Der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR)
beklagt die mangelhafte Chancengleichheit unseres Bildungssystems, und er hat
gleich ein Patentrezept dagegen: Die Selektion müsse nach oben verschoben
werden, auf den Übertritt zur neunten Klasse. Andere Stimmen fordern eine
bessere Begabtenförderung, so der LCH, der, verpackt in den LP 21, ein Angebot
«für beide Enden des Begabungspotenzialspektrums» fordert – dieses grässliche Wortkonstrukt
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Wo war der SWR, als die
gravierenden Mängel des Lehrplan 21 auf den Tisch gelegt wurden? «Das hehre
Gremium würde sich gescheiter mit dem Lehrplan 21 befassen», so schreibt
Hans-Peter Köhli zu Recht in seinem Leserbrief in der Weltwoche. Dasselbe gilt
für den LCH. Wir Kritiker, viele darunter erfahrene Pädagogen, warnen seit
Jahren: Mit dem sogenannt selbstorganisierten Lernen anstelle der sorgfältigen
Einführung und des strukturierten Aufbaus des Lernstoffs durch den Lehrer
werden zahlreiche Kinder, gerade auch die fremdsprachigen, durch die Maschen
fallen. Denn wer zu Hause niemanden hat, der ihm den Stoff erklären und mit ihm
üben kann, wird immer mehr zurückfallen. Die Folge, so Carl Bossard: «Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter.»
Chancen und Förderung für alle Kinder! von Marianne Wüthrich, 20.1.
Das ist die haarsträubende
soziale Ungerechtigkeit im heutigen Bildungswesen: Weit entfernt davon, zur
Ausgleichung der sozialen Unterschiede beizutragen, werden diese durch die
heutige Volksschule multipliziert. Klar war das Bildungssystem nie völlig
gerecht, aber in meiner eigenen Schulzeit haben praktisch alle Kinder lesen,
schreiben und rechnen gelernt, und nicht wenige ehemalige Oberschüler sind
später Chefsekretärin oder Abteilungsleiter geworden. Weil alle die nötigen
Grundlagen aus der Schule mitgebracht haben, hatten sie ihre Chancen im Leben –
nutzen musste sie jeder selbst.
Geradezu arrogant ist deshalb auch die
hauptsächliche Fixierung des SWR auf Gymnasium und Hochschule zur Sanierung
sozialer Ungerechtigkeit im Bildungswesen. Die Schweiz hat ein hervorragendes
duales Berufsbildungssystem, dank dem fast alle Schulabgänger eine Ausbildung
machen können und das infolge seiner Durchlässigkeit vielfältige
Weiterbildungen, auch auf Hochschulebene, ermöglicht. Im Gegensatz zu Ländern
mit hoher Maturaquote haben wir deshalb auch die geringste
Jugendarbeitslosigkeit, was für die einzelnen jungen Menschen, nicht nur aus
ökonomischen Gründen, von enormer Bedeutung ist.
Um auf die anfangs genannte
abstruse Idee des SWR zurückzukommen: Mit der Verschiebung der Selektion nach
oben ist nichts getan. Damit sind wir bei einer weiteren schreienden
Ungerechtigkeit der heutigen Volksschule: der Inklusion sämtlicher Kinder ins
gleiche Schulzimmer, verbunden mit einem Heer von Sonderpädagogen und anderen
Zusatzkräften. Viele Kinder sind früher in Kleinklassen, die auf ihre
persönliche Situation zugeschnitten waren, so gut gefördert worden, dass sie
den Anschluss an die Regelklasse wieder gefunden haben. Heute sitzen die einen
entmutigt und abgehängt in einer bunten Gesellschaft, die man nicht «Klasse»
nennen kann, sondern eher eine Ansammlung von Einzelkojen. Andere kommen dagegen
nicht so voran, wie sie eigentlich könnten, wenn der Lehrer – neben seinen
zahlreichen administrativen Aufgaben, die ihm von oben aufgebrummt werden –
Zeit dafür finden würde, mit ihnen gezielt und in Ruhe zu lernen.
Kinder
brauchen in der Schule keinen Coach (siehe das Interview mit Allan Guggenbühl)
und auch kein Tablet. Was an erster Stelle stehen muss, sind echte,
vertrauenswürdige Beziehungspersonen, die sich für jedes Kind interessieren und
es dort fördern, wo es seine Stärken hat, aber auch dort, wo es noch unsicher
ist. Jedes Kind hat das Recht, gefördert zu werden, nicht nur die «Begabten».
Im Gegenteil: Leistungsstarke Kinder – das wissen viele von uns aus eigener
Erfahrung – werden immer Gelegenheiten finden oder erfragen, um den Problemen
auf den Grund zu gehen und voranzukommen.
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