28. Dezember 2018

Positive Bilanz der Integration


Seit diesem Sommer müssen alle Schulen im Kanton Solothurn integrativ unterrichten. Was einer der grössten bildungspolitischen Entscheide 2018 im Klassenzimmer verändert – und was von der Kritik an der Vorlage nach jahrelanger Diskussion übrig bleibt.
"Nicht perfekt, aber gut": Was die spezielle Förderung für die Schulen bedeutet, Solothurner Zeitung, 27.12. von Noëlle Karpf


Hochbegabte und Kinder mit Lernschwierigkeiten sitzen im gleichen Klassenzimmer. Das ist – einfach gesagt – der Gedanke hinter der Speziellen Förderung. Diese gilt im ganzen Kanton: seit diesem Sommer müssen die Schulen alle Kinder in der Regelklasse unterrichten – abgesehen etwa von Kindern mit Behinderung. Neu ist das Thema aber nicht. Schon vor Jahren begann die politische Debatte (siehe auch Kasten «Jahrelange Einführung»).

In den meisten Schulhäusern ist die spezielle Förderung zudem heute schon Realität. So hat das Solothurner Schulhaus Brühl bereits vor 15 Jahren damit angefangen. Hier unterrichtet Andreas von Känel, 45, eine 5. und 6. Klasse. Daniela Plüss, 34, arbeitet als Heilpädagogin mit vier Klassen dieser Stufe. Ein Gespräch über Stolpersteine und Vorteile der integrativen Schule –  entlang von fünf Kritikpunkten und Fragen, die in der langen Debatte Thema waren.

1.: Mehr «schwierige Kinder» in der Regelschule = grössere Belastung für die Lehrpersonen?
Rund sechs der 20 Kinder, mit welchen von Känel und Plüss arbeiten, haben eine Förderstufe – eben aufgrund von beispielsweise Lernschwierigkeiten. Zu einer Förderstufe gehören etwa individuelle Lernziele im Matheunterricht und keine Noten wie die Gspändli. Mit diesen Kindern wird aber nicht im stillen Kämmerlein, sondern integrativ – in der Klasse gearbeitet. Für diese Art Unterricht braucht es mehr Absprache zwischen dem Lehrer und der Heilpädagogin, mehr Arbeitsblätter und Betreuung für die unterschiedlichen Niveaus im Schulstoff. Heilpädagogin Plüss erklärt: «Bei uns steht nicht mehr ein Lehrer vor der Tafel und ‹schwätzt›. Dadurch ist der Unterricht aufwendiger geworden. Aber auch besser.»

2.: Es gibt zu wenige Heilpädagogenfür die Umsetzung der Speziellen Förderung.
Im Rahmen der speziellen Förderung gibt es einen Pool mit vom Kanton bezahlte Förderlektionen. Also Schulstunden, in welchen die Heilpädagogin im Klassenzimmer arbeitet. Pro 100 Kinder gibt es auf Primarstufe 20-28 Lektionen. In der Klasse von Andreas von Känel ist Heilpädagogin Plüss rund 6 Lektionen in der Woche anwesend. Von Känel räumt ein: «Wenn es zwei Förderlektionen mehr wären, könnte man sicher noch integrativer arbeiten und dem einzelnen Kind mehr gerecht werden.»

Heilpädagogin Plüss erklärt, in den ehemaligen Kleinklassen sei es einfacher gewesen, als sich die heilpädagogische Lehrperson jeweils auf diese eine Klasse konzentrieren konnte. Im Schulhaus Brühl ist Plüss in vier Klassen tätig. Dafür hat sie so ein relativ volles Pensum. Viele andere Heilpädagogen im Kanton können nur noch in einem kleinen Pensum arbeiten, weil sie nur eine Handvoll Förderlektionen zugeteilt erhalten. Das macht den Job auch unattraktiver, die Suche nach Heilpädagogen schwieriger.

3.:Hochbegabte und Kinder mit Lernschwierigkeiten werden gefördert – andere Schüler gehen unter.
Klassenlehrer von Känel: «Diese Angst ist unbegründet.» Heilpädagogin Plüss arbeitet nicht nur mit Kindern mit Förderstufe, sondern auch mit gemischten Gruppen – so könnten stärkere Kinder in der Gruppenleitung auch mal Themen erklären und so profitieren. Dafür braucht es aber genug Ressourcen. Heilpädagogin Plüss berichtet von Berufskollegen, die nur für zwei Lektionen in einer Klasse anwesend sind und so natürlich nur mit denjenigen Schülern, welche eine Förderstufe haben, arbeiten können.

4.: Integration – nur eine Illusion?
Einführungsklassen (EK) und Kleinklassen gibt es mit der speziellen Förderung nicht mehr – dafür Kinder mit oder ohne Förderbedarf. Führt das auch zu Separation? Die Heilpädagogin verneint. Früher habe man vielleicht mit dem Finger noch auf die «EK-Kinder» gezeigt, so Plüss. «Aber das Schimpfwort Förderkind gibt es nicht.» Auch würden die Kinder gar nicht bemerken, wer Förderbedarf habe, weil sie mit allen mal arbeite. Die Integration hat aber ihre Grenzen, fügt der Klassenlehrer an. Wenn ein Kind immer und immer am schlechtesten abschneidet; und vor allem, wenn das Kind darunter leidet.

5.:Spätestens beim Übertritt in die Oberstufe hört Integration auf.
In der Primarschule wird integrativ unterrichtet, danach wird aber wieder separiert. Oberstufenschüler kommen je nach Leistungsniveau in die Sek B, E oder P. «Das ist schon ein Widerspruch zur hier gelebten Integration», so Plüss. Förderlektionen gibt es zwar auch auf Oberstufenniveau – aber weniger. Die Separation kann sich kurz vor dem Übertritt auch dann bemerkbar machen, wenn Eltern gegen Fördermassnahmen sind. Weil sie wollen, dass das Kind in die Sek E kommt – mit individuellen Lernzielen im Zeugnis ist das unwahrscheinlicher.

6.: Mehr Abklärungen und Absprachen: Die Spezielle Förderung ist auch ein Papiertiger.
Fällt ein Kind auf, wird es mit Einverständnis der Eltern vom Schulpsychologischen Dienst abgeklärt und falls nötig wird ein Antrag für Fördermassnahmen gestellt. Das passiert meist Anfangs der Volksschule. Wenn es doch zu einer Abklärung kommt schätze sie die Arbeit mit den Fachpersonen, sagt Heilpädagogin Plüss. «Es kann aber schon ‹papierig› sein – weil es von jeder Stelle und für jeden Entscheid eine Unterschrift braucht.» Klassenlehrer von Känel: Die Lehrperson sei «an vorderster Front», finde vielleicht, dass zum Beispiel ein Flüchtlingskind, das zum ersten Mal in Deutsch unterrichtet wird, fürs Erste doch besser vom Englisch und Französisch Lernen befreit werden sollte. Wohingegen der Schulpsychologische Dienst zuerst den Grundsatz «jedes Kind hat Anrecht auf Bildung» vorträgt und dann abklärt.

Abschliessend finden Plüss und von Känel: Das System ist nicht perfekt, aber gut. Hier am Schulhaus Brühl hat sich die Spezielle Förderung eingespielt. Andere Schulen sind aktuell an der Umsetzung. Sie müssen Förderlektionen aufteilen und Heilpädagogen rekrutieren. Zudem lassen sich nicht alle Lehrpersonen gerne von den Heilpädagogen «dreinreden». Andere sind überfordert, weil sie den Schulstoff für eine viel breiter gefächerte Klasse vermitteln müssen und dafür zu wenige Förderlektionen mit heilpädagogischer Unterstützung haben. Von diesen Schulen wollte sich auf Anfrage dieser Zeitung noch keine äussern. Einzelne Lehrpersonen scheuten sich, «etwas politisch Heikles» zu sagen. Oder aber es hiess, man könne noch gar nicht Bilanz ziehen darüber, was die Spezielle Förderung in der Schule bedeutet.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen