24. Dezember 2018

Monokultur statt Methodenfreiheit


Ein «Mist» sei das, nervten sich Politiker, Lehrkräfte und Eltern im Kanton Basel-Landschaft. Sie meinten das Projekt «Passepartout» und seine Lehrmittel in den Fächern Französisch und Englisch. Dessen Bilanz ist in der Tat dürftig: wenig Lernerfolg, viel Frust. Deshalb reichten besorgte Bürger im März 2016 eine Initiative ein, die den «Ausstieg aus dem gescheiterten ‹Passepartout›-Fremdsprachenprojekt» und ein Verbot von dessen Lehrmitteln fordert.
Schweizer Lehrkräfte im Korsett der Lehrmittel, NZZ, 22.12. von Jörg Krummenacher

Im vergangenen Februar hiess der basellandschaftliche Landrat die Initiative knapp gut. Vor kurzem hat nun der Bildungsrat seine Empfehlungen zur Umsetzung in die Anhörung geschickt. Er schlägt eine freie Wahl der Lehrmittel vor: Jede Lehrperson soll künftig aus einer kantonalen Liste von Lehrmitteln frei auswählen können. Es sei ihm ein ausdrückliches Anliegen, schreibt dazu der Bildungsrat, «jeder Lehrperson in möglichst allen Fächern und Schulstufen ein methodisch und didaktisch vielfältiges Angebot an Lehrmitteln zur Auswahl zu stellen». Das Ziel, das er mit dieser «geleiteten Lehrmittelfreiheit» verfolgt, ist auf die Volksschule der gesamten Deutschschweiz anwendbar: Die fachlich-berufliche Verantwortung der Lehrpersonen und ihre Methodenfreiheit sollen gestärkt werden.

Jedem Kanton seine Lehrmittel
Kaum sind in den Kantonen die Wogen um Harmos, den Lehrplan 21 und den Sprachenunterricht in der Primarschule verebbt, geraten somit die Lehrmittel in den Fokus. Am Projekt «Passepartout» sind neben Basel-Landschaft sechs weitere Kantone beteiligt: Basel-Stadt, Bern, Solothurn, Freiburg, das Wallis und Graubünden, wobei die Bündner nur das Englisch-Lehrmittel verwenden. Lehrkräfte und Schüler müssen sich im engen Korsett eines auf breiter Basis als untauglich empfundenen Einheitslehrmittels bewegen. Kritik gibt es in allen beteiligten Kantonen. Sie führt dazu, dass die «Passepartout»-Lehrmittel nachgebessert oder – etwa per Volksentscheid in Basel-Landschaft – wieder abgeschafft werden.

Die Diskussion um Qualität und Auswahl der Lehrmittel betrifft indes alle 21 Deutschschweizer Kantone sowie das Fürstentum Liechtenstein. Sie sind der Interkantonalen Lehrmittelzentrale angeschlossen, welche die Angebote der Lehrmittelverlage zusammenfasst und eine Übersicht über die in den Kantonen eingesetzten Lehrmittel liefert. Längst nicht in jedem Kanton gibt es, wie etwa in Zürich, einen eigenen Verlag. Doch jeder Kanton entscheidet für sich, welche Lehrmittel in seinen Schulen eingesetzt werden können oder müssen. Dabei besteht, wie das üblich ist in der föderalistischen Schweizer Bildungslandschaft, eine kunterbunte Vielfalt. Eine kantonsübergreifende Lehrmittelpolitik ist nur gerade in Ob- und Nidwalden ersichtlich.

Monokultur statt Methodenfreiheit
Von Lehrmittelfreiheit, wie sie der Baselbieter Bildungsrat vorschlägt, kann in manchen Kantonen keine Rede sein. «In der schulischen Realität existieren rigide Vorschriften zur Wahl der Lehrmittel. Das führt dazu, dass die Methodenfreiheit eingeschränkt wird, die gemäss Lehrplan 21 eigentlich gewährleistet sein muss», sagt der Bündner Sprachdidaktiker und Sekundarlehrer Urs Kalberer. Er kritisiert intransparente Beschaffungsentscheide, bei denen andere als pädagogische Interessen mitspielen können, und beklagt sich über Monopollehrmittel, welche die Lehrkräfte bevormunden.
Kalberer, der den Blog «Schule Schweiz» betreibt, ist überzeugt: «Lehrmittel kontrollieren den Unterricht viel effizienter als ein Lehrplan.» Würden Einheitslehrmittel eingesetzt, fördere diese eine didaktische Monokultur in den Schulen.

Als besonders störend empfindet er den Lehrmittelzwang bei den Sprachen. Das gelte nicht nur für Französisch und Englisch, sondern auch für Deutsch, etwa in den Kantonen Graubünden, Wallis und Zug, wo ein einziges Lehrmittel im Einsatz ist. Kalberer taxiert es als «unbrauchbar». Unbefriedigend sei die Situation auch bei neuen Fächern des Lehrplans 21: In den Bereichen Geschichte, Geografie, Medien und Informatik oder bei Wirtschaft/Arbeit/Haushalt müsse man angesichts der geringen Auswahl an Lehrmitteln nehmen, was erhältlich sei. In manchen Kantonen sei ein einziges Geschichtsbuch im Einsatz, das inhaltlich überladen und dessen Sprache zu schwierig sei.

Auswahl der Lehrkraft überlassen
Mit seiner Kritik steht Urs Kalberer nicht allein da. «Lehrpersonen der Volksschule sind in der Wahl ihrer Lehrmittel und Lehrmethoden stark eingeschränkt», bestätigt Beat Schwendimann vom Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), wo er die pädagogische Arbeitsstelle leitet. In den meisten Kantonen werde das Lehrmittel vorgegeben.

Der LCH fordert deshalb seit Jahren, dass Lehrpersonen das passende Lehrmittel frei oder aus einer anerkannten Liste auswählen können. «Niemand kennt eine Klasse besser als deren Lehrperson», sagt Schwendimann. Deshalb solle die Lehrkraft entscheiden können, welches Lehrmittel und welche Lehrmethode sich für eine Klasse am besten eigneten. Beat Schwendimann würde es begrüssen, wenn die Empfehlung des Baselbieter Bildungsrats auch in anderen Kantonen umgesetzt würde. Handlungsbedarf sieht er zudem bei den Zulassungsbedingungen für Lehrmittel in der Volksschule: «Bis heute fehlt ein allgemeinverbindliches Verfahren auf sprachregionaler Ebene.»

Freiheit nicht eingeschränkt
Eine andere Sichtweise nimmt die Pädagogische Hochschule Zürich ein. «Im Grundsatz besteht eine grosse Lehrmittelfreiheit in der Deutschschweiz», sagt Alexandra Totter, die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Schulentwicklung. Obligatorische Lehrmittel seien zwar unterrichtsleitend, die Methodenfreiheit werde jedoch nicht eingeschränkt. Totter ist überzeugt, dass sich die neuen Lehrmittel «im Vergleich zu früheren Schulbüchern enorm weiterentwickelt haben und den Lehrpersonen ein sehr breites methodisches Spektrum eröffnen». Zudem dürften die Lehrpersonen ergänzend zu den obligatorischen Lehrmitteln auch andere Unterrichtsmittel einsetzen.

Alexandra Totter bestätigt, dass grosse kantonale Unterschiede bestehen. Während etwa der Kanton Bern obligatorische Lehrmittel nur für Mathematik und die Fremdsprachen vorschreibe, tue dies der Kanton St. Gallen für neun Fächer. Zürich befinde sich im Mittelfeld: Hier gebe es ein Obligatorium für Deutsch, Französisch, Englisch, Mathematik, Natur und Technik sowie Religionen, Kultur und Ethik.

Praxistauglich: Ja oder Nein?
Marcel Gübeli, der die interkantonale Lehrmittelzentrale leitet, beobachtet seinerseits eine Tendenz in Richtung Öffnung, was dem Eindruck Kalberers, zunehmend Einheitslehrmittel verwenden zu müssen, ebenfalls widerspricht. «Selbst bei Fremdsprachen und Mathematik, wo früher überall Obligatorien bestanden, werden heute teilweise Alternativobligatorien definiert», sagt Gübeli. Insgesamt stelle er fest, dass grundsätzlich in allen Kantonen eine hohe Mitsprache der Lehrpersonen bei der Auswahl der Lehrmittel bestehe. Dabei werde besonders auf die Praxistauglichkeit geachtet. Daran habe auch der Lehrplan 21 nichts geändert.

Urs Kalberer sieht dies anders. Er verweist auf die pädagogischen Hochschulen, die teilweise «weltfremde Methoden aushecken und den Verlagen vorschreiben, wie die Lehrmittel auszusehen haben». Auch deshalb freue er sich über die Empfehlungen des basel-landschaftlichen Bildungsrats: «Sollten sich diese auf breiter Basis durchsetzen, würde die Macht der pädagogischen Hochschulen beschnitten, und die Verlage wären wieder freier, Lehrmittel zu produzieren, die in der Praxis bestehen.»


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen