Jeder Schüler in der Schweiz soll es erleben,
mindestens einmal in seiner Ausbildung: einen Aufenthalt in einer anderen
Sprachregion. Diese «Vision» haben Bund und Kantone vor einem Jahr formuliert.
Der Bundesrat hat die Zielvorgabe kurz vor Weihnachten bekräftigt. Ein
Sprachaustausch fördere nicht nur die Sprachkompetenz, schrieb die
Landesregierung in einem Bericht. Er diene auch dem Austausch zwischen den
Sprachregionen, lies: dem Zusammenhalt des Landes.
Grosse Unterschiede beim Austausch, Basler Zeitung, 5.1. von Markus Häfliger und Raphaela Birrer
Der
Bericht ist im Auftrag der nationalrätlichen Bildungskommission entstanden.
Hintergrund ist der Sprachenstreit: In mehreren Kantonen gab es in den letzten
Jahren Bestrebungen, das Frühfranzösisch abzuschaffen. Das Volk stoppte die
Pläne jedoch überall an der Urne – der nationalen Kohäsion zuliebe. Sprachaufenthalte,
hiess es in der hitzigen Diskussion, motivierten für den Spracherwerb und
müssten gefördert werden.
Doch
die Realität ist von der politischen Vision weit entfernt. Das zeigen Zahlen
der nationalen Agentur Movetia. Diese ist von Bund und Kantonen beauftragt, den
Schüleraustausch national und international zu fördern. Demnach haben im
Schuljahr 2016/2017 zwar über 17 000 Schüler an einem Austausch in einem
anderen Landesteil oder im Ausland teilgenommen. Das sind aber nur zwei Prozent
aller Schüler der 1. bis 12. Klasse. Der Bundesrat konstatiert darum, es gebe
beim Sprachaustausch «grosses Entwicklungspotenzial».
Hinzu
kommen massive Unterschiede zwischen den Kantonen. Erstmals hat diese Zeitung
für die einzelnen Kantone einen relativen Austauschindex errechnet: Wie verhält
sich die Zahl der gemeldeten Austausche im Vergleich zur gesamten Schülerzahl?
Auf diese Weise werden schülerreiche Kantone statistisch nicht bevorteilt.
Den
Spitzenplatz erreicht Schaffhausen mit 6,8 Prozent. Innerhalb eines Schuljahrs
hat rund jeder 15. Schaffhauser Schüler an einer Form von Austausch
teilgenommen. «Wegen der geringen Kantonsgrösse können viele Lehrer direkt dazu
motiviert werden», sagt der kantonale Austauschverantwortliche Xavier Turpain.
Zudem würden Austausche zusätzlich zu den Movetia-Mitteln über den
Lotteriegewinn-Fonds gefördert, damit die Klassen selber kein Geld organisieren
müssten. Eine Information über ein Mailing sowie eine Online-Anleitung für den
Austausch ergänzen das Angebot. «Unser Ziel ist es, dass fast jede Schule eine
welsche Partnerschule findet», sagt Turpain.
Den
Schluss der Rangliste bildet der Wirtschaftskanton Zürich mit nur 0,5 Prozent.
Pikant: Ausgerechnet die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner (CVP)
präsidiert die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), die federführend bei der
Sprachaustausch- «Vision» war (siehe Box). Noch tiefer als in Zürich ist die
Mobilität nur in Appenzell-Innerrhoden und Solothurn. Der erste Kanton hat gar
keine Zahlen gemeldet, der zweite nur jene der Gymnasiasten – eine wenig
aussagekräftige Statistik.
Der
«politische Wille»
Die
enormen Unterschiede seien teils historisch oder kulturell bedingt, sagt
Movetia-Direktor Olivier Tschopp. So pflegen zweisprachige Kantone den
Sprachaustausch traditionell stärker. Doch er hänge auch «stark vom politischen
Willen ab», sagt Tschopp, und deshalb letztlich «vielerorts zu stark von einzelnen,
motivierten Lehrern».
Als
nationales Vorbild gilt das Wallis. Schon 1991 schuf der Kanton ein Büro für
Sprachaustausch. Zuerst organisierte es den Austausch zwischen dem Ober- und
dem Unterwallis. Als der französischsprachige Kantonsteil aber im kleineren
Oberwallis nicht mehr genügend Partnerklassen fand, wurde das Programm «2
langues – 1 Ziel» auf die Berner Schulen ausgeweitet. Es dauert neun Tage und
findet in der 7. Klasse statt. Während dieser Zeit besuchen sich in Halbklassen
aufgeteilte Schülergruppen wechselseitig. Im Wallis nehmen neu alle Oberstufen
zeitgleich teil. In Bern ist die Teilnehmerzahl innert elf Jahren von null auf
rund 3400 Austausche pro Jahr gestiegen.
Von
einer Vollabdeckung wie im Wallis ist Bern aber weit entfernt. Der Kanton
rangiert beim Austauschindex in der hinteren Hälfte. Laut dem Berner
Austauschkoordinator Thomas Raaflaub müssen die Movetia-Zahlen aber relativiert
werden. Er kritisiert, dass deren Statistik teilweise Äpfel mit Birnen
vergleiche – etwa wenn sie niederschwellige Austauschformen einem neuntägigen
Vollprogramm wie «2 langues – 1 Ziel» gleichsetze. Tatsächlich werden in der
Statistik je nach Kanton unterschiedliche Daten erfasst. So registriert Zürich
etwa nur Austausche, die mit Kantonsgeldern und nicht auf Gemeindeebene
finanziert wurden. Movetia erhebt zwar nur physische Austausche und keine
niederschwelligen Formen wie Briefwechsel. Sie bestätigt aber, dass ihre Zahlen
«zurzeit nichts über die Qualität der Programme aussagen». Es sei jedoch Aufgabe
der Kantone, die Statistik zu verbessern, sagt Tschopp. Nur so könne die
Austauschintensität in der Schweiz abgebildet werden – und nur so kämen sie
letztlich ihrem politischen Auftrag nach, die Mobilität zwischen den
Landesteilen zu fördern.
Entscheidend
für den Erfolg des Austauschs seien auch die personellen Ressourcen, die der
Kanton dafür einsetze, sagt Sandra Schneider, Leiterin des Walliser Büros für
Sprachaustausch. «Die Lehrer haben zu viel anderes zu tun, um das auch noch zu
organisieren.» Ihr Büro ist mit 220 Stellenprozenten dotiert. Zum Vergleich: Im
dreimal grösseren Kanton Bern teilen sich zwei Koordinatoren hundert
Stellenprozente, in Zürich gibt es dafür gerade einmal fünf bis zehn
Stellenprozente.
Zudem
brauche es «die Koordination von oben», um die Kontakte zwischen den Kantonen
zu organisieren, ergänzt Raaflaub. So habe die Gründung von Movetia (siehe Box)
dem Austausch Schub verliehen. Derzeit baut Movetia neue Programme auf. Zudem
subventioniert sie den Klassenaustausch mit Tagespauschalen direkt. Eine halbe
Million Franken erhält sie dafür vom Bund. Das ist wenig im Vergleich zu den
über 30 Millionen Franken, die sie für den internationalen Austausch und die
Mobilität auf allen Bildungsstufen einsetzen kann. Doch nun soll Movetia nach dem
Willen des Bundesrats auch für die innerschweizerische Mobilität mehr Mittel
erhalten – im Rahmen der Kulturbotschaft 2021–2024. Das entspricht auch der
«Vision» von Bund und Kantonen: «Die Mittel der öffentlichen Hand», heisst es
in der Austausch-Strategie, «müssen eine substanzielle Steigerung erfahren.»
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