Die
Frage, ob digitale Medien den Bildungsalltag für Lernende und Lehrende
verbessern und nachhaltiger gestalten können, beschäftigt nicht nur die
Forschung, sondern auch den öffentlichen Diskurs.
Der beste Start ins digitale Zeitalter findet ohne Computer statt, Öffentliches Fachgespräch zum Thema "Digitalisierung in Schule, Ausbildung und Hochschule", 17.10. 2018, von Gerald Lembke
"Die
Digitalisierung ist alternativlos." "Die Zukunft Deutschlands liegt
in der Digitalisierung." "Es muss endlich ein digitaler Ruck durch
unser Land gehen." Die Aussagen von Politikerinnen und Politikern sowie
Vertreterinnen und Vertretern der IT-Branche klingen unisono und die Medien
wiederholen das Mantra der digitalen Alternativlosigkeit, als hätten wir
zeitlebens etwas verpasst, was nun mit Druck nachgeholt werden müsse. Vor
diesem Hintergrund wird aktuell kaum ein Thema in der Bildungswelt so heftig
diskutiert wie das der digitalen Bildung. Nachdem die Digitalisierung mit
Smartphones seit 2007 Einzug in deutsche Hosen- und Handtaschen erhalten hat,
soll nun auch der Bildungssektor flächendeckend "digitalisiert"
werden. Wie ist die "digitale Bildung" heute und für die Zukunft zu
bewerten?
Was ist guter Unterricht?
Was ist
eigentlich guter Unterricht und welchen Beitrag können digitale Medien dabei
leisten oder nicht? Eine Antwort darauf liefert die Metastudie des
Bildungsforschers John A. C. Hattie[1]. In über 50.000 internationalen Studien
über 15 Jahre forschte Hattie zu dieser Frage. Daneben formulierte der
Wissenschaftler Hilbert Meyer unabhängig von Hattie eine Übersicht der
"Zehn Merkmale guten Unterrichts". Beide kommen trotz
unterschiedlicher Forschungsdesigns zu überraschend ähnlichen Ergebnissen: Die
förderlichsten Punkte für einen guten Unterricht sind demnach "transparente
Leistungserwartung" (Feedback), "klare Strukturierung und inhaltliche
Klarheit der Lerninhalte" (Roter Faden),
"Lehrer-SchülerVerhältnis" (Lernklima), "kooperatives
Lernen" (Methodenvielfalt).
Chancen und Nebenwirkungen digitaler
Bildungskonzepte
Welche
Bedeutung digitale Medien und digitale Endgeräte wie Computer, Smartphones,
Tablets, Online-Netzwerke und das Internet im Schulunterricht und in der
universitären Lehre haben, muss kontrovers diskutiert werden.
Befürworterinnen
und Befürworter digitaler Bildungskonzepte betonen die Chancen des Einsatzes,
den sie vor allem in der Individualisierung (Bildungsniveau abhängig vom
Lernenden), in der Demokratisierung von Bildungschancen (Bildung für alle) und
in der Verbesserung des Unterrichts (Smartboard-Einsatz, "Bring your own
Device") sehen. Es mangelt weiterhin an Antworten, ob der Einsatz die
Lernleistung fördert. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass Hard- und
Software Bildung grundsätzlich verbessern können. Der Blick in
wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Frage liefert Ernüchterung. So
zeigen empirische Befunde[2], dass konkret der Einsatz von Laptops und mobilen
Geräten im Unterricht die Lernleistungen nicht verbessert. Unter bestimmten
Voraussetzungen kommt es sogar zur Verschlechterung der Lernergebnisse[3].
Diese werden bei bestimmten Schülerpersönlichkeiten vor allem durch das hohe
Ablenkungs- und Suchtpotenzial eines exzessiven Digitalkonsums determiniert.
In einer
jüngeren Studie wird darauf verwiesen, dass "(...) die Staaten, die in den
letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, in
den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der
Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder
Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien
führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt
es auf die Lehrperson an."[4] Die meisten Lehrenden besitzen laut dieser
Untersuchung keine digitalen Kompetenzen.[5] Daher gibt es auch keine umfassenden
Ansätze, wie digitale Medien den Unterricht verbessern können. Theoretisch wird
die Frage des "Wie" des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht
allerdings durch das "Ob" determiniert. Wenn es auf breiter
pädagogischer Praxis keine positiven Effekte gibt, wozu sollten Lehrerinnen und
Lehrer digitale Kompetenzen entwickeln? Auf der anderen Seite zeigt eine
OECD-Studie, dass ein überdurchschnittlich guter Unterricht durch ergänzende
digitale Medien noch besser werden kann.[6] Dies gilt unter anderem für Fächer,
die didaktisch einen hohen Problemlösungsansatz verfolgen. Genannt werden das
Fach Mathematik und die Methode des projektbasierten und gruppenorientierten
Lernens. Wenn beide didaktisch auf real existierende Probleme ausgerichtet
werden, liefern digitale Medien in einer derartigen Lerngruppe Simulationen und
einfachere Informationszugänge.[7]
Erkenntnisse aus der Kognitions- und
neurowissenschaftlichen Forschung
Eines der
größten Risiken ist die dauerhafte und erhöhte Nutzung digitaler Medien im
Schulunterricht, da kognitive Fähigkeiten, nämlich das eigenständige
Konstruieren von Wissen, verlorengehen können. Dies liegt daran, dass sich
Wissen nicht mehr durch arbeitsintensives Lernen gestaltet, sondern lediglich
Erfahrungswissen unreflektiert auf ein Thema oder eine Problemlösung rezipiert
wird. Die für ein langfristig wirkendes Lernergebnis notwendigen neuronalen
Verknüpfungen von Synapsen finden durch einfache Handlungskopie deutlich
weniger statt als durch das selbständige Erarbeiten von Zusammenhängen und
deren Anwendung in unterschiedlichen Kontexten. Dass dies mit persönlichen
Aufwand und Anstrengung verbunden ist, liegt auf der Hand. Digitale Medien
verleiten hingegen zur Reduzierung dieses Aufwandes und damit zur Reduzierung
eines langfristig wirkungsfähigen Lernergebnisses.
Als
Beispiel ist das bei vielen Schülerinnen und Schülern praktizierte
"YouTube-Lernen" genannt. Kurzvideos liefern pragmatische
Lösungsanweisungen, sind aber häufig nicht einem übergeordneten Lernkontext
zugeordnet. Gezeigte Informationen werden für den punktuellen Gebrauch
angewandt und wieder vergessen. Denk- und Handlungsalternativen bilden sich
nicht weiter aus.
Die
Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt hat bei der Nutzung
digitaler Angebote von Schülerinnen und Schülern bis zum 12. Lebensjahr gar
Hirnrhythmusstörungen festgestellt, die sich in Form von Kopfschmerzen,
Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen ausdrücken: "Die größte Gefahr
digitaler Medien ist es, dass unser Gehirn aus dem eigenen Rhythmus gebracht
wird, und zwar auf der Ebene unbewusster Vorgänge, wie sie im limbischen System
ablaufen. Denn unser Denkapparat kann durch Reizüberflutung und ständige
Erreichbarkeit massiv überfordert sein, wenn es um die Wahrnehmung und
Verarbeitung der vielfältigen Signale geht, die aus der realen und virtuellen
Welt auf uns einprasseln."[8]
Eine
Studie, die 2016 im Auftrag der Krankenkasse DAK durchgeführt wurde, bestätigt
zudem, dass Konzentrationsschwäche, Verhaltensauffälligkeiten,
Bewegungsdefizite und damit einhergehende gesundheitliche Probleme bei Kindern
in der Grundschule in den letzten zehn Jahren stark zugenommen haben. 91
Prozent der 500 befragten Lehrkräfte (Klasse 1 bis 6) bezeichnen als wichtigste
Ursache die mediale Reizüberflutung durch Fernsehen, Computer und Co., und dies
unabhängig vom Alter der Lehrkraft. Auch jüngere Lehrende (unter 39) machen
offenbar diese Beobachtungen in Ihrem Berufsalltag.[9] Mit Abstand folgen die
Faktoren "Erwartungsdruck seitens der Eltern" und "zu wenig
selbstbestimmte freie Zeit".
Voraussetzungen für eine digitalorientierte
Medienkompetenz
Aufgrund
der neurowissenschaftlichen und entwicklungsbiologischen Erkenntnisse ist ein
weitgehender Verzicht auf digitale Medien im schulischen Umgang bis zum 12.
Lebensjahr für die persönliche und kognitive Entwicklung des Kindes deutlich
förderlicher. Es ist daher für zahlreiche digitalfreie Zonen in einer
flächendeckenden Digitalstrategie zu plädieren. Damit werden Kindern und
Lehrenden die besten Lernumgebungen ermöglicht.
Der beste
Start in das digitale Zeitalter ist eine Grundschule ohne Computer.[10]
Gleiches gilt für den Umgang mit digitalen Medien zu Hause in der Familie.
Sowohl im Privaten als auch in Schule sollte der Umgang kontrolliert und
begleitet werden. Für die Schule gilt dies nach wie vor auch ab einem Alter von
12 Lebensjahren. Auch wenn hier die kognitiven Fähigkeiten und die
Impulskontrolle weiterentwickelt sind, ist eine enge pädagogische Begleitung
seitens der Lehrkräfte erforderlich. Hierfür sind Lehrkräfte für den Einsatz digitaler
Medien weiterzubilden. Wichtig erscheint mir bei dieser Forderung, dass es
nicht darum gehen kann, Lehrkräfte die Bedienung digitaler Medien beizubringen.
Es geht im Besonderen darum, das eigene Fach aus einer fachdidaktischen
Perspektive methodisch zu reflektieren. Darin sollte es allerdings nicht
zwingend um den Einsatz von digitalen Medien gehen, sondern um die weitere
Verbesserung von Unterricht. Als künftige Fachdidaktikerin und Fachdidaktiker
ist zu entscheiden, wie die heutigen Lernziele unter Berücksichtigung aller
didaktischen und pädagogischen Methoden, die einer Lehrkraft zur Verfügung
stehen, mit höchstem Lernerfolg erreicht werden können. Diese Frage wird
vermutlich auch in Zukunft viele Lehrkräfte ohne Zuhilfenahme von digitalen Medien
beantworten können.
Der Umgang in der pädagogischen Praxis
Wo
Smartphones Unterricht erschweren und verhindern, können auch Verbote ein
probates Mittel sein, um schlechte Angewohnheiten und Routinen seitens der
Schülerinnen und Schüler zu durchbrechen. Meist schaden Verbote jedoch mehr als
sie nutzen. Die Gefahren des exzessiven Digitalkonsums schlummern in allen
Schulen. Nur ein kritischer Diskurs zwischen Eltern, Lernenden, Lehrenden und
der Schulleitung kann zu einer Lösung führen. So ist es beispielsweise in
meinen Vorlesungen geschehen: Computer wurden in den Vorlesungen nicht
verboten, ihre Nutzung jedoch stark eingeschränkt. Doch das entscheidet in
meinem Studiengang jede und jeder Lehrbeauftragte in seinem Fach autonom. Eine
frühere, flächendeckende Versorgung mit Laptops und Tablets gibt es heute an
meinem Studiengang allerdings nicht mehr. Die Studierenden haben sich nach der
Reduzierung von digitaler Hardware wiederholt dankbar gezeigt. Denn mit der
Reduzierung sei mehr Ruhe und Aufmerksamkeit in den Vorlesungen eingetreten.
Und der Erfolg der Maßnahme setzte sich in den Durchschnittsnoten positiv
fort.
Weiterführende
Literatur:
Bleckmann, P. (2012): Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem
Bildschirm umgehen lernen. Klett - Cotta, Stuttgart.
Lankau,
R. (2016): Die Demaskierung des Digitalen durch ihre Propheten. Computer und
Computerstimme als Erzieher? Eine Digitaleuphorie als Dystopie, Kommentar zu
einem Artikel von Prof. Breithaupt in der ZEIT Nr. 5 vom 28. Januar 2016,
Online s.o.
Markowetz, A. (2015): Digitaler Burnout, München.
Meyer,
H. (2014) Was ist guter Unterricht. Berlin.
MPFS –
Medienpädagogischer Forschungs-Bund Südwest: JIM-Studie 2016: Jugend,
Information, (Multi-) Media, Stuttgart.
Prenzel, M./Allolio-Näcke, L. (Hg.): Untersuchungen zur Bildungsqualität von
Schule. Münster 2006. Spitzer, M. (2015): Über vermeintlich neue Erkenntnisse
zu den Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik, Psychologische
Rundschau 66(2): 114-123.
Dieser Text
für meine Stellungnahme ist erstmalig auf werkstatt.bpb.de der Bundeszentrale
für politische Bildung erschienen.
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