6. Februar 2019

Deutsche FDP fordert Massnahmen gegen Mobbing

Nach dem Tod eines Mädchens, das in der Schule gemobbt wurde, fordert die FDP politische Konsequenzen auf Bundesebene. Der Anti-Mobbing-Experte Wolfgang Kindler spricht im Interview über die Selbstmordrate der Opfer, Fehler von Eltern und eine neue Hemmungslosigkeit.
"Schulleiter stellen Mobbing gerne als harmlosen Streit dar", NZZ, 6.2. von Jonas Hermann


Herr Kindler, wie verbreitet ist Mobbing?
Die Pisa-Studie besagt, dass 15 Prozent aller Fünfzehnjährigen in ihrer Klasse gemobbt werden. Das ist aber Unsinn. In der Regel werden in einer Klasse immer nur ein oder zwei Schüler gemobbt. Es gibt auch Klassen, in denen kein Mobbing stattfindet. Die Pisa-Studie geht also von einem wirren Mobbing-Begriff aus, und das ärgert mich, weil dann jede Kleinigkeit als Mobbing gilt. Das ist problematisch, denn Eltern sehen ihre Kinder dann schnell in der Opferrolle. Da wird das Kind von einem Fest ausgeschlossen, und schon gilt das als Mobbing. Tatsächlich ist Mobbing aber viel schlimmer.

Wie definieren Sie den Begriff?
Mobbing basiert auf Ungleichheiten, also der Starke gegen den Schwachen oder die Gruppe gegen den Einzelnen. Wenn das dauerhaft stattfindet, resignieren die Betroffenen. Es kommt dann zu einer Rollenübernahme: Der Betroffene sieht sich als Opfer und verändert sich entsprechend, und zwar mit dramatischen Folgen. Es gibt seriöse Untersuchungen, die zeigen: Wer in der Schule gemobbt wurde, hat als junger Erwachsener ein dreifach erhöhtes Selbstmordrisiko.

Wie schätzen Sie den Fall der toten Berliner Schülerin ein, die sich womöglich wegen Mobbing das Leben nahm?
Das Mädchen hat sicher Ausgrenzung erfahren, aber ob Mobbing der Anlass für den Selbstmord war, kann ich aus der Ferne nicht beurteilen.

Der Anti-Mobbing-Experte Carsten Stahl sagt, er sei bereits an sechs Beerdigungen gewesen, bei denen Mobbing der Auslöser des Selbstmords war.
Mir ist persönlich kein entsprechender Fall bekannt, und ich beschäftige mich seit dreissig Jahren mit dem Thema. Allerdings habe ich mehrfach Suiziddrohungen erlebt. Ich kenne die erwähnten Fälle nicht, aber ich bin da skeptisch, die Ursachen so eindeutig zuzuordnen, weil es für einen Selbstmord immer mehrere Faktoren gibt. Das sollte aber kein Grund sein, Mobbing herunterzuspielen. Manche Eltern sagen zu ihren Kindern: «Das gibt sich wieder» – aber es gibt sich eben nicht.

Was sollten Eltern tun?
Bloss nicht dem Kind sagen: «Wehr dich doch!» Das ist das Schlimmste, was man zu einem Opfer sagen kann. Fast alle Opfer haben sich gewehrt – allerdings erfolglos. Wenn Eltern sagen: «Du musst dich nur wehren», schieben sie die Schuld letztlich auf ihr Kind. Und wie soll sich das Kind denn gegen eine Gruppe von sechs oder mehr Leuten wehren? Aber auch das Dramatisieren von Mobbing hilft niemandem. Ich habe mal mit einem Jungen gesprochen, der gemobbt wurde, und ihn gefragt, was für ihn das Schönste wäre, wenn das Mobbing enden würde. Seine Antwort: Dann müsste meine Mama nicht mehr weinen. Er hat doppelt gelitten, und deshalb sollten Eltern nicht zu emotional reagieren, sondern nüchtern überlegen, was man tun kann.

Zum Beispiel?
Kontakt mit der Schule aufnehmen und sich nie mit vagen Auskünften abspeisen lassen. Wenn der Lehrer etwa sagt: «Ich rede mal mit der Klasse», wird das nicht funktionieren. Sobald er vor der Klasse das Opfer öffentlich bedauert, gilt es als Petze und wird blossgestellt. Eltern sollten sich ganz klar sagen lassen, was die Schule gegen Mobbing unternehmen wird, denn sehr viele Schulen vertrösten die Eltern nur.

Auch im Zusammenhang mit dem Berliner Fall wurde der Schule vorgeworfen, Probleme unter den Teppich gekehrt zu haben.
Das passiert ständig. Wenn ein Lehrer eine Klasse hat, in der gemobbt wird, und er nichts davon merkt, ist das immer auch Ausdruck dafür, dass die Kommunikation zwischen Lehrer und Klasse nicht funktioniert. Das wollen viele nicht wahrhaben. Schulleiter stellen Mobbing auch gerne als harmlosen Streit dar, weil sie um den Ruf der Schule fürchten.

Nach dem Fall in Berlin werden politische Massnahmen gefordert. Die FDP appelliert an die Bundesbildungsministerin und will das Thema Mobbing in der Ausbildung von Lehrern verankern.
Das ist nicht verkehrt. Ich war sechs Jahre in der Lehrerausbildung tätig, und in allen Studienseminaren war zumindest das Thema Gewalt Teil der Ausbildung.

Wie hat sich Mobbing im Lauf der Zeit gewandelt?
Neu sind die Willkür und die Hemmungslosigkeit, was daran liegt, dass es immer weniger verbindliche Werte gibt, die von allen geteilt werden. Als ich jung war, wurde ein Mitschüler wegen seiner Frisuren geärgert, aber da gab es Grenzen. Heute sagt keiner mehr: «Das geht nicht», denn es geht inzwischen alles. Heute werden sogar die Eltern attackiert, oder es werden Todesdrohungen ausgesprochen.

Und mittlerweile können die Täter ihre Opfer nicht nur in der Schule, sondern rund um die Uhr traktieren.
Die Medien tragen sicher zur Hemmungslosigkeit bei. Dreizehnjährige verschicken nachts um halb drei Gemeinheiten per Whatsapp. Ich teile da die These von Manfred Spitzer: Wenn Menschen zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, verlieren sie die Möglichkeit, empathisch zu denken. Im direkten Kontakt kann ich das Gesicht des anderen deuten. Je weniger ich aber solchen Kontakt habe, desto weniger entwickle ich solche Deutungsfähigkeiten. Die Kinder agieren heute weniger empathisch als früher.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen