Die
Geschichte der abendländischen Bildung beweist es: Kinder lernen heute nicht
anders als vor 100 oder auch 200 Jahren. Sie haben im Grunde keine anderen
Bedürfnisse, wenn man ihnen in Elternhaus und Schule genügend
Entfaltungsmöglichkeiten für ihr Lernen und für das Spiel mit anderen bietet.
Was hingegen schnell und nachhaltig gelingt, ist die Möglichkeit, Kinder auf
Bildschirmmedien und auf passiven Konsum zu lenken. Dabei sind fast immer
kommerzielle Interessen im Spiel. Anders gesagt, heisst das: Nicht der Mensch
mit seinen Anlagen und Bedürfnissen hat sich gewandelt, sondern vielmehr der
Markt, der mit der Vielfalt seiner Angebote, schon bei Kleinkindern, durch die
Werbung Bedürfnisse erst weckt. Und die Eltern? Sie unterstützen das Ganze,
wenn sie ihre Kinder, vielfach aus Unwissenheit, Nachgiebigkeit oder
Bequemlichkeit, vor Bildschirmen und Displays «parken».
Was Kinder wirklich brauchen, Basellandschaftliche Zeitung, 8.1. von Mario Andreotti
Statt
Kindergärten und Primarschulen mit Smartphones und Tablets hochzurüsten,
sollten wir Kindern wieder Zeit und Raum für ihre altersgerechte Entwicklung
mit altersgemässen Lehrmitteln einräumen. Kindergärten und Primarschulen, vor
allem in der Unterstufe, brauchen Spielzeugkästen, Pinsel und Farben,
Bleistifte und
Papier, Rhythmus- und Klanginstrumente, Spielzimmer und grosse Pausenhöfe, Zeit
zum Zuhören und Erzählen, zum Singen, Malen und Spielen – keine Smartphones und
Tablets.
Die erste
These von Gerald Lembke und Ingo Leipner in ihrem Buch «Die Lüge der digitalen Bildung»
lautet denn auch zu Recht: «Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins
digitale Zeitalter.» Tablet-Computer haben in Kindergarten und Primarschule in
der Tat nichts zu suchen, stellten doch Kinderärzte bereits fest, dass die
intensive Nutzung digitaler Medien bei Kindern zu Sprachstörungen führt. Sie
verhindert oder verlangsamt zumindest die Sprachentwicklung und das
Sozialverhalten.
Es ist
eine pädagogische Binsenwahrheit: Mit Kindern muss man sprechen, damit sie
selber sprechen und so ihren Wortschatz und ihr Sprachgefühl entwickeln.
«Sprich mit mir» ist eine grundlegende Forderung von Kindern an ihre Eltern,
denn das Ich-Bewusstsein entwickelt sich nur in Kommunikation mit dem Du, wie
schon der jüdische Dialogphilosoph Martin Buber gelehrt hat.
Wenn
Eltern das persönliche Gespräch mit dem Kind vernachlässigen, weil sich die
digitale Kommunikation mit dem Smartphone in den Vordergrund drängt, der
ständige Blick auf das Display unbemerkt zur Routine wird, dann fehlt das
Allerwichtigste, was das Kind benötigt, um gesund aufwachsen, sich geistig und
emotional entwickeln zu können: die Kommunikation mit seinen engsten
Bezugspersonen – den Eltern.
Neuere
entwicklungs- und lernpsychologische Studien belegen es: Kinder sollten eine
gewisse intellektuelle Entwicklung durchlaufen haben, zu der Wahrnehmung,
Gedächtnisleistung und Sprachbeherrschung gehören, bevor sie sinnvoll an
Computern arbeiten und mit Smartphones umgehen können.
Das dürfte
realistischerweise nicht vor dem zwölften Lebensjahr der Fall sein. Vorher kann
die Konfrontation mit digitalen Medien den Schülerinnen und Schülern mehr
schaden als
nützen.
«Natürlich müssen wir unseren Schülern auch den Umgang mit den neuen Medien
beibringen. Aber wir dürfen damit nicht schon in der Grundschule anfangen,
nicht in jedem Schulfach und wir brauchen keine Laptop-Klassen», sagt Josef
Kraus, der Präsident des deutschen Lehrerverbandes. Er wirft der Politik vor,
aus rein ökonomischen Überlegungen nur an die Förderung der Digitalisierung zu
denken. Stattdessen wäre es sinnvoller, in Schulbibliotheken zu investieren, um
die Lesefähigkeit der Kinder zu fördern. Denn Lesen ermöglicht Lernen.
Zwar gibt
es bereits Gegenstimmen, die behaupten, digitale Bildung sei in Zukunft ganz
ohne die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen zu erwerben. Doch der
Blick auf Kinder mit zum Teil erheblichen Leseschwächen, die zu
Lernschwierigkeiten, Schulversagen und letztlich zu Problemen im späteren Erwerbsleben
führen, zeichnet ein anderes Bild. Das müsste uns endlich hellhörig machen.
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