21. Januar 2019

Guggenbühl: "Kinder brauchen Aufmerksamkeit, Liebe, Bezugspersonen"


Jugendpsychologe Allan Guggenbühl kritisiert im Gespräch das heutige Schulsystem und den Förderwahn, sagt aber auch, was an Schulen gut läuft.
«Kinder werden überfördert» Rundgang 1, Januar 2019, Klett & Balmer von Yvonne Bugmann


Herr Guggenbühl, werden Kinder und Jugendliche übertherapiert?
Allan Guggenbühl: Wir wollen, dass sich Kinder und Jugendliche gut entwickeln. Das ist auch gut so. Das Problem ist jedoch: Wir übertreiben. Im Bemühen, ihnen das Beste zu geben, stehlen wir ihnen die Kindheit. Wir lassen sie nicht mehr alleine, wollen jeden Moment nutzen, um sie zu fördern. Man glaubt Defizite zu erkennen, die man sofort beheben muss, entwirft Trainingsprogramme – bei Eigenschaften, die zur Kindheit gehören und sich auswachsen. Kinder brauchen Förderung, aber unser Einfluss ist viel kleiner, als wir glauben. Heute ist jedoch die Auffassung verbreitet, dass wir Massnahmen treffen müssen, wenn ein Kind sich nicht so verhält, wie wir es wollen und wie es unseren Vorstellungen entspricht. Vergessen wird, dass blöd tun, wild sein zur Kindheit gehören.

Was können wir denn beeinflussen?
Wir können sehr viel machen, Kinder brauchen Förderung, doch diese ist nicht so klar planbar. Um Kompetenzen im sozialen Bereich zu entwickeln, etwa Respekt oder den Umgang miteinander, sind Vorbilder ganz wichtig. Was Kinder effektiv mitnehmen, ist jedoch nicht berechenbar. Viele Schulen verlangen eine Normalität im Verhalten, die Erwachsene selbst nicht vorleben. Erwachsene benehmen sich ja auch oft daneben, haben Abstürze, sind aggressiv. Wir verlangen von Kindern eine Normalität, die es nicht gibt. Auch sie wollen das Aussergewöhnliche, interessieren sich für das Verrückte. Ausserdem unterschätzen wir Kinder. Sie erkennen zum Beispiel sehr früh Gefühle. In der Primarschule gibt es jedoch peinliche Programme, durch die Kinder mithilfe von Smileys ihre Gefühle erkennen sollen. Das ist eine Beleidigung der kindlichen Intelligenz. Und es irritiert die meisten Kinder. Sie fragen: Warum muss ich jetzt plötzlich auf einer Skala von eins bis zehn sagen, was ich fühle?

Mit welchen Problemen kommen Eltern zu Ihnen in die Praxis?
Mit ganz verschiedenen Themen: Entfremdung von der Schule, Aggressionen zuhause und in der Schule, Depression, kulturelle Verwirrung. Gerade Expat-Kinder wissen oft nicht recht, wohin sie eigentlich gehören. Auch Mobbing ist gelegentlich ein Thema.

Gibt es Themen, die heute mehr vorkommen als früher?
Das ist schwierig zu sagen. Ich beobachte, dass sich vor allem Jungen in der Schule nicht mehr wohlfühlen. Heute herrscht die Ansicht vor, dass Kinder mithilfe von Tablets automatisch selbst lernen. Sich selbst organisieren können viele erst im Erwachsenenalter und noch nicht mit zwölf. Schon vor 100 Jahren glaubte man, dass sich Schüler dank Enzyklopädien Wissen selbst aneignen, es keine Lehrpersonen mehr brauche. Doch damals wie heute gilt: Bildung wird über die Auseinandersetzung mit Menschen vermittelt. Dies können weder Enzyklopädien noch Tablets ersetzen.

Warum haben Jungen mehr Mühe?
Jungen haben tatsächlich viel mehr Probleme in der Schule als Mädchen. Es gibt mehr männliche Schulverleider, mehr Konflikte. Die Geschlechter unterscheiden sich nicht nur biologisch, sondern auch psychologisch. Jungen lassen sich anders begeistern als Mädchen, sie interessieren sich mehr für Sachthemen, wollen Risiken eingehen. Tendenziell interessieren sich Buben mehr für Autos, Fussball, Schlachten, technische Sachen. Im Gegensatz zu Mädchen reagieren Jungen besser auf Befehle als auf sachte Hinweise. Sie gruppieren sich gern im Kollektiv, das selbstständige Arbeiten kommt ihnen nicht entgegen. Sie lernen, weil die Gruppe lernt, während Mädchen gerne die Erwartungen der Lehrpersonen erfüllen. Mädchen sind psychologisch geschickter, sie merken eher, was die Lehrperson will, und verhalten sich entsprechend.

Was braucht es, damit sich beide Geschlechter abgeholt fühlen?
Natürlich muss der Unterricht buben- und mädchengerecht sein. Jungen geniessen mehr den Frontalunterricht, wollen sich bewegen, mögen Wettbewerb. Zudem muss man anerkennen, dass sich Jungen gerne raufen. Doch so zu denken ist in der heutigen Bildungslandschaft nicht opportun.

Wo orten Sie weitere Probleme?
Es gibt zu viele Lehrpersonen pro Klasse. Die Anbindung an eine Lehrperson wird dadurch schwieriger. Oft haben Kinder sogar schon in der 2. Klasse mehrere Lehrpersonen! Kinder brauchen eine Bezugsperson, jemanden, der sie mag, jemand, der sich für sie engagiert, sich um sie kümmert. Diese Aufgabe sollte die Lehrperson übernehmen. Die Beziehung ist zentral, nur so können die Kinder Konflikte durchstehen, Emotionen entwickeln und Gefühle zulassen.

Was passiert, wenn eine Bezugsperson in der Schule fehlt?
Es wird für Kinder schwieriger, sich zu integrieren. Manche reagieren aggressiv, verweigern sich oder blödeln herum. Kinder wollen ausserdem wissen, was den Erwachsenen wichtig ist, Inhalte sind wichtig. Meiner Ansicht nach liegt der Fokus in der Schule zu sehr auf Kompetenzen, die die Schüler selbst erarbeiten müssen.

Dürfen Kinder heute noch Kind sein?
Das ist eine schwierige Frage. Wichtig ist, dass Kinder in eine eigenständige Welt eintauchen können. Kinder lernen im Kontakt zu anderen Kindern, was eine Freundschaft, Verrat, ein Versprechen ist. Sie lernen den Umgang mit Mitmenschen. Doch dafür muss man ihnen Zeit lassen. Heute ist die Freizeit der Kinder oft verplant. Daher sind Handys ein Segen für Kinder. So können sie trotzdem und sogar nachts miteinander kommunizieren, in ihre eigene Peerwelt flüchten.

Hat der Druck auf die Kinder zugenommen, wie viele sagen?
Der Druck hat zugenommen, insbesondere die Anpassungsforderungen an das soziale Verhalten. Das Kind muss einem bestimmten Profil entsprechen. Das führt bei manchen zu einer Desorientierung, da sie das Gefühl haben, nicht zu genügen, so wie sie sind. Abgenommen haben dagegen existenzielle, materielle Sorgen.

Wie lernen Kinder am besten?
Soziale Kompetenzen erwerben sich Kinder vor allem im realen Leben. Selbstständigkeit lernen sie zum Beispiel, wenn sie selbstständig sein müssen. Soziale Kompetenzen kann man nicht künstlich antrainieren.

Im Oktober erschien Ihr neues Buch «Für mein Kind nur das Beste». Was ist denn das Beste für unsere Kinder?
Der Titel ist ironisch zu verstehen. Wir meinen, möglichst viel Bildung und Förderung sei das Beste für unsere Kinder. Doch der Schuss droht nach hinten loszugehen, den Kindern wird die Kindheit gestohlen. Sie wollen Erfahrungen sammeln, sich austoben und ihre Umwelt erkunden. In der Schule dagegen werden die Äste der Bäume abgeschnitten, und in den Gängen ist das Rennen verboten.

Immer wieder liest man, dass wir unsere Kinder zu Narzissten und Egoisten heranziehen. Stimmt das?
Ich habe das Gefühl, dass wir verpassen, sie zum Dienst an der Gemeinschaft heranzuziehen. In Japan etwa servieren Schulkinder das Essen, begrüssen Gäste und übernehmen so Verantwortung, fühlen sich wichtig. Ich plädiere für eine milde Form von Kinderarbeit, freiwillig. Dadurch begreifen sie, dass sie Geld bekommen, wenn sie etwas für die Gemeinschaft leisten. Das führt zu einer Aufwertung des Selbstwertgefühls. Und wenn sie mit dem Geld machen dürfen, was sie wollen, lernen sie den Umgang damit. Zudem sind sie stolz, wenn sie Verantwortung übernehmen dürfen. Sie werden eingebunden und müssen nicht schwierig tun.

Was brauchen Kinder?
Kinder brauchen Aufmerksamkeit, Liebe, Bezugspersonen. Sie müssen spüren, dass sie geliebt und gewollt sind, auch wenn sie sich nicht so verhalten, wie sie sollten. Sie sollten merken, dass sie jenseits von Leistungen akzeptiert werden.

Was kann die Schule für das Kindswohl tun?
Gut wäre, wenn sich die Anzahl der Lehrpersonen und anderer Bezugspersonen auf höchstens drei beschränkt. Zudem sollte die Schule weniger auf Programme fokussieren, sondern mehr auf die Begegnung zwischen Lehrer und Schüler, die Schule lebt von der Begegnung. Auch soll die Schule die Kinder mehr einspannen, ihnen verantwortungsvolle Aufgaben übergeben.

Was läuft gut an den Schulen?
Es gibt sehr viele engagierte Lehrpersonen, die Grossartiges leisten. Zudem herrscht Methodenfreiheit, was den Lehrpersonen eine grössere Flexibilität ermöglicht.

Was bereitet Ihnen Sorgen?
Den Lehrer nur als Coach zu verstehen ist für mich problematisch, ebenso der selbstständige Unterricht und die Kompetenzorientierung. Das ist eine Missachtung der Psychologie der Kinder, das missachtet die Grundauslegung der Schule. Die Schule wird einseitig auf einen Aspekt reduziert.

Wie wichtig sind Lehrpersonen für Kinder?
Sie sind ganz wichtig, können Entwicklungen anstossen, Interesse wecken, Orientierung geben. Kinder brauchen neben den Eltern solche Bezugspersonen. Ich kenne viele Lehrpersonen, die sich ernsthaft um die Kinder kümmern und Grosses leisten.

ZUR PERSON Der bekannte Jugendpsychologe Allan Guggenbühl (*1952) hat 1995 das Institut für Konfliktmanagement (IKM) gegründet, das Unternehmen, Institutionen, Schulen und Privatpersonen im Umgang mit Konflikten, Aggressionen und Gewalt berät. Allan Guggenbühl ist zudem Dozent für Psychologie und Pädagogik an der PH Zürich. Der studierte Lehrer und Musiker ist Autor zahlreicher Bücher über Jugendgewalt, Bildung sowie Jungen- und Männerarbeit. Kürzlich ist sein neustes Buch erschienen, «Für mein Kind nur das Beste».

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