18. Januar 2019

Der Schulmeister


Da steht er in einem bunten Schulzimmer, die Hemdsärmel leicht hochgekrempelt, die Augen zu Schlitzen verdünnt, graue Krawatte, ein Gilet, eine Hose, ebenfalls in graukörnigem Tweed: Der Schriftsteller Lukas Bärfuss ist neuer Kolumnist des Sonntagsblicks, und er nimmt sich mit seinem ersten Text den Lehrplan 21 vor, der seit letztem Sommer verbindlich ist. Bärfuss als Schulmeister der Nation.
Schulmeister, Weltwoche, 16.1. von Peter Keller

Dieser Lehrplan sei ein Produkt der empirischen Wende, schreibt der 1971 in Thun geborene Autor. Früher habe der Fokus der Pädagogik auf der kulturellen Herkunft der Schüler gelegen, auf der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Die Schule, seine Schule, habe noch Stoffe vorgegeben, einen Kanon von Büchern, «eine gemeinsame Erfahrung, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde». Heute gehe es nur noch um Methoden, um die Messbarkeit des Wissens, um Pisa-Studien und Bologna-Punkte, um Kompetenzen statt um Inhalte.

Bärfuss’ Kinder, die in Zürich die Volksschule besuch(t)en, haben im Unterricht nie etwas gelesen von Max Frisch, Gottfried Keller oder dem Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der in der Nachbarschaft gelebt hatte. Bärfuss schmerzt der Verlust einer gemeinsamen «gesellschaftlichen Identität». Weil er weiss, dass dieser Ansatz konservativ ist, und er den Applaus von der falschen, also rechten Seite fürchtet, muss er sich pflichtschuldigst von jenen Gegnern und «reaktionären Sektierern» absetzen, die schlimmer seien als der Lehrplan selbst.

Trotzdem liegt Bärfuss richtig mit seiner Diagnose. Doch sie ist nur halb zu Ende gedacht. Wenn er fragt: «Was verbindet uns noch? Worauf können wir uns noch einigen?», dann geht es nicht nur um eine Bücherliste, sondern auch um die grosse Freiheitserzählung der Schweiz, die ebendieser Elias Canetti in seinen Zürcher Schuljahren in sich aufgesogen hatte. Auch das historische Lagerfeuer, um das sich ein grosses Wir bilden konnte, ist an den Schulen längst erloschen. Diesen Umstand allein dem kleingeistigen Vermessungswahn in die Schuhe schieben zu wollen, ist falsch. Mindestens so zerstörerisch war das anti-identitäre, bildungsbürgerfeindliche Selbstverständnis der 68er, in dessen Tradition auch ein Lukas Bärfuss schreibt und denkt.

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