27. Januar 2019

Primarschule am besten ohne Computer


Die Frage, ob digitale Medien den Bildungsalltag für Lernende und Lehrende verbessern und nachhaltiger gestalten können, beschäftigt nicht nur die Forschung, sondern auch den öffentlichen Diskurs.
Der beste Start ins digitale Zeitalter findet ohne Computer statt, Öffentliches Fachgespräch zum Thema "Digitalisierung in Schule, Ausbildung und Hochschule", 17.10. 2018, von Gerald Lembke



"Die Digitalisierung ist alternativlos." "Die Zukunft Deutschlands liegt in der Digitalisierung." "Es muss endlich ein digitaler Ruck durch unser Land gehen." Die Aussagen von Politikerinnen und Politikern sowie Vertreterinnen und Vertretern der IT-Branche klingen unisono und die Medien wiederholen das Mantra der digitalen Alternativlosigkeit, als hätten wir zeitlebens etwas verpasst, was nun mit Druck nachgeholt werden müsse. Vor diesem Hintergrund wird aktuell kaum ein Thema in der Bildungswelt so heftig diskutiert wie das der digitalen Bildung. Nachdem die Digitalisierung mit Smartphones seit 2007 Einzug in deutsche Hosen- und Handtaschen erhalten hat, soll nun auch der Bildungssektor flächendeckend "digitalisiert" werden. Wie ist die "digitale Bildung" heute und für die Zukunft zu bewerten?  

Was ist guter Unterricht?
Was ist eigentlich guter Unterricht und welchen Beitrag können digitale Medien dabei leisten oder nicht? Eine Antwort darauf liefert die Metastudie des Bildungsforschers John A. C. Hattie[1]. In über 50.000 internationalen Studien über 15 Jahre forschte Hattie zu dieser Frage. Daneben formulierte der Wissenschaftler Hilbert Meyer unabhängig von Hattie eine Übersicht der "Zehn Merkmale guten Unterrichts". Beide kommen trotz unterschiedlicher Forschungsdesigns zu überraschend ähnlichen Ergebnissen: Die förderlichsten Punkte für einen guten Unterricht sind demnach "transparente Leistungserwartung" (Feedback), "klare Strukturierung und inhaltliche Klarheit der Lerninhalte" (Roter Faden), "Lehrer-SchülerVerhältnis" (Lernklima), "kooperatives Lernen" (Methodenvielfalt). 

Chancen und Nebenwirkungen digitaler Bildungskonzepte
Welche Bedeutung digitale Medien und digitale Endgeräte wie Computer, Smartphones, Tablets, Online-Netzwerke und das Internet im Schulunterricht und in der universitären Lehre haben, muss kontrovers diskutiert werden.
 
Befürworterinnen und Befürworter digitaler Bildungskonzepte betonen die Chancen des Einsatzes, den sie vor allem in der Individualisierung (Bildungsniveau abhängig vom Lernenden), in der Demokratisierung von Bildungschancen (Bildung für alle) und in der Verbesserung des Unterrichts (Smartboard-Einsatz, "Bring your own Device") sehen. Es mangelt weiterhin an Antworten, ob der Einsatz die Lernleistung fördert. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass Hard- und Software Bildung grundsätzlich verbessern können. Der Blick in wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Frage liefert Ernüchterung. So zeigen empirische Befunde[2], dass konkret der Einsatz von Laptops und mobilen Geräten im Unterricht die Lernleistungen nicht verbessert. Unter bestimmten Voraussetzungen kommt es sogar zur Verschlechterung der Lernergebnisse[3]. Diese werden bei bestimmten Schülerpersönlichkeiten vor allem durch das hohe Ablenkungs- und Suchtpotenzial eines exzessiven Digitalkonsums determiniert.
 
In einer jüngeren Studie wird darauf verwiesen, dass "(...) die Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an."[4] Die meisten Lehrenden besitzen laut dieser Untersuchung keine digitalen Kompetenzen.[5] Daher gibt es auch keine umfassenden Ansätze, wie digitale Medien den Unterricht verbessern können. Theoretisch wird die Frage des "Wie" des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht allerdings durch das "Ob" determiniert. Wenn es auf breiter pädagogischer Praxis keine positiven Effekte gibt, wozu sollten Lehrerinnen und Lehrer digitale Kompetenzen entwickeln? Auf der anderen Seite zeigt eine OECD-Studie, dass ein überdurchschnittlich guter Unterricht durch ergänzende digitale Medien noch besser werden kann.[6] Dies gilt unter anderem für Fächer, die didaktisch einen hohen Problemlösungsansatz verfolgen. Genannt werden das Fach Mathematik und die Methode des projektbasierten und gruppenorientierten Lernens. Wenn beide didaktisch auf real existierende Probleme ausgerichtet werden, liefern digitale Medien in einer derartigen Lerngruppe Simulationen und einfachere Informationszugänge.[7]

Erkenntnisse aus der Kognitions- und neurowissenschaftlichen Forschung
Eines der größten Risiken ist die dauerhafte und erhöhte Nutzung digitaler Medien im Schulunterricht, da kognitive Fähigkeiten, nämlich das eigenständige Konstruieren von Wissen, verlorengehen können. Dies liegt daran, dass sich Wissen nicht mehr durch arbeitsintensives Lernen gestaltet, sondern lediglich Erfahrungswissen unreflektiert auf ein Thema oder eine Problemlösung rezipiert wird. Die für ein langfristig wirkendes Lernergebnis notwendigen neuronalen Verknüpfungen von Synapsen finden durch einfache Handlungskopie deutlich weniger statt als durch das selbständige Erarbeiten von Zusammenhängen und deren Anwendung in unterschiedlichen Kontexten. Dass dies mit persönlichen Aufwand und Anstrengung verbunden ist, liegt auf der Hand. Digitale Medien verleiten hingegen zur Reduzierung dieses Aufwandes und damit zur Reduzierung eines langfristig wirkungsfähigen Lernergebnisses.
 
Als Beispiel ist das bei vielen Schülerinnen und Schülern praktizierte "YouTube-Lernen" genannt. Kurzvideos liefern pragmatische Lösungsanweisungen, sind aber häufig nicht einem übergeordneten Lernkontext zugeordnet. Gezeigte Informationen werden für den punktuellen Gebrauch angewandt und wieder vergessen. Denk- und Handlungsalternativen bilden sich nicht weiter aus.
  
Die Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt hat bei der Nutzung digitaler Angebote von Schülerinnen und Schülern bis zum 12. Lebensjahr gar Hirnrhythmusstörungen festgestellt, die sich in Form von Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen ausdrücken: "Die größte Gefahr digitaler Medien ist es, dass unser Gehirn aus dem eigenen Rhythmus gebracht wird, und zwar auf der Ebene unbewusster Vorgänge, wie sie im limbischen System ablaufen. Denn unser Denkapparat kann durch Reizüberflutung und ständige Erreichbarkeit massiv überfordert sein, wenn es um die Wahrnehmung und Verarbeitung der vielfältigen Signale geht, die aus der realen und virtuellen Welt auf uns einprasseln."[8]

Eine Studie, die 2016 im Auftrag der Krankenkasse DAK durchgeführt wurde, bestätigt zudem, dass Konzentrationsschwäche, Verhaltensauffälligkeiten, Bewegungsdefizite und damit einhergehende gesundheitliche Probleme bei Kindern in der Grundschule in den letzten zehn Jahren stark zugenommen haben. 91 Prozent der 500 befragten Lehrkräfte (Klasse 1 bis 6) bezeichnen als wichtigste Ursache die mediale Reizüberflutung durch Fernsehen, Computer und Co., und dies unabhängig vom Alter der Lehrkraft. Auch jüngere Lehrende (unter 39) machen offenbar diese Beobachtungen in Ihrem Berufsalltag.[9] Mit Abstand folgen die Faktoren "Erwartungsdruck seitens der Eltern" und "zu wenig selbstbestimmte freie Zeit".
 
Voraussetzungen für eine digitalorientierte Medienkompetenz
Aufgrund der neurowissenschaftlichen und entwicklungsbiologischen Erkenntnisse ist ein weitgehender Verzicht auf digitale Medien im schulischen Umgang bis zum 12. Lebensjahr für die persönliche und kognitive Entwicklung des Kindes deutlich förderlicher. Es ist daher für zahlreiche digitalfreie Zonen in einer flächendeckenden Digitalstrategie zu plädieren. Damit werden Kindern und Lehrenden die besten Lernumgebungen ermöglicht. 

Der beste Start in das digitale Zeitalter ist eine Grundschule ohne Computer.[10] Gleiches gilt für den Umgang mit digitalen Medien zu Hause in der Familie. Sowohl im Privaten als auch in Schule sollte der Umgang kontrolliert und begleitet werden. Für die Schule gilt dies nach wie vor auch ab einem Alter von 12 Lebensjahren. Auch wenn hier die kognitiven Fähigkeiten und die Impulskontrolle weiterentwickelt sind, ist eine enge pädagogische Begleitung seitens der Lehrkräfte erforderlich. Hierfür sind Lehrkräfte für den Einsatz digitaler Medien weiterzubilden. Wichtig erscheint mir bei dieser Forderung, dass es nicht darum gehen kann, Lehrkräfte die Bedienung digitaler Medien beizubringen. Es geht im Besonderen darum, das eigene Fach aus einer fachdidaktischen Perspektive methodisch zu reflektieren. Darin sollte es allerdings nicht zwingend um den Einsatz von digitalen Medien gehen, sondern um die weitere Verbesserung von Unterricht. Als künftige Fachdidaktikerin und Fachdidaktiker ist zu entscheiden, wie die heutigen Lernziele unter Berücksichtigung aller didaktischen und pädagogischen Methoden, die einer Lehrkraft zur Verfügung stehen, mit höchstem Lernerfolg erreicht werden können. Diese Frage wird vermutlich auch in Zukunft viele Lehrkräfte ohne Zuhilfenahme von digitalen Medien beantworten können.  

Der Umgang in der pädagogischen Praxis
Wo Smartphones Unterricht erschweren und verhindern, können auch Verbote ein probates Mittel sein, um schlechte Angewohnheiten und Routinen seitens der Schülerinnen und Schüler zu durchbrechen. Meist schaden Verbote jedoch mehr als sie nutzen. Die Gefahren des exzessiven Digitalkonsums schlummern in allen Schulen. Nur ein kritischer Diskurs zwischen Eltern, Lernenden, Lehrenden und der Schulleitung kann zu einer Lösung führen. So ist es beispielsweise in meinen Vorlesungen geschehen: Computer wurden in den Vorlesungen nicht verboten, ihre Nutzung jedoch stark eingeschränkt. Doch das entscheidet in meinem Studiengang jede und jeder Lehrbeauftragte in seinem Fach autonom. Eine frühere, flächendeckende Versorgung mit Laptops und Tablets gibt es heute an meinem Studiengang allerdings nicht mehr. Die Studierenden haben sich nach der Reduzierung von digitaler Hardware wiederholt dankbar gezeigt. Denn mit der Reduzierung sei mehr Ruhe und Aufmerksamkeit in den Vorlesungen eingetreten. Und der Erfolg der Maßnahme setzte sich in den Durchschnittsnoten positiv fort. 
Weiterführende Literatur: 
 Bleckmann, P. (2012): Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen. Klett - Cotta, Stuttgart.
 Lankau, R. (2016): Die Demaskierung des Digitalen durch ihre Propheten. Computer und Computerstimme als Erzieher? Eine Digitaleuphorie als Dystopie, Kommentar zu einem Artikel von Prof. Breithaupt in der ZEIT Nr. 5 vom 28. Januar 2016, Online s.o.
 Markowetz, A. (2015): Digitaler Burnout, München.
 Meyer, H. (2014) Was ist guter Unterricht. Berlin.
 MPFS – Medienpädagogischer Forschungs-Bund Südwest: JIM-Studie 2016: Jugend, Information, (Multi-) Media, Stuttgart.
 Prenzel, M./Allolio-Näcke, L. (Hg.): Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. Münster 2006.  Spitzer, M. (2015): Über vermeintlich neue Erkenntnisse zu den Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik, Psychologische Rundschau 66(2): 114-123.

Dieser Text für meine Stellungnahme ist erstmalig auf werkstatt.bpb.de der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.

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