17. Februar 2019

Eltern werden strenger


Ökonom Fabrizio Zilibotti glaubt, die Gesellschaft sei viel kompetitiver geworden. Das erkläre, warum die Eltern in der Erziehung heute strenger sind.
"Der Druck auf die Eltern hat zugenommen", sagt der Professor für Entwicklungsökonomie, NZZaS, 16.2. von Patrick Imhasly



NZZ am Sonntag: Als ich aufwuchs, waren meine Eltern ziemlich locker in Bezug auf meine Zukunft. Heute trimmen Eltern ihren Nachwuchs auf Erfolg. Was ist geschehen?

Fabrizio Zilibotti: Ich glaube nicht, dass sich heutige Eltern mehr um ihre Kinder kümmern. Die gesellschaftlichen Anreize in der Erziehung haben sich verändert, und der Druck auf die Eltern hat  zugenommen. Als Sie und ich geboren wurden, war die Gesellschaft als Ganzes entspannter. Mein Vater war Techniker beim staatlichen Fernsehen in Italien, und er hatte bestenfalls die Vorstellung, dass ich einmal im gleichen Betrieb arbeiten würde. Das Denken der Menschen war eher horizontal angelegt.

Und heute?
Die Gesellschaft ist viel kompetitiver geworden. Die Kosten, um im Leben erfolgreich zu sein, sind gestiegen, und in vielen Ländern hat die soziale Ungleichheit zugenommen. Die Antwort der Eltern besteht darin, dass sie mehr Wert auf die Ausbildung legen. Sie denken heute vertikaler und haben klare Vorstellungen, welche Schulen für die Zukunft ihrer Kinder gut sind.

Welche Erziehungsstile haben Eltern entwickelt?
In der Entwicklungspsychologie wird unterschieden zwischen einem autoritären, einem permissiven und einem autoritativen Erziehungsstil. Bei der autoritären Erziehung verlangen die Eltern Gehorsam von ihren Kindern und üben strikte Kontrolle über sie aus. Permissive Eltern verfolgen eine Laissez-faire-Haltung - sie lassen die Kinder ihre eigenen Entscheidungen treffen und fördern deren Unabhängigkeit. Der autoritative Erziehungsstil liegt irgendwo dazwischen: Autoritative Eltern versuchen ebenfalls, die Kinder in ihrem Sinne zu beeinflussen, aber statt durch Befehle und Disziplin tun sie das, indem sie argumentieren.

Gab es einen Wendepunkt, an dem sich die permissiven Hippie-Eltern der 1970er Jahre zu Helikoptereltern wandelten, die sich aus Sorge um ihre Kinder verzehren?
Zu etwa der gleichen Zeit passierten zwei Entwicklungen: Es kam zu einer kulturellen Transformation - die Menschen handelten zunehmend individualistisch, was sich auch in der Erziehung niederschlug. Und es stellten sich ökonomische Veränderungen ein. Bis in die 1970er Jahre nahm die Ungleichheit beim Einkommen zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten ab. Doch Ende der 1970er setzte die IT-Revolution ein, und die Mobilität in der Arbeitswelt nahm zu. Hinzu kamen vielerorts politische Bestrebungen, die Rolle des Wohlfahrtsstaats einzuschränken. In der Folge stieg die ökonomische Ungleichheit stark an. Dadurch änderten sich für die Eltern die Anreize in der Erziehung ihrer Kinder.

Was bedeuteten die veränderten ökonomischen Umstände für die Eltern?
Auf einmal gab es in der Gesellschaft mehr Aufstiegsmöglichkeiten, allerdings nahmen auch die Risiken eines Absturzes zu. Wer gut ausgebildet war, konnte zum Beispiel als Ingenieur Karriere machen. Die Kehrseite zeigt sich bei Schulabbrechern. Wer in den 1960er Jahren aus der Mittelschule flog, wurde Arbeiter und stand ökonomisch nicht viel weniger gut da als jemand mit einer höheren Bildung. Heute führt ein Schulabbruch in vielen Ländern dazu, dass die Betroffenen einen unsicheren und schlecht bezahlten Job im Dienstleistungssektor annehmen müssen und sozial marginalisiert werden. Die Schweiz bildet hier eine löbliche Ausnahme: Mit dem dualen Bildungssystem ist man sehr bemüht, jedem die Möglichkeiten zu bieten, mit denen er seine Fähigkeiten möglichst gut entfalten kann.

Erziehung ist doch auch eine Frage der Tradition - wir vermitteln unseren Kindern jene Werte, von den wir selbst überzeugt sind.
Selbstverständlich können wirtschaftliche Anreize nicht alles erklären, aber Wirtschaft auf der einen Seite und Tradition und Kultur auf der anderen Seite entwickeln sich in einer Art Koevolution. Wenn Eltern in China ihre Kinder sehr streng erziehen, dann kann das nicht allein mit dem Konfuzianismus erklärt werden. Entscheidend dafür ist auch die grosse soziale Ungleichheit in dem Land.

Manche Biologen sagen, das grösste Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen könnten, seien gute Gene.
Gute Gene zu haben, ist nützlich. Aber aus Studien weiss man, dass bei Kindern aus armen Familien mit Fördermassnahmen viel erreicht werden kann. Über die Zeit verbessern sie insbesondere nichtkognitive Eigenschaften wie Geduld und Arbeitshaltung. Den Einfluss der Gene und jenen der Umwelt auseinanderhalten zu wollen, ist naiv - beide sind für die Entwicklung der Kinder wichtig.

Wie unterscheiden sich die Erziehungsstile in verschiedenen Ländern?
In meiner Forscherkarriere habe ich in mehreren Ländern gelebt: in Italien, Spanien, England, Schweden, der Schweiz und jetzt in den USA. Die Unterschiede im Erziehungsstil sind erstaunlich gross. In Schweden sind die Eltern gegenüber ihren Kindern extrem locker. Kommt man aus einer lateinischen Kultur wie ich, könnte man fast den Eindruck haben, dass die Interessen der Kinder zu sehr im Zentrum stehen.

Wir würden Sie den typisch schweizerischen Erziehungsstil beschreiben?
Er ist eine Art Mittelding: nicht so permissiv wie in den nördlichen Ländern Europas, aber nachsichtiger als in Italien, Frankreich oder Spanien. Die Eltern sind besorgt um die Zukunft ihrer Kinder, aber nicht dermassen besessen und auf Erfolg fixiert wie zum Beispiel in den USA.

Wie erklären Sie diese Unterschiede?
Auch dafür sind die soziale Ungleichheit und die damit verbundenen ökonomischen Anreize verantwortlich: Ist der Graben zwischen Arm und Reich in einer Gesellschaft gross, steht in der Erziehung viel auf dem Spiel - Eltern sind dann besonders streng mit ihren Kindern. Hinzu kommen Unterschiede im Schulsystem. Ist der Zugang zur Schule frei und unterscheiden sich die Schulen in ihrer Qualität nicht allzu sehr, wie das insbesondere in Finnland, aber auch in der Schweiz der Fall ist, sind die Eltern entspannter gegenüber ihren Kindern. In den USA ist das völlig anders: Für die berufliche Karriere der Kinder ist nicht nur entscheidend, welche Schulen sie besucht haben, sondern auch, welche ausserschulische Aktivitäten sie belegen können, sei das Musik-, oder Sportunterricht. Das erzeugt grossen Druck - auf die Kinder wie auf die Eltern.

In welchem Land haben Sie mit Ihrer Familie die besten Erfahrungen gemacht?
In Schweden hat unsere Tochter Nora den Kindergarten besucht. Als wir sie am Abend abholten, wollte sie oft noch länger bleiben - so wohl fühlte sie sich. Später in der Schweiz habe ich die Professionalität und das eher akademische Verständnis des Bildungswesens bewundert - etwa die Bemühung, den Schülern in Mathematik solide Grundlagen zu vermitteln. In Schweden wird mehr Wert auf soziale Interaktionen gelegt und die Schule ihrer eigenen Dynamik überlassen, was uns als Eltern bisweilen Sorgen bereitet hat. Aber der wirtschaftliche Erfolg beider Länder zeigt: Beide Systeme bringen junge Menschen hervor, die im Leben sehr gut bestehen können.

Der Einfluss der Eltern

·         1 Stunde mehr pro Tag wenden Eltern in den Niederlanden heute für ihre Kinder auf als im Jahr 1975, in den USA sogar gegen 2 Stunden.
·         563 Punkte erzielten von den Eltern intensiv betreute südkoreanische Kinder im Pisa-Mathematiktest 2012, wenig betreute Kinder kamen auf 540.
·         2017: So lange war in Frankreich die körperliche Bestrafung von Kindern zu Hause legal. In 19 US-Bundesstaaten ist sie in der Schule heute noch zulässig.

Ein Land widerlegt ihre Theorie: In Frankreich ist die soziale Ungleichheit im weltweiten Vergleich klein, trotzdem herrscht dort ein fast autoritärer Erziehungsstil: Weshalb?
Länder mit einer katholischen Tradition wie Frankreich neigen eher zu einem autoritären Erziehungsstil. Hinzu kommt, dass das Schulsystem in Frankreich hierarchisch organisiert ist: Statt dass man Teamwork fördert, werden Schüler darauf getrimmt, das zu tun, was ihnen die Lehrer vorgeben. Und an die guten Hochschulen, insbesondere an die «grandes écoles» - die Ausbildungsstätten für die Führungselite in Staat, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur - schafft es nur, wer ausserordentlich viel leistet. Das mag auch erklären, warum die körperliche Bestrafung von Kindern in Frankreich bis heute verbreitet ist.

Wie gross sind die Unterschiede von Erziehungsstilen innerhalb einer Gesellschaft?
Auch hier ist das Muster ähnlich: Gut ausgebildete und wohlhabende Eltern pflegen einen eher autoritativen, bisweilen permissiven Erziehungsstil. Arme Eltern neigen demgegenüber stärker zu einem autoritären Erziehungsstil. Was sich in Studien klar zeigt: Kinder sind heute viel stärker sozialen Unterschieden ausgesetzt als früher. Fast überall sind die Wohngegenden sozial segregiert, und Kinder, die in einem förderlichen Umfeld aufwachsen, haben auch eine Familie, die sich um sie kümmert. Mit andern Worten: Die Verhältnisse in der Familie reflektieren das soziale Umfeld.

War das früher anders?
Ich bin in Italien in einer Gegend aufgewachsen, wo die untere Mittelklasse, aber auch besser verdienende Menschen wohnten, jetzt lebt dort nur doch die Unterschicht. In Zeiten, in denen der Wettbewerb um gute Aussichten für die Kinder so gross ist wie heute, können ärmere Eltern kaum mehr mithalten. Der Graben zwischen den Eltern wird immer grösser, und er könnte bald einmal zur Falle werden. Nämlich dann, wenn die Eltern in benachteiligten Verhältnissen einfach aufgeben. In den Städten der USA hat die soziale Ungleichheit inzwischen schockierende Ausmasse angenommen.

Wie sieht die Zukunft aus - müssen die Eltern noch mehr investieren, damit ihre Kinder ein erfülltes und erfolgreiches Leben haben können?
Immer mehr traditionelle Jobs werden von Maschinen übernommen - diese Entwicklung wird weitergehen und zunehmend Menschen in den Dienstleistungssektor drängen. Aber auch dort nimmt die Mechanisierung zu, wie das Beispiel der Self-Scanning-Kassen in Einkaufsläden zeigt. Statt sich von den Maschinen verdrängen zu lassen, sollten die Menschen zu einem Glied in der Konstruktion von Maschinen werden. Das bedeutet tatsächlich noch mehr Investitionen in die eigenen Fähigkeiten. Aber man darf das nicht als Konkurrenzkampf begreifen: Nicht jeder kann der Erste sein. Familien kommen nicht darum herum, die Talente ihrer Kinder möglichst gut zu entwickeln. Es braucht aber auch ein Bildungssystem, das jene Fähigkeiten vermittelt, die künftig stärker gefragt sind.

Erziehung zahlt sich aus

Ob in China, in den USA, in Schweden oder in der Schweiz: Eltern wollen stets das Beste für ihre Kinder. Mit welchen Erziehungsmethoden sie dieses Ziel am ehesten erreichen können, hängt indessen nicht nur von ihnen oder dem Einfluss von Jugendpsychologen oder Lehrern ab, sondern auch von den ökonomischen Umständen, in denen sie leben.
Das ist die zentrale These des neuen, erst auf Englisch erschienenen Buchs «Love, Money & Parenting» der beiden renommierten Ökonomen Matthias Doepke und Fabrizio Zilibotti. Doepke stammt aus Deutschland, Zilibotti aus Italien, beide lehren heute als Professoren an amerikanischen Elitehochschulen.

«Statt den Eltern Ratschläge zu erteilen, versuchen wir die Motivation zu verstehen, die ihrem Handeln zugrunde liegt», schreiben die beiden Wirtschaftswissenschafter.
Und da zeigt sich immer wieder dasselbe Muster – in der jüngsten Geschichte, im Vergleich verschiedener Nationen und sogar innerhalb der Gesellschaften: Je grösser die ökonomischen Unterschiede sind, desto mehr können die Eltern in der Erziehung und durch die Bildung ihrer Kinder gewinnen bzw. verlieren. Und je mehr auf dem Spiel steht, desto stärker sehen sich die Eltern bemüssigt, aktiv und manchmal sogar mit Härte in das Lebensschicksal ihrer Kinder einzugreifen.

Luzide, anschaulich und auch für Nichtökonomen stets verständlich erklären Doepke und Zilibotti, warum sich die Erziehungsmethoden der ängstlichen «Helikoptereltern» und der unerbittlichen «Tiger Moms» in der jüngsten Zeit nicht nur in den USA ausgebreitet haben. Sie gehen zurück in die Geschichte und legen dar, dass die Eltern vor hundert Jahren ähnlichen Zwängen ausgesetzt waren wie heute.

Man erfährt aber auch, wie die Industrialisierung die Geschlechterrollen zunächst zementierte, indem sie die Frauen zum Rückzug in den Haushalt zwang. Erst später relativierten Maschinen den physischen Vorteil der Männer. Kognitive und soziale Fähigkeiten gewannen an Ansehen, wodurch für Eltern «Investitionen» in ihre Töchter lohnenswerter wurden.

Eindrücklich warnen die Autoren davor, heute den Graben zwischen den Möglichkeiten reicher und armer Eltern noch grösser werden zu lassen, wozu es ihrer Meinung nach auch staatliche Interventionen braucht.

Doepkes und Zilibottis Buch wird akademischen Standards gerecht, ist aber in erster Linie ein sehr persönliches Werk. Das hat damit zu tun, dass die beiden offenherzig von den Erfahrungen berichten, die sie in ihrer eigenen Jugend sowie mit ihren Familien bei der Forschungsarbeit in Europa, China und den USA gemacht haben. (pim.)

Der italienische Wirtschaftswissenschafter ist Professor für Entwicklungsökonomie an der Yale University. Zilibotti untersucht weltweit, wie sich soziale Ungleichheit auf den Erziehungsstil auswirkt. Bis 2017 war er Professor für Makroökonomie und politische Ökonomie an der Universität Zürich. (pim.)


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