13. Februar 2019

Von der offenen Vision zum praxisfernen Dogma


Möglichst alle Kinder sollen gemeinsam in Regelklassen unterrichtet werden. Mit dieser sozialen Leitidee sollen Ausgrenzungen vermieden und die Chancengerechtigkeit erhöht werden. Doch die Umsetzung des Konzepts ist keine Erfolgsgeschichte. Die schulische Integration von stark verhaltensauffälligen Kindern und Schülern mit besonderen Bedürfnissen ist zu einer offenen Dauerbaustelle geworden. Die Kosten laufen aus dem Ruder, die Klassenlehrpersonen beklagen sich über die hohe Mehrbelastung und die wenigen Heilpädagoginnen eilen von Zimmer zu Zimmer, um pädagogische Feuerwehrarbeit zu leisten.
Von der offenen Vision zum praxisfernen Dogma, Zürcher Oberländer, 13.2. von Hanspeter Amstutz


Ein grosser Teil dieser unerfreulichen Entwicklung ist durch falsche bildungspolitische Entscheidungen entstanden. Die schöne Vision des gemeinschaftlichen Lernens hat sich längst zu einer starren Ideologie des generellen Integrierenmüssens verfestigt. Statt pragmatisch die Integration schrittweise voranzubringen, wurden bewährte Kleinklassen in grosser Zahl gestrichen und ein Sonderpädagogisches Konzept installiert, das personell nicht zu bewältigen ist. Das Modell erweist sich in finanzieller und pädagogischer Sicht als Fass ohne Boden.

Jetzt sollen die Klassenlehrpersonen die aufwändige Reparatur vornehmen, indem ihnen ein Teil der heilpädagogischen Arbeit übertragen wird. Nichts gegen die Vermittlung heilpädagogischer Grundkenntnisse im Rahmen der bisherigen Primarlehrerausbildung, aber die mit einem Ausbau der Ausbildung verknüpften Erwartungen an eine Rettung des starren Integrationsmodells verlängern nur dessen Agonie.

Was es dringend braucht ist eine umfassende Analyse, weshalb die Anzahl der Sonderpädagogischen Massnahmen viel zu hoch ist. Vor allem die Tatsache, dass die Knaben weit mehr zusätzliche Unterstützung nötig haben als die Mädchen, gibt zu denken. Ist ein Primarschulunterricht mit viel selbstorganisiertem Lernen wie beispielsweise die Arbeit nach Wochenplan wirklich kindgerecht? Gerade bei unruhigen Kindern wirkt sich ein strukturierter Unterricht mit guter Klassenführung stabilisierend auf ihr Verhalten und ihre Leistungsbereitschaft aus. Aber auch das Bildungsprogramm mit seinen für einseitig begabte Schüler verheerenden Vielfalt an verbindlichen Kompetenzzielen muss hinterfragt werden. Es ist unsinnig, Lehrpersonen mit heilpädagogisch konzipierten Nachführprogrammen in den frühen Fremdsprachen zu beauftragen, wenn einige durchaus lernfreudige Kinder mit drei Sprachen einfach überfordert sind.

Gründlich ausgebildete Heilpädagogen sind in erster Linie dazu da, Blockaden bei wesentlichen Lernprozessen zu beheben und ernsthafte Entwicklungsstörungen zu korrigieren. Damit dies gelingt, brauchen diese Fachleute ausreichend Zeit für die Therapiearbeit. Mit Schnellbleichen kommt man da nicht weit. Der neuste Vorschlag zur Behebung des Fachlehrermangels würde ein aufwändiges Flickwerk schaffen, das die Ursachen des aktuellen Malaise nicht beseitigen kann.  





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen