Die Diskussion um den LEHRPLAN 21 (im
Folgenden L21), die jetzt in der Öffentlichkeit unüberhörbar ist, nimmt
teilweise merkwürdige Züge an. Viele Eltern seien verunsichert, heisst es
beispielsweise. Aber sicher nicht durch L21, denn sie haben ihn gar nicht
gelesen. Was verunsichert, sind die vielen Informationsbruchstücke und deren
Interpretationen. Diese enthalten oft sowohl Klärungen, die man nachvollziehen
kann, als auch Beschwichtigungen, die Misstrauen und in der Folge auch
Unsicherheit hervorrufen. Im Folgenden soll weder geklärt noch beschwichtigt
werden. Vielmehr geht es darum, L21 in einen etwas weiteren Rahmen zu stellen
und ihn nicht aus bildungspolitischer, sondern aus ausbildungsbezogener Sicht
zu gewichten und ihm alternative Überlegungen gegenüberzustellen.
Im Würgegriff von LEHRPLAN 21, 23.11. (Überarbeitung eines Beitrags aus dem Jahr 2014) von Gerhard Steiner
Hören wir zuerst
kurz in Pausenhofgespräche hinein: „Wir sind jetzt gerade am 1. Weltkrieg.“ – „Was
nehmt ihr zur Zeit durch?“ – „Die Verschiebung der Kontinentalplatten haben wir
letzte Woche gehabt, jetzt kommt dann die Sache mit den vulkanischen und den
magmatischen Gesteinen dran.“ In der Schule „ist man an etwas“ oder „man nimmt etwas
durch“ oder „man hat etwas schon gehabt“.
Das war früher
schon und ist heute noch der einschlägige Jargon. Schule findet statt, immer
einem Thema entlang, innerhalb eines solchen oder durch ein solches hindurch.
Diese Themen machen die Inhalte von Stoffplänen aus. Während des sog.
„Bildungs-Booms“ der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sollte auch bei
uns die Qualität des Unterrichts und der Lernerfolg auf allen Stufen auf ein
ungeahnt hohes Niveau gehievt werden. Aus diesem Grund versah man alle zu
lernenden Inhalte oder die zu erwerbenden Fähigkeiten und Fertigkeiten mit
einer verhaltensbezogenen Zielsetzung,
die es erlaubte zu prüfen, ob das erworbene Wissen und Können aufgrund des
Unterrichts auch tatsächlich verfügbar war. Und so hiess es dann (anstatt nur
gerade den Lerninhalt zu nennen), „den subjonctif anwenden können“ oder „lineare Gleichungen mit zwei Unbekannten auflösen können“. Man sprach bei diesen
Formulierungen von der „Lernziel-Operationalisierung“ (der „Sichtbarmachung“ des
Zieles mittels eines Verhaltens). Erworbenes Wissen und Können wurde messbar
gemacht, das beruhigte. Dabei ist die Messbarkeit nicht grundsätzlich infrage
zu stellen; es soll aber nie vergessen werden, dass Entscheidendes, was aus
einem wirksamen Lehr-Lern-Prozess resultiert, nicht nur Messbares ist; es gibt auch nicht Messbares: etwa die
Grundeinstellung, etwas erfahren und wissen zu wollen, angestossen von einer
gewissen Neugier, oder das Wissen, dass eigenes Lernen nicht einfach passiert,
sondern beobachtet und reguliert werden kann, oder der Mut bzw. die
Hartnäckigkeit, auch dann weiterzumachen, wenn Lernen anstrengend, wenig
lustvoll oder deprimierend ist.
Und wie heisst
es heute in L21: Die Schülerinnen und Schüler „...können Gesetze, Regeln und
Wertesysteme verschiedener Lebensräume erkennen, reflektieren und entsprechend
handeln“ oder „...kennen ausgewählte funktionale Eigenschaften von mit Schwachstrom
betriebenen Geräten oder Objekten und können diese konstruktiv verwenden“. Was
ist neu an L21? Antwort: die Orientierung an den „Kompetenzen“. Jetzt sind also
die „Kompetenzen“ aus der Betriebswirtschaft auch in den obersten Etagen der
Bildungspolitik angekommen. Weg von den Inhalten, hin zu etwas Anderem. Deshalb
zuerst zum begrifflichen hot spot der aktuellen Diskussion, zu den
„Kompetenzen“! Achtung, die Sprache wird jetzt etwas schwierig: „Kompetenzen
sind kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional
auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen“ (Kieme,
Maag-Merki & Hartig, 2007, p. 9) – eine durchaus treffende, äusserst
konzise Charakterisierung von „Kompetenz“ für alle Leserinnen und Leser, die
sich in der entsprechenden Terminologie schon auskennen. Und die Verfasser von
L21 dürfen wohl dazu gerechnet werden. Für den Hausgebrauch formuliert: Bei den
Kompetenzen hat man es mit Fähigkeiten eines Menschen zu tun, die man nicht
direkt beobachten kann, etwas, was als geistiges Potential (und daraus abzuleiten auch als Handlungspotential) gleichsam bereit steht, bis es gebraucht wird.
Erst der gekonnte Gebrauch dieses Potentials (man spricht dann mit Bezug auf
den aktuellen Vollzug von „Performanz“) lässt dann die Kompetenz in Erscheinung
treten. Kompetenzen sind basale Wissensbestände, die auf eine Vielzahl von
konkreten Aufgaben anwendbar sind, von denen jeweils im aktuellen Fall eine zu bearbeitende vorliegt.
Kompetenzen sind somit von allgemeinerer Natur als spezifisches, auf begrenzte
Inhalte oder Fragestellungen ausgerichtetes Wissen und Können.
Der kritische
Punkt ist nun aber der, dass immer dann, wenn eine Kompetenz auf ihr Vorhanden-
oder Nichtvorhandensein überprüft werden soll, ein konkreter Inhalt (ein
Lerninhalt), aber nur einer aufs Mal (!), beigezogen werden muss. Damit sind
wir wieder bei den konkreten Inhalten, die man doch durch „Kompetenzen“
ersetzen wollte. Beispiel: Man erkennt einen Schüler als kompetent, wenn er
(u.a.) „...Lerngelegenheiten aktiv und selbstmotiviert nutzt und dabei
Lernstrategien einsetzt“. Ohne einen konkreten Inhalt lässt sich diese
Kompetenz (oder diese Facette einer Kompetenz) überhaupt nicht überprüfen. Zwar
werden im L21 die zuletzt, d.h. auf hohem Niveau zu erwerbenden Kompetenzen
durchaus auf eine differenzierte Art und Weise heruntergebrochen und durch zahlreiche
zu erreichende Fähigkeiten (oder Teilfähigkeiten) definiert. Aber auch diese
müssen mit Inhalten gefüllt werden, wenn man erkennen will, ob sie wirklich verfügbar
sind.
L21 soll dem
Rechnung tragen, heisst es doch in der Einleitung (S. 5): „Über die
Auseinandersetzung mit variablen Lerngegenständen und Problemlösungen erwerben
Schülerinnen und Schüler nicht nur fachbedeutsames Wissen, sondern sie machen
auch Lernerfahrungen und erwerben Sach-, Methoden- und Strategiewissen, das
sich auf neue Lernzusammenhänge und Anforderungen übertragen lässt“. Als ob
sich das alles einfach so im Laufe des Älterwerdens der Schülerinnen und Schüler
ergeben würde! Hier liegt der Knackpunkt. Wie
soll und wird das alles geschehen? Es geht um die Prozesse des Umgangs „...mit variablen Lerngegenständen und
Problemen...“, um die Prozesse der
adäquaten Verwertung der „Lernerfahrungen“, wenn sich diese zu einem Wissen
höherer Ordnung entwickeln sollen (z.B. zu „Sach-, Methoden- und
Strategiewissen“). Genau diese Prozesse sind es, die im Fokus einer Optimierung
der Ausbildung stehen müssen; die zu erreichenden „Kompetenzen“ aus L21 haben
dabei möglicherweise eine Hilfsfunktion, indem sie die Unterrichtenden bei
ihrer Planungsarbeit thematisch-inhaltlich immer wieder an die Stufen oder Stationen
der laufenden Ausbildung erinnern.
Viele der im
L21 aufgeführten Kompetenzen, vor allem die fachbezogenen Kompetenzen oder
Fähigkeiten, sind als mögliche Ziele der Ausbildung durchaus zu verstehen und
zu akzeptieren. Man bewegte sich ja auch bisher nicht einfach ziellos in einem
Feld und kennt sich daher auch ein wenig aus. Nur entsteht mit L21 immer wieder
der Eindruck, als ergebe sich der Erkenntniserwerb oder der Lernfortschritt wie
ein notwendiger Ablauf oder ein Automatismus. Die Lernenden „....können....“
(ein paar hundert Mal), die Lernenden „...kennen....“, die Lernenden
„...verstehen...“ Sobald die Unterrichtenden über ein hohes Bewusstsein vom Lernen als Prozess verfügen
(das gilt für alle Schulstufen), können sie ihre Unterrichtsplanung, die
Durchführung und die Evaluation selektiv mit einigen der aufgezählten Fähigkeiten
bzw. Zielsetzungen von L21 abstimmen. So wie L21 aber jetzt vorliegt, ist sein Fokus falsch.
Kleiner Exkurs:
Im subtropischen und tropischen Regenwald deponieren Vögel hoch oben im Geäst
von starken Bäumen Pflanzensamen. Wenn diese zum Keinem kommen, schicken sie
von oben ihre Wurzeln entlang des Stammes des Wirtsbaumes hinunter. Sie
umschlingen dann den Stamm auf eine strukturell differenzierte und geradezu
ästhetische Art und Weise, erdrosseln dann aber den Baum erbarmungslos (Bilder
dazu im Internet zum Stichwort strangler fig). Genau so funktioniert L21: Mit seiner
Struktur umfasst er (wörtlich zu
nehmen) inhaltlich interessant (allerdings unter der Gefahr einer extremen Atomisierung
der Lerninhalte) die gesamte Ausbildung samt ihren Mitwirkenden, den Lehrenden
und Lernenden, aber anstatt diese kraft seiner Funktion zu stützen, stranguliert er sie (vgl. den Titel dieses Beitrags).
Es kann an
dieser Stelle auf weitere Zitate aus L21 verzichtet werden, weil dieser im
Internet leicht zugänglich ist und dort – die nötige Ausdauer vorausgesetzt – im
Detail studiert und kritisch begutachtet werden kann. Das ist über weite
Strecken anregend und kann sich durchaus lohnen.
L21 mag schweizweit
etwas von der erwarteten Harmonisierung von Lehr-Lern-Inhalten bringen, mag auch
– das ist aber schon sehr fraglich – aufzuzeigen helfen, wo weiterführende
Schulstufen mit ihrem Stoff anschliessen können. Aber er garantiert keinen
besseren Unterricht, keine effizienteren Lernprozesse und auch nicht mehr
selbstreguliertes Lernen; weder glücklichere Lernende noch begeisterte Lehrende
(wer es ist, bleibt es ohnehin, auch ohne L21). Auf ein ausgeprägtes
Bewusstsein vom Lernen als Prozess kommt
es weit stärker an als auf die in L21 vorliegende umfassende Liste von
Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich vielleicht einmal zu Kompetenzen weiter entwickeln.
Es soll hier in sechs Thesen aufgezeigt werden, in welchem Rahmen man L21 sehen
kann, vor allem aber, welche schulischen Massnahmen eine höhere Dringlichkeit
verdienen und weit mehr zu einer Optimierung der Ausbildung beitragen .
These 1
Die Ausrichtung
auf „Kompetenzen“ als übergreifenden Zielsetzungen muss auf die Prozesse des Lehrens und Lernens, also
auf den Erwerb allfälliger
„Kompetenzen“ umfokussiert werden.
Kommentar
·
Entscheidend
sind die Teilprozesse (eigentlich die Mikroprozesse) des Lehrens und Lernens, bei
denen es um das Anstossen von
Lernprozessen geht (immer an konkreten Einzelinhalten), um die Begleitung dieser Prozesse, um die Bewertung (Evaluation) des erworbenen Wissens
und Könnens wie auch der Qualität der eingesetzten Mikroprozesse und
schliesslich (meist völlig vergessen) um ein Nachfassen, falls die Ergebnisse nicht zufriedenstellend sind. Hierbei
haben freilich wohlstrukturierte Lerninhalte und entsprechend klar definierte Ziele
ihren „Ort“ und ihre Berechtigung, aber nicht als „Kompetenzen“, sondern als Teilfähigkeiten
oder Teilfertigkeiten, die von den spezifischen Inhalten des jeweiligen
Lernstoffes abhängig und geprägt sind. Lernen ist eben hochgradig inhaltsspezifisch. Zwar sind die „Kompetenzen“
von L21 ausdifferenziert (ein Verdienst der Autoren); sie bleiben aber zwangsläufig
sehr foral und allgemein.
·
Konstituierende
Teilprozesse jedes Lernens sind das Verstehen, das Behalten, das Abrufen und
das Anwenden von Wissen und Können. Das
Verstehen wird denn auch in der Einleitung zum L21 (und auch später immer
wieder) erwähnt. Aber es trifft nicht zu, dass Wissen im Lernen mit L21 eine
untergeordnete Rolle spielt, dass nur Fähigkeiten, eben „Kompetenzen“ zählen,
wie Bildungspolitiker zur Verteidigung von L21 betonen. Wissen (auch
lexikalisches) ist ein konstituierender Bestandteil der sich entwickelnden
Intelligenz, wie Franz Weinert vor Jahren schon gezeigt hat (Prof. Franz Weinert
wird in der Einleitung zu L21 als Bezugsautor erwähnt). Die Teilprozesse Verstehen,
Behalten, Abrufen und Anwenden stehen als Faktoren für ein Lernergebnis in
einem hoch interaktiven Verhältnis zueinander, und falls auch nur einer von
ihnen schwach ausgebildet ist, wird das gesamte Lernergebnis schwach ausfallen.
Solche Zusammenhänge erfasst L21 nicht. Der Fokus hinsichtlich eines effizienten
und nachhaltigen Lernens muss auf der Frage liegen, wie diese vier Prozesse substanziell gehandhabt und optimiert
werden können – immer inhaltsbezogen und auf Einzelprobleme gerichtet.
·
Die
gedächtnispsychologischen und kognitionswissenschaftlichen Grundlagen für die vier
genannten Prozesse liefert seit rund 100 Jahren die entsprechende Forschung. Nur
sind deren Ergebnisse bis heute noch nicht überall in der Lehrerbildung in einer
Form angekommen, die eine didaktische Umsetzung im Unterricht sicherstellen würde.
·
Keine
bildungspolitische oder schulorganisatorische Massnahme der letzten Jahre hat
die Qualität der Ausbildung nachhaltig verändert oder gar verbessert, weder die
jahrgangsgemischten Klassen noch das selbstregulierte Lernen und schon gar
nicht betriebswirtschaftlich ausgerichtete Reformen der Schulorganisation. Diese
Arten von Schulreformen der jüngeren Vergangenheit und die entsprechenden
unterrichtlichen Massnahmen laufen primär auf einem
organisatorischen Makroniveau ab, auf dem die entscheidenden individuellen Lernprozesse kaum tangiert werden.
organisatorischen Makroniveau ab, auf dem die entscheidenden individuellen Lernprozesse kaum tangiert werden.
These 2
Es braucht eine starke Professionalisierung der Bereiche
Lehren, Lernen und Gedächtnis in der Lehrerausbildung, verknüpft mit dem
Aufbau eines Bewusstseins vom Lernen als
Prozess als Gegengewicht zu einer fast ausschliesslichen Stoff- (Inhalts-) bzw.
Curriculumorientierung und – neuerdings eben – einer Kompetenzorientierung.
Kommentar
·
„Professionalisierung“
ist nicht gleichbedeutend mit „Akademisierung“.
·
„Professionalisierung“
meint die Auseinandersetzung mit so viel fundierter Theorie in der
Lehrerbildung, dass die täglich zu planenden, zu begleitenden und zu evaluierenden
konkreten (fächerspezifischen) Lernprozesse adäquat analysiert und im Unterricht umgesetzt werden können. Unterrichtende
müssen nicht zu Forschern ausgebildet werden, sondern zu professionellen
Anwendern von Forschungsergebnissen. (Wer später dennoch Bildungsforscher
werden will, kann nach einer Phase des Unterrichtens mit Gewinn einen solchen
Schritt tun.)
·
Die
genannten Analysefähigkeiten müssen allerdings explizit erlernt und eingeübt
werden, wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, dass Lernen ein extrem inhaltsspezifischer Prozess ist:
Mathematische Lernprozesse laufen ganz anders ab als die Prozesse des Erwerbs
von historischem oder biologischem Wissen oder diejenigen, die manuelle
Fertigkeiten sicherstellen. Die hier angesprochene „Professionalisierung“ liegt
aber nicht einfach im Bereich der Fachdidaktiken; sie baut auf einer angewandten kognitiven Lerntheorie auf.
Spezifisch experimentelle Fragestellungen und Methoden aus der kognitionspsychologischen
Forschung sind zwar zur Verfeinerung der Theoriebildung wichtig, dienen aber nur
in Ausnahmefällen einer besseren Unterrichtsplanung und -durchführung.
Ähnliches gilt auch für die aktuelle neuropsychologische Forschung, deren
Ergebnisse nur in beschränktem Umfang und wenn überhaupt lediglich selektiv auf
einige Bereiche des Unterrichtens angewandt werden können. Für das Verstehen
oder gar Fördern von Lernprozessen im Unterricht bringen sie ausser einer
gewissen Attraktivität (vor allem der bildgebenden Verfahren) ernüchternd wenig.
·
Die
professionell ausgebildete Fähigkeit zur Unterrichts- bzw. zur „genetischen
Stoffanalyse“ („genetisch“ bezieht sich auf die Genese von Wissensstrukturen,
hat also nichts mit biologischen Genen zu tun) und das entsprechende
Grundwissen dazu ist unabdingbar, um einerseits den Stoff kompetent auszuwählen
(soweit die Stoffpläne und Lehrmittel das überhaupt zulassen), ihn aufzubereiten
und die Lehr-Lern-Prozesse effizient und nachhaltig zu gestalten (und nicht
einfach die Lehrbuchinhalte gemäss dem Lehrerleitfaden nachzubeten),
andererseits aber auch um sicherzustellen, dass man als Lehrperson ein für Schüler,
Eltern und Behörden verständnisvoller und intelligenter Gesprächspartner ist.
Heutzutage ist Professionalität allerdings auch nötig, um gegenüber alles besser
wissenden Eltern und/oder Bildungspolitikern kompetent und argumentativ überzeugend
auftreten zu können.
·
Unterrichten
muss wieder die zentrale Domäne von lernpsychologisch solide ausgebildeten und
professionell agierenden Lehrenden werden (mancherorts auch bleiben), eben von
„Profis“, denen der Umgang mit Lernschwierigkeiten ebenso selbstverständlich gelingt
wie die effiziente Klassenführung (Organisation, Disziplin u.a.m.) oder
kompetente Auftritte nach aussen.
These 3
Die Lehrkräfte müssen dringend und
schnell wieder mit denjenigen unterrichtlichen Freiheiten ausgestattet werden,
die ihren Beruf attraktiv, befriedigend, erstrebenswert und wirksam machen.
Kommentar
·
Lehrerinnen
und Lehrer müssen aus den derzeitigen Zwangsjacken von Lehrplänen
(einschliesslich L21) und Curricula, von schulinternen Organisationsorgien und
administrativen Pflichten befreit werden (etwa vom Schreiben von Berichten, die
vielleicht gelesen, aber fast nie mit entsprechendem Feedback versehen werden).
All das lenkt vom Kerngeschäft ab, demotiviert in den allermeisten Fällen,
brennt aus und tötet nicht nur den Geist.
·
Die
Lehrenden müssen mit ihren individuellen Kompetenzen (hoch entwickelten
fachlichen und persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten) wirken, begeistern
und vielleicht sogar auch einmal nach aussen glänzen dürfen. Man muss die
fähigen Lehrer bewusst und gezielt zur Kenntnis nehmen, sie vielleicht auch erst
einmal aufspüren, ihnen Verantwortung zuweisen und sie in bildungs- bzw.
unterrichtsrelevante Entscheide einbinden. Als Frontleute sind sie dazu nämlich in der Lage.
·
Zur
Zeit gehen dem gesamten Bildungssystem in unserem Land ungeahnte Potentiale bei den Unterrichtenden verloren,
weil sie kaum Gelegenheit und Zeit bekommen, diese in ihrem jeweiligen unterrichtlichen
Umfeld einzubringen oder umzusetzen. Würden Betriebe mit den Potentialen ihrer
Kadermitarbeiter so umgehen... (!)
·
L21
ist mit seiner Fülle an Vorgaben für einen Kompetenzaufbau darauf angelegt, die
individuellen Potentiale von Lehrenden zu übersehen und wenn nicht, sie noch schneller
als bisher zu verdrängen bzw. zu ersticken. L21 wirkt hinsichtlich einer Wahl
des Lehrerberufs nicht gerade einladend, mehr noch: er könnte durchaus zu einer
weiteren Welle von Kündigungen führen.
These 4
Langfristig
wirksamer Unterricht braucht Gelegenheiten
zum Üben, d.h. zum Konsolidieren (Festigen, Vertiefen) der aufgebauten
Wissens- und Könnensstrukturen und zwar nicht eine oder zwei, sondern gegen eine
Zehnerpotenz mehr als heute im Durchschnitt üblich. Diese Forderung legt die Forschung
über Experten (im Vergleich zu Anfängern oder Novizen) in verschiedenen
Bereichen nahe, und jeder, der weiss, wie berufliche Expertise oder sportliches
Training funktioniert, wird zustimmen.
Kommentar
·
Lernen
bedeutet immer zwei Dinge: Aufbau
(mit dem Ziel „Verstehen“) und
Konsolidierung (mit dem Ziel „Festigen des Gelernten“, d.h. behalten und
abrufen können). Die Konsolidierung wird im Unterricht sträflich vernachlässigt
und dem „Outsourcing“ in die Hausaufgaben und damit den Eltern oder dem Zufall überlassen,
sodass vieles, was im Unterricht „durchgenommen“ worden ist, nie zu einem
verfügbaren Wissen und Können und schon gar nicht zu einer Kompetenz werden kann
(aber man hat es „gehabt“).
·
Die
Konsolidierungsaktivitäten (ganz einfach: das Üben) sind auch von verschiedenen
Akteuren des Bildungswesens als unwirksam zum pädagogischen „alten Eisen“
geworfen worden; die nötige Zeit zum Üben wurde als Luxus abgetan, und die
unterrichtlichen Gelegenheiten dazu wurden mit niedriger Priorität eingestuft.
Oder ganz anders: Konsolidierungsaktivitäten sind auch in bildungspolitischen
Höhenflügen (samt Volksabstimmungen) z.B. dem Blockunterricht leichtfertig geopfert
worden. (Das Postulat „Blockunterricht“ diente als Politikum der Befriedigung charakteristischer
Bedürfnisse, vor allem familienorganisatorischer Natur, nicht aber der Verbesserung
der Lernbedingungen bei Schülerinnen und Schülern. Der Blockunterricht schadet
deshalb den Lernenden, weil er praktisch ausschliesslich auf Kosten der
Konsolidierung (Festigung) des Lernstoffes geht, ein stiller, aber massiver Kollateralschaden bildungspolitischen
Eifers oder parteipolitischer Profilierung.)
·
Nur
erworbenes Wissen und Können, das leicht,
rasch, richtig und vollständig abgerufen werden kann, ist für eine
Anwendung im beruflichen Alltag und – in der schulischen Ausbildung – für
weitere effiziente Lernschritte von Nutzen. Das setzt aber gut geplantes,
intensives und wohlstrukturiertes Üben voraus (die Literatur spricht von
„deliberate practice“).
These 5
Es braucht eine
massiv verbesserte Nutzung der Lernzeit.
Kommentar
·
Wertvolle
Unterrichts- bzw. Lernzeit geht verloren, z.B. weil die Unterrichtorganisation nicht automatisiert ist oder in
disziplinarischen Problemen und Massnahmen erstickt (z.B. das Fehlen eingeübter
Gewohnheiten für den Unterrichtsbeginn, die Organisation von Gruppenarbeiten oder
deren Auswertung).
·
Schleichend,
aber in der Wirkung noch viel destruktiver wirkt sich die an vielen Schulen aufgekommene
Usanz aus, am Freitagnachmittag, am Tag vor Feiertagen oder in der Woche vor
den Ferien den seriösen Lehr-Lern-Betrieb zu reduzieren oder einzustellen:
aufzuräumen oder Filme anzusehen, ohne jeden Lernzweck, einfach um „fun“ zu
organisieren. Das darf nicht sein.
·
10
Minuten ungenutzte oder vergeudete Zeit pro Lektion, z.B. für organisatorische
und/oder disziplinarische Massnahmen oder für unnötige Wiederholungen von
früher erarbeitetem, aber absolut nicht konsolidiertem Stoff, bedeuten auf vier
Schuljahre hochgerechnet nahezu ein
verlorenes Schuljahr. Soll einer sagen, das sei unbedeutend.
These 6
Diese These
steht zwar erst an sechster Stelle, ist möglicherweise aber in einigen
schulischen Belangen die wichtigste von allen: Es braucht dringend eine Ent-Heterogenisierung der Schulklassen
im Hinblick auf die Nutzung der Lernfähigkeiten und der Lernwilligkeit.
Kommentar
·
Lernen ist immer ein Integrieren von neuer
Information in aktiviertes Vorwissen,
und je homogener dieses Vorwissen von Lernenden ist, desto einfacher, aber auch
sicherer ist die Steuerung der Lernprozesse im Klassenverband und desto besser
werden die Lernresultate. Hinsichtlich der Effizienz der Lernprozesse und des
Lernzuwachses in allen Stoffbereichen ist daher eine möglichst grosse Homogenität hinsichtlich Lernfähigkeit
und Lernwilligkeit optimal und daher unbedingt anzustreben.
Wer
am Gesagten zweifelt, sollte sich (1) an den Ergebnissen der kognitiv-entwicklungs-psychologischen
Forschung orientieren u.a. mit ihren Befunden zur „Zone der proximalen
Entwicklung“, die von Vygotski und Bronfenbrenner aufgezeigt worden ist, muss
(2) das Phänomen der „optimalen Passung“ (ein Begriff von Heinz Heckhausen)
studieren und (3) das Wissen über die Entwicklungsschritte beiziehen, wie es
von Piaget und seinen Mitarbeitern in Genf vor langer Zeit für die kognitive
Entwicklung herausgearbeitet worden ist.
·
Schon
einstufige Jahrgangsklassen mit wenig Sonderfällen unter den Schülern weisen im
Hinblick auf die Lernfähigkeiten eine respektable (für viele Lehrkräfte bereits
erschreckende und kaum zu bewältigende) Heterogenität auf, weil die Lernbiographien der einzelnen Lernenden
schon früh deutlich divergieren. Künstlich
noch mehr Heterogenität in die
Klassen einzuschleusen (aus bildungspolitischen Überzeugungen oder aufgrund
pädagogischer Tollkühnheit: jahrgangsgemischte Klassen, integrativer Unterricht,
verfrühte sprachliche Durchmischung), widerspricht nicht nur jeder Vernunft,
sondern kostet viel Zeit (s. These 5), behindert einerseits die Fortschritte aller
Lernenden und erschwert andererseits sowohl die Klassenführung als auch die oft
nötige subtile Lenkung der Lernprozesse. Entsprechende Unterrichtssituationen in
heterogenen Umfeldern wirken, wenn sie penetrant genug auftreten, ungemein
demotivierend – sowohl für lernstarke, wissbegierige als auch für permanent
überforderte Lernende, aber auch für Unterrichtende. Solches ist nicht zu
verantworten und kann auch (fast) überall ohne grossen Aufwand vermieden werden.
Wer dennoch für eine künstlich vergrösserte Heterogenität in Klassen plädiert, etwa weil nur so soziale Kompetenzen oder Kooperation beim Lernen eingeübt werden könnten, dem sei verraten, dass die oben erwähnte „normale“ Heterogenität innerhalb einzelner Klassen zur Realisierung dieser Ziele heute schon bei Weitem ausreicht.
Wer dennoch für eine künstlich vergrösserte Heterogenität in Klassen plädiert, etwa weil nur so soziale Kompetenzen oder Kooperation beim Lernen eingeübt werden könnten, dem sei verraten, dass die oben erwähnte „normale“ Heterogenität innerhalb einzelner Klassen zur Realisierung dieser Ziele heute schon bei Weitem ausreicht.
·
Zwar
hat die Schule im Kontext der Erfüllung ihres Bildungsauftrags durchaus die
Aufgabe, „...Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und mit
unterschiedlichen Lernvoraussetzungen...“ zu integrieren. Aber die
entscheidende Frage ist doch: Wo hinein integrieren? In welchen geistigen und sozialen
Kontext, unter welchen Bedingungen und welchen Erwartungen bzw. Zielsetzungen? Was
ist für das betreffende Individuum effizient? Was ist sinnvoll?
·
Viele
Lehrer sind kaum in der Lage, über Jahre hinweg die Vielfalt an Lehr-Lern- Anforderungen
in heterogenen Klassen zu bewältigen und dabei ihre eigene Motivation (manchmal
auch die eigene Gesundheit) stabil hoch zu halten. Und auch die permanente
Präsenz von Zusatzlehrkräften, die sich bei der gegebenen Heterogenität in
vielen Klassen aufdrängt, ist nicht immer hilfreich und macht das Führen einer
Klasse nicht immer einfacher.
·
Unterrichtende
können auch selber zur Homogenisierung ihrer Klasse beitragen, indem sie der in
Mode gekommenen Individualisierung des Unterrichts massiv entgegen treten und
die gemeinsamen Lerneraktivitäten und
Lernerfolge so oft und so deutlich wie möglich hervorheben: Das kann nämlich
zur Manifestation dafür werden, dass eine Klasse ein grosses Team ist, eine
verschworene Bande, und dass sich jede und jeder über einen gemeinsam errungenen
Erfolg freuen darf: Man gehört zu denen, die es geschafft haben, und alle haben
dazu beigetragen, auch wenn einige vor allem mitgerissen worden sind. Entscheidend
ist in diesem Moment nur das Dazugehören.
Dieser Prozess des bewussten Zusammenschmiedens einer Klasse zu einer Einheit
hat eine Wirkung auf der kognitiven, der sozialen wie auch der
motivational-emotionalen Ebene und insgesamt auf die Homogenität der Gruppe. Man muss von diesem Prozess nur Gebrauch
machen.
·
Zusammenfassend
die Konkretisierung von These 6: Die
Klassengemeinschaft als erfolgreiche Lerngemeinschaft pflegen; das schafft
Homogenität auf vielen Ebenen. Dann aber: keine altersgemischten Klassen, keine
Integration extrem verhaltensgestörter oder erkennbar lernunwilliger Schüler,
keine Lernenden mit Migrationshintergrund, bevor sie nicht über die „basics“
der Umgangssprache verfügen (ein spezieller Diskussionspunkt), und keine
Integration neurophysiologisch oder genetisch lernbehinderter Schüler. Denn sie
alle profitieren vom Unterricht in ein und derselben Klasse massiv zu wenig, weil sie nicht mit der
„optimalen Passung“ gefördert werden können. Diese ist für angemessene Schritte
in ihrem Lernen nötig und für Kontinuität in ihrer Entwicklung unverzichtbar
(unter den gegebenen erschwerten Bedingungen).
Viele Bereiche
mit Optimierungspotential für den Unterricht auf allen Stufen sind in diesen
sechs Thesen nicht explizit angesprochen (u.a. die Themen Lernstrategien und
Lerntransfer). Trotzdem steckt in den Thesen ein hohes Weiterbildungspotential, was man von L21 nicht behaupten kann. Entscheidend
ist, dass erkannt wird: L21 trägt zur Lösung anstehender Probleme in unserem
Bildungswesen zu wenig bei. Deshalb ist es müssig, nach einer Vernehmlassung an
ihm herumzuschrauben; der Fokus bleibt
falsch.
Alle
Unterrichtenden sollten eingeladen werden, L21 zu lesen, die Einleitung und die
Ausführungen zu ihrem Fach und ihrem Zyklus, überzeugende Einsichten und gute
Ideen für ihre Arbeit herausgreifen und diese autonom in ihrem Unterricht umsetzen.
Dann aber sollen sie L21 in der Schublade verschwinden lassen und sich – in selbstbestimmter
Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen – dem Lernen als Prozess und seiner Realisierung zuwenden.
Themenrelevante Publikationen des Autors
·
Lernen
– 20 Szenarien aus dem Alltag. Bern: Hans Huber, 1988, 3. Aufl. 2001; in
spanischer (1990), englischer (1999) und japanischer (2005) Übersetzung.
·
Educational Learning Theory. Chapter 6 in R. Tennyson,
F. Schott, N. Seel & S. Dijkstra (Eds.) Instructional Design: International Perspectives. Mahwah,
NJ: Erlbaum, pp. 79-112, 1997.
·
(mit M. Stöcklin) Fraction Calculation – A Didactic
Approach to Constructing Mathematical Networks. Learning and Instruction, 1997, 7(3), pp. 211-233
·
Lernen
und Wissenserwerb. In: A. Krapp & B. Weidenmann (Hrsg.)(2006, 5. Aufl.)
Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz, pp. 137-202.
·
Wiederholungsstrategien.
In: H. Mandl & H.F. Friedrich (Hrsg.), Handbuch der Lernstrategien.
Göttingen: Hogrefe, 2006, pp. 101-113.
·
Der
Kick zum effizienten Lernen – Erfolgreich und nachhaltig ausbilden dank
lernpsychologischer Kompetenz an 30 Beispielen. Bern: h.e.p. 2007.
In französischer Übersetzung Le processus de l’apprentissage – Analyse
détaillée de trente exemples de cas. Berne:
h.e.p. (in Zusammenarbeit mit Berufsschulen und Experten der Berufsbildung)
·
Forgetting While Learning: A Plea For Specific
Consolidation. Journal of Cognitive Education and Psychology, 2009, Vol. 8(2),
pp. 117-127.
Ferner:
Ferner:
·
Mathematik
als Denkerziehung. Stuttgart: Klett, 1973, eine Auseinandersetzung mit dem
damaligen Boom der „Neuen Mathematik“ (Mengenlehre u.a.m.)
·
Visuelle
Vorstellungen beim Lösen elementarer Probleme. Stuttgart: Klett-Cotta, 1980, angewandte
kognitionspsychologische Forschung
Juli 2014
(leichte Revision 23.11.2018)
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