Volksschule haben viele Kantone den Stichtag für den Schuleintritt auf den 31. Juli festgelegt. Dies bedeutet, dass alle vor diesem Datum geborenen Vierjährigen obligatorisch oder freiwillig den Kindergarten besuchen. Die jüngsten Kinder haben damit knapp zwei Wochen vor dem Schulbeginn ihren vierten Geburtstag gefeiert.
Nun reagieren zwei Kantone auf die Klagen von Lehrern, Eltern und Lehrmeistern. Nidwalden und Schwyz heben die Altersgrenze für die Einschulung wieder an. In Nidwalden wird der Stichtag von Ende Juni auf Ende Februar vorgezogen. Kinder, die in den Monaten März bis Juni geboren sind, gehen damit ein Jahr später zur Schule. «Die Reaktionen auf diesen Beschluss waren unisono positiv», erklärt der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid (svp.). Der Entscheid sei aufgrund langjähriger Erfahrung und Rückmeldungen von Schulen und Lehrbetrieben erfolgt. Zusätzlich werde die Korrektur durch deutsche und britische Studien erhärtet.

Nicht überall stösst das Ausscheren der Innerschweizer auf Begeisterung. Beat W. Zemp, der Präsident des Schweizer Lehrerverbandes, spricht von einer verpassten Chance: «Wenn man einfach das Stichdatum vorverlegt, verwehrt man dadurch einem Drittel der Kinder eines Jahrgangs die wertvolle Frühförderung in einer professionellen Lernumgebung.» Zemp bedauert, dass die Frühförderung in der Schweiz im Vergleich zu anderen OECD-Ländern immer noch als Stiefkind behandelt wird. Er vermutet politische Gründe dahinter: «Solange es keinen politischen Konsens bei diesem umstrittenen Thema gibt, wird es auch keine Harmonisierung im Bereich des Schuleintrittsalters geben.» Schmid betont, dass Eltern weiterhin wählen können, ob sie ihr Kind ein oder zwei Jahre in den Kindergarten schicken wollen. Wenn es die intellektuelle und persönliche Entwicklung des Kindes erfordert, könne der Kindergarten sogar in drei Jahren durchlaufen werden.

In der Wissenschaft sorgt der Entscheid der Nidwaldner Regierung für Diskussionen und wird durchaus auch positiv bewertet. So schreibt Margrit Stamm, emeritierte Professorin der Universität Freiburg, in einem Blog-Beitrag: «Früh instruierte Kinder bekommen zwar einen Vorsprung gegenüber anderen, aber dieser wächst sich relativ schnell aus.» Der Schuleintritt sei zwar sehr bedeutsam. «Doch eine ausgewogene physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes Selbstwertgefühl sind ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn.»

Eltern behalten Kinder zu Hause

«Der Ernst des Lebens beginnt für die Kinder mit dem vorverlegten Schulbeginn früher. Das hat entwicklungspsychologisch durchaus seine Nachteile», erklärt Stamm auf Anfrage. Die sich häufenden Probleme unmittelbar nach der Einschulung führt sie auch darauf zurück, dass der Kindergarten im Vergleich zu früher professioneller geworden ist. Die Kinder spielten weniger und müssten sich wie Schüler verhalten. «Es werden andere Kompetenzen verlangt, die viele Vierjährige gar noch nicht erfüllen können», beobachtet Stamm.
Die Kantone tragen dem Umstand Rechnung, dass der Entwicklungsstand von Kindern unterschiedlich ist. Laut Marion Völger, Leiterin des Zürcher Volksschulamtes, verläuft die Entwicklung im neuen Lehrplan 21 kontinuierlich und ist in Zyklen von drei bis vier Jahren gegliedert. Lehrerinnen und Lehrer würden durch adäquate Weiterbildungen und auch durch Lehrmittel unterstützt, die Schülerinnen und Schüler an die Kompetenzziele heranzuführen.

Vielen Eltern genügt dies allerdings nicht. Sie reagieren auf die tatsächliche oder vermutete Überforderung, indem sie ihre Kinder ein Jahr länger zu Hause behalten. So berichtete die «Solothurner Zeitung» im vergangenen Jahr, dass der Anteil der später eingeschulten Kinder markant zunehme. Kamen im Schuljahr 2012/2013 noch rund 2 Prozent der Kinder später in die Schule, waren es fünf Jahre später bereits 10,6 Prozent. In Solothurn müssen Eltern für eine Rückstellung keine bestimmten Gründe oder ein Gutachten vorlegen. Andere Kantone sind bei der Bewilligung deutlich restriktiver. Zahlen über die Anzahl Gesuche und bewilligter Rückstellungen aus anderen Kantonen liegen nicht vor. In städtischen Gebieten, wo die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine wichtige Rolle spielt, dürfte die Zahl der Rückstellungen geringer sein als auf dem Land.

Margrit Stamm beobachtet jedoch, dass die Bedenken gegenüber einer frühen Einschulung deutlich grösser geworden sind. Angesichts ständig steigender Ausnahmen wäre es aus ihrer Sicht zu begrüssen, wenn man vom «am Schreibtisch festgelegten Termin vom 31. Juli» abweichen würde. «Ideal wäre aus meiner Sicht ein flexibilisierter Termin. Darüber braucht es nun eine schweizweite Debatte», erklärt die Erziehungswissenschafterin.
Diese fordert auch Ursina Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich. Sie hofft, dass die Haltung der Innerschweizer Kantone eine gesamtschweizerische Diskussion über das Stichdatum für den Schuleintritt auslöst, wie dies ihr Verband bereits vor zwei Jahren forderte. Kurzfristig könne man die Probleme mit Assistenzen für den Schuleintritt entschärfen, wie dies verschiedene Gemeinden heute schon machten. «Langfristig bekommen wir jedoch Probleme im ganzen Bildungssystem, wenn Kinder zu früh eingeschult werden. Denn nichts ist teurer als ein schlechter Start», erklärt Zindel.
Vorläufig bleibt die Schweiz in Sachen Schuleintritt ein Flickenteppich. In Graubünden, Zug, Schwyz und Nidwalden sowie den beiden Appenzell, die dem Harmos-Konkordat nicht angehören, kommen die Kinder später in den Kindergarten. Eine ganz spezielle Lösung kennt das Wallis: Für Kinder aus dem oberen Kantonsteil gilt der 30. April als Stichtag, für Kinder aus dem Unterwallis der 31. Juli.


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