28. Januar 2019

Grosse kantonale Unterschiede beim Digitalisierungstempo


«Wir wollen keine Spielgruppe 4.0!» In saloppem Ton machte der sankt-gallische Bildungsdirektor Stefan Kölliker klar, wie ernst es ihm ist mit der digitalen Offensive, die der Kanton St. Gallen vorantreibt. Vor dem Kantonsparlament vertrat er das 75 Millionen Franken teure Bildungspaket so überzeugend, dass es ohne Gegenstimme durchgewinkt wurde. Am 10. Februar muss nun das kantonale Stimmvolk über den Sonderkredit befinden. Risikolos lässt sich voraussagen, dass es ihn deutlich gutheissen wird; Opposition gibt es keine.
Bildung wird digitaler - aber die Unterschiede in den Kantonen sind erheblich, NZZ, 27.1. von Jörg Krummenacher


Die Besonderheit der sankt-gallischen Offensive besteht darin, dass sie sämtliche Bildungsstufen samt Berufsbildung umfasst und die Ausbildung von Fachkräften ins Zentrum stellt. Sie soll dem Fachkräftemangel entgegenwirken und letztlich der Wirtschaft zugutekommen.

Unzählige Initiativen
Die sankt-gallische Offensive ist in der Schweiz pionier- und beispielhaft. Aber auch andere Kantone unternehmen erhebliche Anstrengungen im IT-Bereich. Diese basieren meist auf den im Lehrplan 21 fixierten Vorgaben zu «Medien und Informatik» in der Volksschule. So hat der Kanton Tessin im Juni 2018 ein Konzept für 47 Millionen Franken vorgelegt. Genf konkretisierte im November seine IT-Visionen. Schaffhausen präsentierte im Dezember die Umsetzung der Informatikstrategie.

Auch im Kanton Zürich laufen viele Projekte. Bis 2021 erwerben 3200 Lehrpersonen die notwendigen IT-Kenntnisse, zudem entsteht ein neues vierbändiges Lehrmittel, dessen erster Band bereits erhältlich ist. Für die Mittel- und die Berufsfachschulen hat die Bildungsdirektion ihre Arbeiten an einer neuen Strategie beinah abgeschlossen. Und an der Universität Zürich läuft seit 2016 die Digital Society Initiative, an der sich alle sieben Fakultäten beteiligen.

Gemeinsame Strategie nötig
Allein: Die Unterschiede in der Umsetzung digitaler Bildungskonzepte sind auf nationaler Ebene enorm. Während einzelne Kantone voranschreiten, hinken andere hinterher. Es herrscht digitale Disharmonie. Der Dachverband der Lehrerschaft (LCH) hat einen Forderungskatalog verabschiedet, in dem er deshalb eine koordinierte Umsetzung digitaler Strategien und eine Führung durch den Bund und die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) fordert. Die einzelnen Kantone könnten die Digitalisierung in der Schule nicht allein stemmen, sagt LCH-Präsident Beat Zemp: «Es braucht einen verbesserten Austausch über die Kantone hinweg, um die Entwicklung in allen Kantonen, Gemeinden und den einzelnen Schulen voranzubringen.»

Selben Inhalts ist eine Motion, welche die CVP-Fraktion im Nationalrat im Juni 2018 eingereicht hat und die im Plenum noch nicht behandelt wurde. Sie verlangt ein Impulsprogramm des Bundes, um die digitalen Anstrengungen zu bündeln und zu koordinieren.

Uneinigkeit über Tempo
Im Prinzip sind solche Programme bereits installiert und teilweise auch umgesetzt. 2017 hat der Bundesrat einen Aktionsplan zur Digitalisierung vorgestellt, der für das laufende und das kommende Jahr Massnahmen umfasst. Dafür werden nach Auskunft des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) 213 Millionen Franken eingesetzt, 150 Millionen davon im Rahmen des ordentlichen Budgets. Letzten Sommer verabschiedeten die kantonalen Bildungsdirektoren ihrerseits eine nationale Digitalisierungsstrategie für das Bildungswesen, die voraussichtlich im kommenden Juni von der Plenarversammlung konkretisiert werden soll. Wie die EDK mitteilt, will sie dabei jene Aufgaben übernehmen, die nach einer nationalen Koordination verlangen. Ein Beispiel für eine solche Aktivität ist das 2018 lancierte Projekt Fides, das einen einzigen Zugang zu Online-Diensten für Schüler- und Lehrerschaft sowie Verwaltungspersonal von Bildungsinstitutionen ermöglichen soll.

Für manche Beteiligte erfolgen die Aktivitäten aber zu langsam. Der Kanton St. Gallen bezeichnet die Massnahmen des Bundes in seiner Botschaft zur IT-Bildungsoffensive als «noch wenig konkret». Und St. Gallens Bildungschef Stefan Kölliker erklärte mit Blick auf die Digitalisierung in der Berufsbildung: Das Problem bei der Umsetzung des entsprechenden Leitbilds 2030 sei, dass «der Bund selber auch nicht weiss, wie er das herbeiführen kann».

Defensiver Bundesrat
Das Staatssekretariat teilt diese Einschätzung nicht, wie es auf Anfrage mitteilt. Das kommt auch in der bereits vorliegenden Antwort des Bundesrats zur Motion der CVP zum Ausdruck, wonach gerade im Bereich der Berufsbildung «bereits auf die Digitalisierung reagiert» werde. Insgesamt hält der Bundesrat die bereits auf den Weg gebrachten Massnahmen «als zielführend», notwendig seien «weder ein Impulsprogramm noch die Schaffung neuer gesetzlicher Grundlagen».

Manchen Kantonen wird diese Haltung des Bundesrats gefallen, da sie keinen Eingriff in ihre Bildungshoheit bedeutet. «Mit dieser Haltung sind die Kantone aber erst recht in der Pflicht», wie LCH-Präsident Zemp kommentiert, «dem Beispiel des Kantons St. Gallen zu folgen und selber zu investieren.»

Der Kanton St. Gallen jedenfalls lobt seine IT-Bildungsoffensive ungewohnt unbescheiden als «absolut einzigartig in unserer Schweiz». Es gebe keinen Kanton, der nur ansatzweise mit solch einem Projekt unterwegs sei und derartige Veränderungen herbeiführen wolle. Im Bereich der Berufsbildung etwa werde St. Gallen massgebend sein für Reformen in Richtung Berufsbildung der Zukunft. Dieser Einschätzung widerspricht der Bund nicht. Das zuständige Staatssekretariat hält fest: Die Stärke des Schweizer Bildungssystems bestehe ja gerade darin, «dass die Akteure auf jeder Ebene passgenau aktiv werden können».

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