Bärfuss macht sich ein Bild vor Ort und besucht eine Schulklasse, Bild: Philippe Rossier
"Viel Zeitgeist, wenig Inhalt", Blick, 13.1. von Lukas Bärfuss
Wie brüchig der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft geworden ist, merke
ich, wenn ich an Kunsthochschulen unterrichte. Die Studierenden haben zwar
ähnliche Bildungswege hinter sich, trotzdem findet sich selten ein Buch, das
alle gelesen haben. Jeder bezieht sich auf andere Werke, eine gemeinsame
Lektüreerfahrung fehlt.
In der Volksschule haben unsere Kinder nie etwas von Elias Canetti
gehört, obwohl dieser bedeutende Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1981
in unserem Quartier zu Hause war. Es liegt nicht an Canetti: auch Max Frisch,
der in der Nachbarschaft aufgewachsen ist, fehlt im Schulstoff. Dasselbe gilt
für Gottfried Keller, Bertolt Brecht oder für Else Lasker-Schüler, die alle
hier gelebt und die deutsche Sprache wesentlich geprägt haben.
Schlimmer als der Lehrplan 21 sind seine Gegner
Ein Anruf auf das Volksschulamt bestätigt den Befund. Es existiert keine
Liste empfohlener Literatur und auch kein Lesebuch. Die Lehrer dürfen mit ihren
Schülern lesen, was sie wollen. Es müssen nicht einmal Bücher sein.
Bei der Suche nach den Ursachen lande ich dort, wo man alle Hoffnung
fahren lässt, beim Lehrplan 21. Er wird in den deutsch-schweizer Kantonen auf
das kommende Schuljahr endgültig einführt. Es ist eine grässliche, freudlose
Lektüre, fünfhundert Seiten in einer Prosa, die keine Menschen, sondern
Maschinen als Verfasser vermuten lassen.
Schlimmer als der Lehrplan selbst sind allerdings seine Gegner.
Reaktionäre Sektierer, frustrierte Schulmeister und Verschwörungstheoretiker,
die einer globale Elite unterstellen, unsere Kinder einer Gehirnwäsche
unterziehen zu wollen. Dazu kommen eifrige Erziehungswissenschaftler, die unter
Aufbietung des gesamten akademischen Rüstzeugs haarklein nachweisen, weshalb
der Kompetenzbegriff, pièce de resistance der modernen Pädagogik, den Untergang
der westlichen Kultur bedeute. Das ist natürlich Unsinn. Der Lehrplan 21 ist
wie seine Vorgänger bloss Ausdruck des Zeitgeistes. Die Geschichte seiner
Entstehung sollte uns allerdings beunruhigen. Sie bezeugt ein gesellschaftliches
Versagen.
Eine fundierte Debatte kam nicht zustande
Im Bildungsartikel, den die Schweizer Bevölkerung im Jahr 2006 bei einer
lamentablen Stimmbeteiligung mit überwältigender Mehrheit guthiess, erhielten
die Kantone den Auftrag, ihre Schulsysteme zu harmonisieren. Eine
Expertengruppe machte sich an die Arbeit. Es waren die Jahre, in denen sich die
Bevölkerung mit anderen Themen beschäftigte. Kriminelle Ausländer und eine
Handvoll Minarette waren den Schweizerinnen und Schweizern wichtiger als die
Bildung der eigenen Kinder.
Zur selben Zeit erlebte die Digitalisierung eine ungeheure
Beschleunigung. Mit dem iPhone, das 2007 auf den Markt kam, wurde das Internet
mobil. Die klassischen Medien kamen unter Druck, soziale Medien bestimmen
seither den Alltag. Keine dieser Entwicklungen wurde im Zusammenhang mit dem
Lehrplan 21 diskutiert. Die Auseinandersetzung wurden höchstens regional
geführt, eine Folge der föderalen Struktur, denn die Bildung blieb Sache der
Kantone. Weil sich mit Lehrplänen keine nationale Karriere lancieren lässt,
kümmerten sich nur Politiker der zweiten und dritten Reihe um den Lehrplan 21.
Die Experten verloren sich in Spiegelfechtereien. Eine landesweite, fundierte
Debatte über die Grundsätze der Pädagogik im Zeitalter der dritten
industriellen Revolution kam nie zu Stande.
Bologna-Reform, Pisa-Studie – und dann Lehrplan 21
Deshalb kennt niemand den Namen von Heinrich Roth, obwohl die Theorien
dieses Pädagogen unsere Gesellschaft entscheidend beeinflussten. In den
sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts leitete Roth ein, was man später die
empirische Wende nennen sollte. Bis dahin war die Pädagogik
geisteswissenschaftlich geprägt gewesen. Der Fokus lag auf der kulturellen
Herkunft der Schüler, auf der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Roth
und seine Nachfolger verlangten härtere, messbare Methoden. Der technologische
Fortschritt kam ihnen zu Hilfe. Dank der Computer wurde es möglich, grosse
Gruppen von Kindern miteinander zu vergleichen, zu untersuchen, was sie vom
Unterricht behalten konnten. Das Erbe von Roth sind die Bologna-Reform, die
Pisa-Studien und eben auch der Lehrplan 21.
Henrich Roth hätte sich nicht träumen lassen, wie weit die Vermessung
des Menschen und der gleichzeitige Verlust der geschichtlichen Perspektive
gehen würden. Die Smartphones zählen unsere Schritte und orten uns an jedem
Punkt der Welt. Selftracker registrieren die Herzschläge und die nächtlichen
Schlafphasen. Die Daten vermessen den Menschen vollständig. Über die Welt, in
der er sich bewegt, erzählen sie nichts.
Soziale Gruppen berufen sich auf gemeinsame Erfahrungen, je mehr es
sind, um so enger die Bindung. Mit meiner Familie teile ich viele Geschichten,
mit den Nachbarn schon deutlich weniger. Mit der Zahl der Erzählungen nimmt
auch die Bindung ab, aber es braucht einen minimalen Fundus, damit eine
Gesellschaft funktioniert.
Der Kanon war umstritten, aber Grund zur Diskussion
Auch die bürgerliche Kultur, in deren Resten wir leben, bezog sich auf
einen Bestand gemeinsamer Geschichten. Sie nannte ihn Kanon. In einem komplexen
Verfahren schied die Gesellschaft das Wesentliche vom Unwesentlichen und
bestimmte, welche Werke auf dem Müllhaufen der Geschichte und welche einen
Platz in den Museen und den Bibliotheken bekamen. Dieser Kanon war immer
umstritten. Doch war weniger entscheidend, ob ein Buch als Kunst oder als
Schund bewertet wurde, wichtig war der gemeinsame Bezug, das ununterbrochene
Gespräch. Daran bildete sich die gesellschaftliche Identität, entstand eine
gemeinsame Erfahrung, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde.
Das ist alles von gestern. Heute liest jeder, was er für wichtig hält,
und die Schule, die grösste und wichtigste soziale Einrichtung des Landes,
schafft keine Verbindlichkeit mehr. Der Lehrplan 21 macht in den
geisteswissenschaftlichen Fächern keine Angaben über die Stoffe, die er für
wesentlich hält. Er bestimmt nur, wie etwas gelernt werden kann, welche Inhalte
besprochen werden, bleibt unerwähnt. Der Lehrplan 21 gibt keine Richtung vor,
zeigt nur, wie Karte und Kompass benutzt werden. Die Orientierung bleibt den
Schülern überlassen. Und natürlich rennt jeder in eine andere Richtung. Das
kann man durchaus begründen: Die Schule soll frei sein von Ideologien, von
politischen oder weltanschaulichen Ideen. Allerdings gibt sie damit auch die
Deutungshoheit ab und verzichtet darauf, gemeinsame Erfahrungen zu stiften.
Jeder rennt in eine andere Richtung. Wenn die Schule das aber nicht mehr
leistet, wie entstehen dann die Bindungen, die für eine Gesellschaft notwendig
sind?
Orientierung suchen die Menschen auch im digitalen Zeitalter. Sich in
der Welt zurechtzufinden, ist eine existentielle Bedingung. Und weil keine
Kriterien zur Verfügung stehen, um das Wesentliche vom Unwesentlichen zu
trennen, suchen sich die jungen Menschen anderswo ihre Massstäbe. Dabei
verfallen sie häufig auf Interessen, die andere Absichten haben, als den Geist
zu einem freien, verantwortlichen Subjekt zu formen, so wie das die öffentliche
Schule, immerhin eine Errungenschaft der Aufklärung und immer noch der
formulierte Anspruch des Lehrplans 21, zum Ziel hat. Der Kanon des digitalen
Zeitalters wird bis jetzt nicht durch Argumente, sondern durch Manipulation und
Algorithmen entwickelt.
Was verbindet uns noch?
Bisher beschränken sich zu viele darauf, den Verlust an klassischer
Bildung zu bejammern. Oder sie singen weiterhin die alten Lieder, solange, bis
der letzte im Chor gestorben sein wird. Dabei würde sich eine grosse Chance
bieten, nämlich die Prüfung der ehemals kanonisierten Werke auf ihre
Zukunftsfähigkeit. Welche Werke der Literatur, des Films, der bildenden Kunst,
bleiben verbindlich und wie halten wir sie im Gespräch? Es können nur wenige
sein, denn die technologische Revolution wird gnadenlos ausmustern, was sie für
entbehrlich hält. In diesem Prozess wird der bisherige Status keine Rolle
spielen, hingegen wird die Erfahrung, die wir mit diesen Werken verbinden,
zentral. Sie ist das einzige, was auch kommende Generation noch interessieren
wird. Nur daraus werden sie etwas ableiten können für das eigene Leben.
Das alles hätte man am Lehrplan 21 diskutieren können. Dafür ist es zu
spät. Was an der Debatte nicht in ideologischen Grabenkämpfen aufgerieben wurde,
starb in regionalem Gekläffe. Und sie steht damit für viele andere Probleme, ob
Altersvorsorge, die Zukunft der Arbeit oder der Klimawandel. Sie alle betreffen
unsere Zukunft im 21. Jahrhundert. Und alle beginnen mit der Frage, was uns
eigentlich noch verbindet. Worauf können wir uns einigen? Welche Geschichten
wollen wir teilen, damit nicht jeder für sich alleine liest?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen