13. Januar 2019

Schuss in den Fuss

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss outet sich als ein Gegner des Lehrplans 21. Doch dieselben Gegner des neuen Lehrplans tituliert er gleichzeitig als "Reaktionäre, Sektierer, frustrierte Schulmeister und Verschwörungstheoretiker". Ist das nun eine Provokation oder stimmt etwas nicht mit Bärfuss? Sein Befund, wonach das Fehlen eines literarischen Kanons die Gesellschaft auseinanderdriften lässt, gehört ja zu den wohlbekannten Argumenten der Gegnerschaft. Wo sich hier Bärfuss abheben soll von der breitgefächerten Kritik am Lehrplan 21, bleibt mir nach der Lektüre seines Aufsatzes verborgen. Seine Einwände sind ja alles andere als neu. Doch eine Frage bleibt noch im Raum: Wo war Bärfuss, als man in vielen Kantonen über den Lehrplan 21 diskutierte und abstimmte? (uk)
Bärfuss macht sich ein Bild vor Ort und besucht eine Schulklasse, Bild: Philippe Rossier
"Viel Zeitgeist, wenig Inhalt", Blick, 13.1. von Lukas Bärfuss

Wie brüchig der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft geworden ist, merke ich, wenn ich an Kunsthochschulen unterrichte. Die Studierenden haben zwar ähnliche Bildungswege hinter sich, trotzdem findet sich selten ein Buch, das alle gelesen haben. Jeder bezieht sich auf andere Werke, eine gemeinsame Lektüreerfahrung fehlt.

In der Volksschule haben unsere Kinder nie etwas von Elias Canetti gehört, obwohl dieser bedeutende Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1981 in unserem Quartier zu Hause war. Es liegt nicht an Canetti: auch Max Frisch, der in der Nachbarschaft aufgewachsen ist, fehlt im Schulstoff. Dasselbe gilt für Gottfried Keller, Bertolt Brecht oder für Else Lasker-Schüler, die alle hier gelebt und die deutsche Sprache wesentlich geprägt haben.

Schlimmer als der Lehrplan 21 sind seine Gegner
Ein Anruf auf das Volksschulamt bestätigt den Befund. Es existiert keine Liste empfohlener Literatur und auch kein Lesebuch. Die Lehrer dürfen mit ihren Schülern lesen, was sie wollen. Es müssen nicht einmal Bücher sein.

Bei der Suche nach den Ursachen lande ich dort, wo man alle Hoffnung fahren lässt, beim Lehrplan 21. Er wird in den deutsch-schweizer Kantonen auf das kommende Schuljahr endgültig einführt. Es ist eine grässliche, freudlose Lektüre, fünfhundert Seiten in einer Prosa, die keine Menschen, sondern Maschinen als Verfasser vermuten lassen.
Schlimmer als der Lehrplan selbst sind allerdings seine Gegner. Reaktionäre Sektierer, frustrierte Schulmeister und Verschwörungstheoretiker, die einer globale Elite unterstellen, unsere Kinder einer Gehirnwäsche unterziehen zu wollen. Dazu kommen eifrige Erziehungswissenschaftler, die unter Aufbietung des gesamten akademischen Rüstzeugs haarklein nachweisen, weshalb der Kompetenzbegriff, pièce de resistance der modernen Pädagogik, den Untergang der westlichen Kultur bedeute. Das ist natürlich Unsinn. Der Lehrplan 21 ist wie seine Vorgänger bloss Ausdruck des Zeitgeistes. Die Geschichte seiner Entstehung sollte uns allerdings beunruhigen. Sie bezeugt ein gesellschaftliches Versagen.

Eine fundierte Debatte kam nicht zustande
Im Bildungsartikel, den die Schweizer Bevölkerung im Jahr 2006 bei einer lamentablen Stimmbeteiligung mit überwältigender Mehrheit guthiess, erhielten die Kantone den Auftrag, ihre Schulsysteme zu harmonisieren. Eine Expertengruppe machte sich an die Arbeit. Es waren die Jahre, in denen sich die Bevölkerung mit anderen Themen beschäftigte. Kriminelle Ausländer und eine Handvoll Minarette waren den Schweizerinnen und Schweizern wichtiger als die Bildung der eigenen Kinder.

Zur selben Zeit erlebte die Digitalisierung eine ungeheure Beschleunigung. Mit dem iPhone, das 2007 auf den Markt kam, wurde das Internet mobil. Die klassischen Medien kamen unter Druck, soziale Medien bestimmen seither den Alltag. Keine dieser Entwicklungen wurde im Zusammenhang mit dem Lehrplan 21 diskutiert. Die Auseinandersetzung wurden höchstens regional geführt, eine Folge der föderalen Struktur, denn die Bildung blieb Sache der Kantone. Weil sich mit Lehrplänen keine nationale Karriere lancieren lässt, kümmerten sich nur Politiker der zweiten und dritten Reihe um den Lehrplan 21. Die Experten verloren sich in Spiegelfechtereien. Eine landesweite, fundierte Debatte über die Grundsätze der Pädagogik im Zeitalter der dritten industriellen Revolution kam nie zu Stande.

Bologna-Reform, Pisa-Studie – und dann Lehrplan 21
Deshalb kennt niemand den Namen von Heinrich Roth, obwohl die Theorien dieses Pädagogen unsere Gesellschaft entscheidend beeinflussten. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts leitete Roth ein, was man später die empirische Wende nennen sollte. Bis dahin war die Pädagogik geisteswissenschaftlich geprägt gewesen. Der Fokus lag auf der kulturellen Herkunft der Schüler, auf der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Roth und seine Nachfolger verlangten härtere, messbare Methoden. Der technologische Fortschritt kam ihnen zu Hilfe. Dank der Computer wurde es möglich, grosse Gruppen von Kindern miteinander zu vergleichen, zu untersuchen, was sie vom Unterricht behalten konnten. Das Erbe von Roth sind die Bologna-Reform, die Pisa-Studien und eben auch der Lehrplan 21.

Henrich Roth hätte sich nicht träumen lassen, wie weit die Vermessung des Menschen und der gleichzeitige Verlust der geschichtlichen Perspektive gehen würden. Die Smartphones zählen unsere Schritte und orten uns an jedem Punkt der Welt. Selftracker registrieren die Herzschläge und die nächtlichen Schlafphasen. Die Daten vermessen den Menschen vollständig. Über die Welt, in der er sich bewegt, erzählen sie nichts.

Soziale Gruppen berufen sich auf gemeinsame Erfahrungen, je mehr es sind, um so enger die Bindung. Mit meiner Familie teile ich viele Geschichten, mit den Nachbarn schon deutlich weniger. Mit der Zahl der Erzählungen nimmt auch die Bindung ab, aber es braucht einen minimalen Fundus, damit eine Gesellschaft funktioniert.

Der Kanon war umstritten, aber Grund zur Diskussion
Auch die bürgerliche Kultur, in deren Resten wir leben, bezog sich auf einen Bestand gemeinsamer Geschichten. Sie nannte ihn Kanon. In einem komplexen Verfahren schied die Gesellschaft das Wesentliche vom Unwesentlichen und bestimmte, welche Werke auf dem Müllhaufen der Geschichte und welche einen Platz in den Museen und den Bibliotheken bekamen. Dieser Kanon war immer umstritten. Doch war weniger entscheidend, ob ein Buch als Kunst oder als Schund bewertet wurde, wichtig war der gemeinsame Bezug, das ununterbrochene Gespräch. Daran bildete sich die gesellschaftliche Identität, entstand eine gemeinsame Erfahrung, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde.

Das ist alles von gestern. Heute liest jeder, was er für wichtig hält, und die Schule, die grösste und wichtigste soziale Einrichtung des Landes, schafft keine Verbindlichkeit mehr. Der Lehrplan 21 macht in den geisteswissenschaftlichen Fächern keine Angaben über die Stoffe, die er für wesentlich hält. Er bestimmt nur, wie etwas gelernt werden kann, welche Inhalte besprochen werden, bleibt unerwähnt. Der Lehrplan 21 gibt keine Richtung vor, zeigt nur, wie Karte und Kompass benutzt werden. Die Orientierung bleibt den Schülern überlassen. Und natürlich rennt jeder in eine andere Richtung. Das kann man durchaus begründen: Die Schule soll frei sein von Ideologien, von politischen oder weltanschaulichen Ideen. Allerdings gibt sie damit auch die Deutungshoheit ab und verzichtet darauf, gemeinsame Erfahrungen zu stiften. Jeder rennt in eine andere Richtung. Wenn die Schule das aber nicht mehr leistet, wie entstehen dann die Bindungen, die für eine Gesellschaft notwendig sind?

Orientierung suchen die Menschen auch im digitalen Zeitalter. Sich in der Welt zurechtzufinden, ist eine existentielle Bedingung. Und weil keine Kriterien zur Verfügung stehen, um das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, suchen sich die jungen Menschen anderswo ihre Massstäbe. Dabei verfallen sie häufig auf Interessen, die andere Absichten haben, als den Geist zu einem freien, verantwortlichen Subjekt zu formen, so wie das die öffentliche Schule, immerhin eine Errungenschaft der Aufklärung und immer noch der formulierte Anspruch des Lehrplans 21, zum Ziel hat. Der Kanon des digitalen Zeitalters wird bis jetzt nicht durch Argumente, sondern durch Manipulation und Algorithmen entwickelt.

Was verbindet uns noch?
Bisher beschränken sich zu viele darauf, den Verlust an klassischer Bildung zu bejammern. Oder sie singen weiterhin die alten Lieder, solange, bis der letzte im Chor gestorben sein wird. Dabei würde sich eine grosse Chance bieten, nämlich die Prüfung der ehemals kanonisierten Werke auf ihre Zukunftsfähigkeit. Welche Werke der Literatur, des Films, der bildenden Kunst, bleiben verbindlich und wie halten wir sie im Gespräch? Es können nur wenige sein, denn die technologische Revolution wird gnadenlos ausmustern, was sie für entbehrlich hält. In diesem Prozess wird der bisherige Status keine Rolle spielen, hingegen wird die Erfahrung, die wir mit diesen Werken verbinden, zentral. Sie ist das einzige, was auch kommende Generation noch interessieren wird. Nur daraus werden sie etwas ableiten können für das eigene Leben.

Das alles hätte man am Lehrplan 21 diskutieren können. Dafür ist es zu spät. Was an der Debatte nicht in ideologischen Grabenkämpfen aufgerieben wurde, starb in regionalem Gekläffe. Und sie steht damit für viele andere Probleme, ob Altersvorsorge, die Zukunft der Arbeit oder der Klimawandel. Sie alle betreffen unsere Zukunft im 21. Jahrhundert. Und alle beginnen mit der Frage, was uns eigentlich noch verbindet. Worauf können wir uns einigen? Welche Geschichten wollen wir teilen, damit nicht jeder für sich alleine liest?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen