6. Januar 2019

Sprachaustausch: "Grosses Entwicklungspotenzial"


Jeder Schüler in der Schweiz soll es erleben, mindestens einmal in seiner Ausbildung: einen Aufenthalt in einer anderen Sprachregion. Diese «Vision» haben Bund und Kantone vor einem Jahr formuliert. Der Bundesrat hat die Zielvorgabe kurz vor Weihnachten bekräftigt. Ein Sprachaustausch fördere nicht nur die Sprachkompetenz, schrieb die Landesregierung in einem Bericht. Er diene auch dem Austausch zwischen den Sprachregionen, lies: dem Zusammenhalt des Landes.
Grosse Unterschiede beim Austausch, Basler Zeitung, 5.1. von Markus Häfliger und Raphaela Birrer


Der Bericht ist im Auftrag der nationalrätlichen Bildungskommission entstanden. Hintergrund ist der Sprachenstreit: In mehreren Kantonen gab es in den letzten Jahren Bestrebungen, das Frühfranzösisch abzuschaffen. Das Volk stoppte die Pläne jedoch überall an der Urne – der nationalen Kohäsion zuliebe. Sprachaufenthalte, hiess es in der hitzigen Diskussion, motivierten für den Spracherwerb und müssten gefördert werden.

Doch die Realität ist von der politischen Vision weit entfernt. Das zeigen Zahlen der nationalen Agentur Movetia. Diese ist von Bund und Kantonen beauftragt, den Schüleraustausch national und international zu fördern. Demnach haben im Schuljahr 2016/2017 zwar über 17 000 Schüler an einem Austausch in einem anderen Landesteil oder im Ausland teilgenommen. Das sind aber nur zwei Prozent aller Schüler der 1. bis 12. Klasse. Der Bundesrat konstatiert darum, es gebe beim Sprachaustausch «grosses Entwicklungspotenzial».

Hinzu kommen massive Unterschiede zwischen den Kantonen. Erstmals hat diese Zeitung für die einzelnen Kantone einen relativen Austauschindex errechnet: Wie verhält sich die Zahl der gemeldeten Austausche im Vergleich zur gesamten Schülerzahl? Auf diese Weise werden schülerreiche Kantone statistisch nicht bevorteilt.

Den Spitzenplatz erreicht Schaffhausen mit 6,8 Prozent. Innerhalb eines Schuljahrs hat rund jeder 15. Schaffhauser Schüler an einer Form von Austausch teilgenommen. «Wegen der geringen Kantonsgrösse können viele Lehrer direkt dazu motiviert werden», sagt der kantonale Austauschverantwortliche Xavier Turpain. Zudem würden Austausche zusätzlich zu den Movetia-Mitteln über den Lotteriegewinn-Fonds gefördert, damit die Klassen selber kein Geld organisieren müssten. Eine Information über ein Mailing sowie eine Online-Anleitung für den Austausch ergänzen das Angebot. «Unser Ziel ist es, dass fast jede Schule eine welsche Partnerschule findet», sagt Turpain.

Den Schluss der Rangliste bildet der Wirtschaftskanton Zürich mit nur 0,5 Prozent. Pikant: Ausgerechnet die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner (CVP) präsidiert die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), die federführend bei der Sprachaustausch- «Vision» war (siehe Box). Noch tiefer als in Zürich ist die Mobilität nur in Appenzell-Innerrhoden und Solothurn. Der erste Kanton hat gar keine Zahlen gemeldet, der zweite nur jene der Gymnasiasten – eine wenig aussagekräftige Statistik.
Der «politische Wille»
Die enormen Unterschiede seien teils historisch oder kulturell bedingt, sagt Movetia-Direktor Olivier Tschopp. So pflegen zweisprachige Kantone den Sprachaustausch traditionell stärker. Doch er hänge auch «stark vom politischen Willen ab», sagt Tschopp, und deshalb letztlich «vielerorts zu stark von einzelnen, motivierten Lehrern».

Als nationales Vorbild gilt das Wallis. Schon 1991 schuf der Kanton ein Büro für Sprachaustausch. Zuerst organisierte es den Austausch zwischen dem Ober- und dem Unterwallis. Als der französischsprachige Kantonsteil aber im kleineren Oberwallis nicht mehr genügend Partnerklassen fand, wurde das Programm «2 langues – 1 Ziel» auf die Berner Schulen ausgeweitet. Es dauert neun Tage und findet in der 7. Klasse statt. Während dieser Zeit besuchen sich in Halbklassen aufgeteilte Schülergruppen wechselseitig. Im Wallis nehmen neu alle Oberstufen zeitgleich teil. In Bern ist die Teilnehmerzahl innert elf Jahren von null auf rund 3400 Austausche pro Jahr gestiegen.
Von einer Vollabdeckung wie im Wallis ist Bern aber weit entfernt. Der Kanton rangiert beim Austauschindex in der hinteren Hälfte. Laut dem Berner Austauschkoordinator Thomas Raaflaub müssen die Movetia-Zahlen aber relativiert werden. Er kritisiert, dass deren Statistik teilweise Äpfel mit Birnen vergleiche – etwa wenn sie niederschwellige Austauschformen einem neuntägigen Vollprogramm wie «2 langues – 1 Ziel» gleichsetze. Tatsächlich werden in der Statistik je nach Kanton unterschiedliche Daten erfasst. So registriert Zürich etwa nur Austausche, die mit Kantonsgeldern und nicht auf Gemeindeebene finanziert wurden. Movetia erhebt zwar nur physische Austausche und keine niederschwelligen Formen wie Briefwechsel. Sie bestätigt aber, dass ihre Zahlen «zurzeit nichts über die Qualität der Programme aussagen». Es sei jedoch Aufgabe der Kantone, die Statistik zu verbessern, sagt Tschopp. Nur so könne die Austauschintensität in der Schweiz abgebildet werden – und nur so kämen sie letztlich ihrem politischen Auftrag nach, die Mobilität zwischen den Landesteilen zu fördern.

Entscheidend für den Erfolg des Austauschs seien auch die personellen Ressourcen, die der Kanton dafür einsetze, sagt Sandra Schneider, Leiterin des Walliser Büros für Sprachaustausch. «Die Lehrer haben zu viel anderes zu tun, um das auch noch zu organisieren.» Ihr Büro ist mit 220 Stellenprozenten dotiert. Zum Vergleich: Im dreimal grösseren Kanton Bern teilen sich zwei Koordinatoren hundert Stellenprozente, in Zürich gibt es dafür gerade einmal fünf bis zehn Stellenprozente.

Zudem brauche es «die Koordination von oben», um die Kontakte zwischen den Kantonen zu organisieren, ergänzt Raaflaub. So habe die Gründung von Movetia (siehe Box) dem Austausch Schub verliehen. Derzeit baut Movetia neue Programme auf. Zudem subventioniert sie den Klassenaustausch mit Tagespauschalen direkt. Eine halbe Million Franken erhält sie dafür vom Bund. Das ist wenig im Vergleich zu den über 30 Millionen Franken, die sie für den internationalen Austausch und die Mobilität auf allen Bildungsstufen einsetzen kann. Doch nun soll Movetia nach dem Willen des Bundesrats auch für die innerschweizerische Mobilität mehr Mittel erhalten – im Rahmen der Kulturbotschaft 2021–2024. Das entspricht auch der «Vision» von Bund und Kantonen: «Die Mittel der öffentlichen Hand», heisst es in der Austausch-Strategie, «müssen eine substanzielle Steigerung erfahren.»


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