Nach dem
Tod eines Mädchens, das in der Schule gemobbt wurde, fordert die FDP politische
Konsequenzen auf Bundesebene. Der Anti-Mobbing-Experte Wolfgang Kindler spricht
im Interview über die Selbstmordrate der Opfer, Fehler von Eltern und eine neue
Hemmungslosigkeit.
"Schulleiter stellen Mobbing gerne als harmlosen Streit dar", NZZ, 6.2. von Jonas Hermann
Herr Kindler, wie
verbreitet ist Mobbing?
Die
Pisa-Studie besagt, dass 15 Prozent aller Fünfzehnjährigen in ihrer
Klasse gemobbt werden. Das ist aber Unsinn. In der Regel werden in einer Klasse
immer nur ein oder zwei Schüler gemobbt. Es gibt auch Klassen, in denen kein
Mobbing stattfindet. Die Pisa-Studie geht also von einem wirren Mobbing-Begriff
aus, und das ärgert mich, weil dann jede Kleinigkeit als Mobbing gilt. Das ist
problematisch, denn Eltern sehen ihre Kinder dann schnell in der Opferrolle. Da
wird das Kind von einem Fest ausgeschlossen, und schon gilt das als Mobbing.
Tatsächlich ist Mobbing aber viel schlimmer.
Wie definieren Sie den
Begriff?
Mobbing basiert auf
Ungleichheiten, also der Starke gegen den Schwachen oder die Gruppe gegen den
Einzelnen. Wenn das dauerhaft stattfindet, resignieren die Betroffenen. Es
kommt dann zu einer Rollenübernahme: Der Betroffene sieht sich als Opfer und
verändert sich entsprechend, und zwar mit dramatischen Folgen. Es gibt seriöse
Untersuchungen, die zeigen: Wer in der Schule gemobbt wurde, hat als junger
Erwachsener ein dreifach erhöhtes Selbstmordrisiko.
Wie schätzen Sie den Fall
der toten Berliner Schülerin ein, die sich womöglich wegen Mobbing das Leben
nahm?
Das Mädchen hat sicher
Ausgrenzung erfahren, aber ob Mobbing der Anlass für den Selbstmord war, kann
ich aus der Ferne nicht beurteilen.
Der Anti-Mobbing-Experte
Carsten Stahl sagt, er sei bereits an sechs Beerdigungen gewesen, bei denen
Mobbing der Auslöser des Selbstmords war.
Mir ist persönlich kein
entsprechender Fall bekannt, und ich beschäftige mich seit dreissig Jahren mit
dem Thema. Allerdings habe ich mehrfach Suiziddrohungen erlebt. Ich kenne die
erwähnten Fälle nicht, aber ich bin da skeptisch, die Ursachen so eindeutig
zuzuordnen, weil es für einen Selbstmord immer mehrere Faktoren gibt. Das
sollte aber kein Grund sein, Mobbing herunterzuspielen. Manche Eltern sagen zu
ihren Kindern: «Das gibt sich wieder» – aber es gibt sich eben nicht.
Was sollten Eltern tun?
Bloss nicht dem Kind
sagen: «Wehr dich doch!» Das ist das Schlimmste, was man zu einem Opfer sagen
kann. Fast alle Opfer haben sich gewehrt – allerdings erfolglos. Wenn Eltern
sagen: «Du musst dich nur wehren», schieben sie die Schuld letztlich auf ihr Kind.
Und wie soll sich das Kind denn gegen eine Gruppe von sechs oder mehr Leuten
wehren? Aber auch das Dramatisieren von Mobbing hilft niemandem. Ich habe mal
mit einem Jungen gesprochen, der gemobbt wurde, und ihn gefragt, was für ihn
das Schönste wäre, wenn das Mobbing enden würde. Seine Antwort: Dann müsste
meine Mama nicht mehr weinen. Er hat doppelt gelitten, und deshalb sollten
Eltern nicht zu emotional reagieren, sondern nüchtern überlegen, was man tun
kann.
Zum Beispiel?
Kontakt mit der Schule
aufnehmen und sich nie mit vagen Auskünften abspeisen lassen. Wenn der Lehrer
etwa sagt: «Ich rede mal mit der Klasse», wird das nicht funktionieren. Sobald
er vor der Klasse das Opfer öffentlich bedauert, gilt es als Petze und wird
blossgestellt. Eltern sollten sich ganz klar sagen lassen, was die Schule gegen
Mobbing unternehmen wird, denn sehr viele Schulen vertrösten die Eltern nur.
Auch im Zusammenhang mit
dem Berliner Fall wurde der Schule vorgeworfen, Probleme unter den Teppich
gekehrt zu haben.
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