Jugendpsychologe
Allan Guggenbühl kritisiert im Gespräch das heutige Schulsystem und den
Förderwahn, sagt aber auch, was an Schulen gut läuft.
«Kinder werden überfördert» Rundgang 1, Januar 2019, Klett & Balmer von Yvonne Bugmann
Herr Guggenbühl, werden Kinder und Jugendliche
übertherapiert?
Allan
Guggenbühl: Wir wollen, dass sich Kinder und Jugendliche gut entwickeln. Das
ist auch gut so. Das Problem ist jedoch: Wir übertreiben. Im Bemühen, ihnen das
Beste zu geben, stehlen wir ihnen die Kindheit. Wir lassen sie nicht mehr
alleine, wollen jeden Moment nutzen, um sie zu fördern. Man glaubt Defizite zu
erkennen, die man sofort beheben muss, entwirft Trainingsprogramme – bei
Eigenschaften, die zur Kindheit gehören und sich auswachsen. Kinder brauchen
Förderung, aber unser Einfluss ist viel kleiner, als wir glauben. Heute ist
jedoch die Auffassung verbreitet, dass wir Massnahmen treffen müssen, wenn ein
Kind sich nicht so verhält, wie wir es wollen und wie es unseren Vorstellungen
entspricht. Vergessen wird, dass blöd tun, wild sein zur Kindheit gehören.
Was können wir denn beeinflussen?
Wir
können sehr viel machen, Kinder brauchen Förderung, doch diese ist nicht so
klar planbar. Um Kompetenzen im sozialen Bereich zu entwickeln, etwa Respekt
oder den Umgang miteinander, sind Vorbilder ganz wichtig. Was Kinder effektiv
mitnehmen, ist jedoch nicht berechenbar. Viele Schulen verlangen eine
Normalität im Verhalten, die Erwachsene selbst nicht vorleben. Erwachsene
benehmen sich ja auch oft daneben, haben Abstürze, sind aggressiv. Wir
verlangen von Kindern eine Normalität, die es nicht gibt. Auch sie wollen das
Aussergewöhnliche, interessieren sich für das Verrückte. Ausserdem
unterschätzen wir Kinder. Sie erkennen zum Beispiel sehr früh Gefühle. In der
Primarschule gibt es jedoch peinliche Programme, durch die Kinder mithilfe von
Smileys ihre Gefühle erkennen sollen. Das ist eine Beleidigung der kindlichen
Intelligenz. Und es irritiert die meisten Kinder. Sie fragen: Warum muss ich
jetzt plötzlich auf einer Skala von eins bis zehn sagen, was ich fühle?
Mit welchen Problemen kommen Eltern zu Ihnen in
die Praxis?
Mit ganz
verschiedenen Themen: Entfremdung von der Schule, Aggressionen zuhause und in
der Schule, Depression, kulturelle Verwirrung. Gerade Expat-Kinder wissen oft
nicht recht, wohin sie eigentlich gehören. Auch Mobbing ist gelegentlich ein
Thema.
Gibt es Themen, die heute mehr vorkommen als
früher?
Das ist
schwierig zu sagen. Ich beobachte, dass sich vor allem Jungen in der Schule
nicht mehr wohlfühlen. Heute herrscht die Ansicht vor, dass Kinder mithilfe von
Tablets automatisch selbst lernen. Sich selbst organisieren können viele erst
im Erwachsenenalter und noch nicht mit zwölf. Schon vor 100 Jahren glaubte man,
dass sich Schüler dank Enzyklopädien Wissen selbst aneignen, es keine
Lehrpersonen mehr brauche. Doch damals wie heute gilt: Bildung wird über die
Auseinandersetzung mit Menschen vermittelt. Dies können weder Enzyklopädien
noch Tablets ersetzen.
Warum haben Jungen mehr Mühe?
Jungen
haben tatsächlich viel mehr Probleme in der Schule als Mädchen. Es gibt mehr
männliche Schulverleider, mehr Konflikte. Die Geschlechter unterscheiden sich
nicht nur biologisch, sondern auch psychologisch. Jungen lassen sich anders
begeistern als Mädchen, sie interessieren sich mehr für Sachthemen, wollen
Risiken eingehen. Tendenziell interessieren sich Buben mehr für Autos,
Fussball, Schlachten, technische Sachen. Im Gegensatz zu Mädchen reagieren
Jungen besser auf Befehle als auf sachte Hinweise. Sie gruppieren sich gern im
Kollektiv, das selbstständige Arbeiten kommt ihnen nicht entgegen. Sie lernen,
weil die Gruppe lernt, während Mädchen gerne die Erwartungen der Lehrpersonen
erfüllen. Mädchen sind psychologisch geschickter, sie merken eher, was die
Lehrperson will, und verhalten sich entsprechend.
Was braucht es, damit sich beide Geschlechter
abgeholt fühlen?
Natürlich
muss der Unterricht buben- und mädchengerecht sein. Jungen geniessen mehr den
Frontalunterricht, wollen sich bewegen, mögen Wettbewerb. Zudem muss man
anerkennen, dass sich Jungen gerne raufen. Doch so zu denken ist in der heutigen
Bildungslandschaft nicht opportun.
Wo orten Sie weitere Probleme?
Es gibt
zu viele Lehrpersonen pro Klasse. Die Anbindung an eine Lehrperson wird dadurch
schwieriger. Oft haben Kinder sogar schon in der 2. Klasse mehrere
Lehrpersonen! Kinder brauchen eine Bezugsperson, jemanden, der sie mag, jemand,
der sich für sie engagiert, sich um sie kümmert. Diese Aufgabe sollte die
Lehrperson übernehmen. Die Beziehung ist zentral, nur so können die Kinder
Konflikte durchstehen, Emotionen entwickeln und Gefühle zulassen.
Was passiert, wenn eine Bezugsperson in der
Schule fehlt?
Es wird
für Kinder schwieriger, sich zu integrieren. Manche reagieren aggressiv,
verweigern sich oder blödeln herum. Kinder wollen ausserdem wissen, was den
Erwachsenen wichtig ist, Inhalte sind wichtig. Meiner Ansicht nach liegt der
Fokus in der Schule zu sehr auf Kompetenzen, die die Schüler selbst erarbeiten
müssen.
Dürfen Kinder heute noch Kind sein?
Das ist
eine schwierige Frage. Wichtig ist, dass Kinder in eine eigenständige Welt eintauchen
können. Kinder lernen im Kontakt zu anderen Kindern, was eine Freundschaft,
Verrat, ein Versprechen ist. Sie lernen den Umgang mit Mitmenschen. Doch dafür
muss man ihnen Zeit lassen. Heute ist die Freizeit der Kinder oft verplant.
Daher sind Handys ein Segen für Kinder. So können sie trotzdem und sogar nachts
miteinander kommunizieren, in ihre eigene Peerwelt flüchten.
Hat der Druck auf die Kinder zugenommen, wie
viele sagen?
Der Druck
hat zugenommen, insbesondere die Anpassungsforderungen an das soziale
Verhalten. Das Kind muss einem bestimmten Profil entsprechen. Das führt bei
manchen zu einer Desorientierung, da sie das Gefühl haben, nicht zu genügen, so
wie sie sind. Abgenommen haben dagegen existenzielle, materielle Sorgen.
Wie lernen Kinder am besten?
Soziale
Kompetenzen erwerben sich Kinder vor allem im realen Leben. Selbstständigkeit
lernen sie zum Beispiel, wenn sie selbstständig sein müssen. Soziale
Kompetenzen kann man nicht künstlich antrainieren.
Im Oktober erschien Ihr neues Buch «Für mein
Kind nur das Beste». Was ist denn das Beste für unsere Kinder?
Der Titel
ist ironisch zu verstehen. Wir meinen, möglichst viel Bildung und Förderung sei
das Beste für unsere Kinder. Doch der Schuss droht nach hinten loszugehen, den
Kindern wird die Kindheit gestohlen. Sie wollen Erfahrungen sammeln, sich
austoben und ihre Umwelt erkunden. In der Schule dagegen werden die Äste der
Bäume abgeschnitten, und in den Gängen ist das Rennen verboten.
Immer wieder liest man, dass wir unsere Kinder
zu Narzissten und Egoisten heranziehen. Stimmt das?
Ich habe
das Gefühl, dass wir verpassen, sie zum Dienst an der Gemeinschaft
heranzuziehen. In Japan etwa servieren Schulkinder das Essen, begrüssen Gäste
und übernehmen so Verantwortung, fühlen sich wichtig. Ich plädiere für eine
milde Form von Kinderarbeit, freiwillig. Dadurch begreifen sie, dass sie Geld
bekommen, wenn sie etwas für die Gemeinschaft leisten. Das führt zu einer
Aufwertung des Selbstwertgefühls. Und wenn sie mit dem Geld machen dürfen, was
sie wollen, lernen sie den Umgang damit. Zudem sind sie stolz, wenn sie
Verantwortung übernehmen dürfen. Sie werden eingebunden und müssen nicht
schwierig tun.
Was brauchen Kinder?
Kinder
brauchen Aufmerksamkeit, Liebe, Bezugspersonen. Sie müssen spüren, dass sie
geliebt und gewollt sind, auch wenn sie sich nicht so verhalten, wie sie
sollten. Sie sollten merken, dass sie jenseits von Leistungen akzeptiert
werden.
Was kann die Schule für das Kindswohl tun?
Gut wäre,
wenn sich die Anzahl der Lehrpersonen und anderer Bezugspersonen auf höchstens
drei beschränkt. Zudem sollte die Schule weniger auf Programme fokussieren,
sondern mehr auf die Begegnung zwischen Lehrer und Schüler, die Schule lebt von
der Begegnung. Auch soll die Schule die Kinder mehr einspannen, ihnen
verantwortungsvolle Aufgaben übergeben.
Was läuft gut an den Schulen?
Es gibt
sehr viele engagierte Lehrpersonen, die Grossartiges leisten. Zudem herrscht
Methodenfreiheit, was den Lehrpersonen eine grössere Flexibilität ermöglicht.
Was bereitet Ihnen Sorgen?
Den
Lehrer nur als Coach zu verstehen ist für mich problematisch, ebenso der
selbstständige Unterricht und die Kompetenzorientierung. Das ist eine
Missachtung der Psychologie der Kinder, das missachtet die Grundauslegung der
Schule. Die Schule wird einseitig auf einen Aspekt reduziert.
Wie wichtig sind Lehrpersonen für Kinder?
Sie sind
ganz wichtig, können Entwicklungen anstossen, Interesse wecken, Orientierung
geben. Kinder brauchen neben den Eltern solche Bezugspersonen. Ich kenne viele
Lehrpersonen, die sich ernsthaft um die Kinder kümmern und Grosses leisten.
ZUR PERSON Der bekannte Jugendpsychologe Allan
Guggenbühl (*1952) hat 1995 das Institut für Konfliktmanagement (IKM)
gegründet, das Unternehmen, Institutionen, Schulen und Privatpersonen im Umgang
mit Konflikten, Aggressionen und Gewalt berät. Allan Guggenbühl ist zudem
Dozent für Psychologie und Pädagogik an der PH Zürich. Der studierte Lehrer und
Musiker ist Autor zahlreicher Bücher über Jugendgewalt, Bildung sowie Jungen-
und Männerarbeit. Kürzlich ist sein neustes Buch erschienen, «Für mein Kind nur
das Beste».
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen