Da steht er in einem bunten
Schulzimmer, die Hemdsärmel leicht hochgekrempelt, die Augen zu Schlitzen
verdünnt, graue Krawatte, ein Gilet, eine Hose, ebenfalls in graukörnigem
Tweed: Der Schriftsteller Lukas Bärfuss ist neuer Kolumnist des Sonntagsblicks,
und er nimmt sich mit seinem ersten Text den Lehrplan 21 vor, der seit letztem
Sommer verbindlich ist. Bärfuss als Schulmeister der Nation.
Schulmeister, Weltwoche, 16.1. von Peter Keller
Dieser Lehrplan sei ein Produkt der empirischen Wende, schreibt
der 1971 in Thun geborene Autor. Früher habe der Fokus der Pädagogik auf der
kulturellen Herkunft der Schüler gelegen, auf der Beschäftigung mit der eigenen
Geschichte. Die Schule, seine Schule, habe noch Stoffe vorgegeben, einen Kanon
von Büchern, «eine gemeinsame Erfahrung, die von Generation zu Generation
weitergereicht wurde». Heute gehe es nur noch um Methoden, um die Messbarkeit
des Wissens, um Pisa-Studien und Bologna-Punkte, um Kompetenzen statt um
Inhalte.
Bärfuss’ Kinder, die in Zürich die Volksschule besuch(t)en, haben
im Unterricht nie etwas gelesen von Max Frisch, Gottfried Keller oder dem
Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der in der Nachbarschaft gelebt hatte.
Bärfuss schmerzt der Verlust einer gemeinsamen «gesellschaftlichen Identität».
Weil er weiss, dass dieser Ansatz konservativ ist, und er den Applaus von der
falschen, also rechten Seite fürchtet, muss er sich pflichtschuldigst von jenen
Gegnern und «reaktionären Sektierern» absetzen, die schlimmer seien als der
Lehrplan selbst.
Trotzdem liegt Bärfuss richtig mit seiner Diagnose. Doch sie ist
nur halb zu Ende gedacht. Wenn er fragt: «Was verbindet uns noch? Worauf können
wir uns noch einigen?», dann geht es nicht nur um eine Bücherliste, sondern
auch um die grosse Freiheitserzählung der Schweiz, die ebendieser Elias Canetti
in seinen Zürcher Schuljahren in sich aufgesogen hatte. Auch das historische
Lagerfeuer, um das sich ein grosses Wir bilden konnte, ist an den Schulen
längst erloschen. Diesen Umstand allein dem kleingeistigen Vermessungswahn in
die Schuhe schieben zu wollen, ist falsch. Mindestens so zerstörerisch war das
anti-identitäre, bildungsbürgerfeindliche Selbstverständnis der 68er, in dessen
Tradition auch ein Lukas Bärfuss schreibt und denkt.
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