Seit diesem Sommer müssen alle Schulen im Kanton Solothurn integrativ unterrichten. Was einer der grössten bildungspolitischen Entscheide
2018 im Klassenzimmer verändert – und was von der Kritik an der Vorlage nach
jahrelanger Diskussion übrig bleibt.
"Nicht perfekt, aber gut": Was die spezielle Förderung für die Schulen bedeutet, Solothurner Zeitung, 27.12. von Noëlle Karpf
Hochbegabte und Kinder mit Lernschwierigkeiten
sitzen im gleichen Klassenzimmer. Das ist – einfach gesagt – der Gedanke hinter
der Speziellen Förderung. Diese gilt im ganzen Kanton: seit diesem Sommer
müssen die Schulen alle Kinder in der Regelklasse unterrichten – abgesehen etwa
von Kindern mit Behinderung. Neu ist das Thema aber nicht. Schon vor Jahren
begann die politische Debatte (siehe auch Kasten «Jahrelange Einführung»).
In den meisten Schulhäusern ist die spezielle
Förderung zudem heute schon Realität. So hat das Solothurner Schulhaus Brühl
bereits vor 15 Jahren damit angefangen. Hier unterrichtet Andreas von Känel,
45, eine 5. und 6. Klasse. Daniela Plüss, 34, arbeitet als Heilpädagogin mit
vier Klassen dieser Stufe. Ein Gespräch über Stolpersteine und Vorteile der
integrativen Schule – entlang von fünf Kritikpunkten und Fragen, die in
der langen Debatte Thema waren.
1.: Mehr «schwierige Kinder» in der Regelschule =
grössere Belastung für die Lehrpersonen?
Rund sechs der 20 Kinder, mit welchen von Känel und
Plüss arbeiten, haben eine Förderstufe – eben aufgrund von beispielsweise Lernschwierigkeiten.
Zu einer Förderstufe gehören etwa individuelle Lernziele im Matheunterricht und
keine Noten wie die Gspändli. Mit diesen Kindern wird aber nicht im stillen
Kämmerlein, sondern integrativ – in der Klasse gearbeitet. Für diese Art Unterricht
braucht es mehr Absprache zwischen dem Lehrer und der Heilpädagogin, mehr
Arbeitsblätter und Betreuung für die unterschiedlichen Niveaus im Schulstoff.
Heilpädagogin Plüss erklärt: «Bei uns steht nicht mehr ein Lehrer vor der Tafel
und ‹schwätzt›. Dadurch ist der Unterricht aufwendiger geworden. Aber auch
besser.»
2.: Es gibt zu wenige Heilpädagogenfür die
Umsetzung der Speziellen Förderung.
Im Rahmen der speziellen Förderung gibt es einen
Pool mit vom Kanton bezahlte Förderlektionen. Also Schulstunden, in welchen die
Heilpädagogin im Klassenzimmer arbeitet. Pro 100 Kinder gibt es auf Primarstufe
20-28 Lektionen. In der Klasse von Andreas von Känel ist Heilpädagogin Plüss
rund 6 Lektionen in der Woche anwesend. Von Känel räumt ein: «Wenn es zwei
Förderlektionen mehr wären, könnte man sicher noch integrativer arbeiten und
dem einzelnen Kind mehr gerecht werden.»
Heilpädagogin Plüss erklärt, in den ehemaligen
Kleinklassen sei es einfacher gewesen, als sich die heilpädagogische Lehrperson
jeweils auf diese eine Klasse konzentrieren konnte. Im Schulhaus Brühl ist
Plüss in vier Klassen tätig. Dafür hat sie so ein relativ volles Pensum. Viele
andere Heilpädagogen im Kanton können nur noch in einem kleinen Pensum
arbeiten, weil sie nur eine Handvoll Förderlektionen zugeteilt erhalten. Das
macht den Job auch unattraktiver, die Suche nach Heilpädagogen schwieriger.
3.:Hochbegabte und Kinder mit Lernschwierigkeiten
werden gefördert – andere Schüler gehen unter.
Klassenlehrer von Känel: «Diese Angst ist
unbegründet.» Heilpädagogin Plüss arbeitet nicht nur mit Kindern mit
Förderstufe, sondern auch mit gemischten Gruppen – so könnten stärkere Kinder
in der Gruppenleitung auch mal Themen erklären und so profitieren. Dafür
braucht es aber genug Ressourcen. Heilpädagogin Plüss berichtet von
Berufskollegen, die nur für zwei Lektionen in einer Klasse anwesend sind und so
natürlich nur mit denjenigen Schülern, welche eine Förderstufe haben, arbeiten
können.
4.: Integration – nur eine Illusion?
Einführungsklassen (EK) und Kleinklassen gibt es
mit der speziellen Förderung nicht mehr – dafür Kinder mit oder ohne Förderbedarf.
Führt das auch zu Separation? Die Heilpädagogin verneint. Früher habe man
vielleicht mit dem Finger noch auf die «EK-Kinder» gezeigt, so Plüss. «Aber das
Schimpfwort Förderkind gibt es nicht.» Auch würden die Kinder gar nicht
bemerken, wer Förderbedarf habe, weil sie mit allen mal arbeite. Die
Integration hat aber ihre Grenzen, fügt der Klassenlehrer an. Wenn ein Kind
immer und immer am schlechtesten abschneidet; und vor allem, wenn das Kind
darunter leidet.
5.:Spätestens beim Übertritt in die Oberstufe hört
Integration auf.
In der Primarschule wird integrativ unterrichtet,
danach wird aber wieder separiert. Oberstufenschüler kommen je nach
Leistungsniveau in die Sek B, E oder P. «Das ist schon ein Widerspruch zur hier
gelebten Integration», so Plüss. Förderlektionen gibt es zwar auch auf
Oberstufenniveau – aber weniger. Die Separation kann sich kurz vor dem
Übertritt auch dann bemerkbar machen, wenn Eltern gegen Fördermassnahmen sind.
Weil sie wollen, dass das Kind in die Sek E kommt – mit individuellen
Lernzielen im Zeugnis ist das unwahrscheinlicher.
6.: Mehr Abklärungen und Absprachen: Die Spezielle
Förderung ist auch ein Papiertiger.
Fällt ein Kind auf, wird es mit Einverständnis der
Eltern vom Schulpsychologischen Dienst abgeklärt und falls nötig wird ein
Antrag für Fördermassnahmen gestellt. Das passiert meist Anfangs der
Volksschule. Wenn es doch zu einer Abklärung kommt schätze sie die Arbeit mit
den Fachpersonen, sagt Heilpädagogin Plüss. «Es kann aber schon ‹papierig› sein
– weil es von jeder Stelle und für jeden Entscheid eine Unterschrift braucht.»
Klassenlehrer von Känel: Die Lehrperson sei «an vorderster Front», finde
vielleicht, dass zum Beispiel ein Flüchtlingskind, das zum ersten Mal in
Deutsch unterrichtet wird, fürs Erste doch besser vom Englisch und Französisch
Lernen befreit werden sollte. Wohingegen der Schulpsychologische Dienst zuerst
den Grundsatz «jedes Kind hat Anrecht auf Bildung» vorträgt und dann abklärt.
Abschliessend finden Plüss und von Känel: Das
System ist nicht perfekt, aber gut. Hier am Schulhaus Brühl hat sich die
Spezielle Förderung eingespielt. Andere Schulen sind aktuell an der Umsetzung.
Sie müssen Förderlektionen aufteilen und Heilpädagogen rekrutieren. Zudem
lassen sich nicht alle Lehrpersonen gerne von den Heilpädagogen «dreinreden».
Andere sind überfordert, weil sie den Schulstoff für eine viel breiter
gefächerte Klasse vermitteln müssen und dafür zu wenige Förderlektionen mit
heilpädagogischer Unterstützung haben. Von diesen Schulen wollte sich auf
Anfrage dieser Zeitung noch keine äussern. Einzelne Lehrpersonen scheuten sich,
«etwas politisch Heikles» zu sagen. Oder aber es hiess, man könne noch gar
nicht Bilanz ziehen darüber, was die Spezielle Förderung in der Schule
bedeutet.
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