Ein «Mist» sei das, nervten sich Politiker, Lehrkräfte und Eltern im
Kanton Basel-Landschaft. Sie meinten das Projekt «Passepartout» und seine
Lehrmittel in den Fächern Französisch und Englisch. Dessen Bilanz ist in der
Tat dürftig: wenig Lernerfolg, viel Frust. Deshalb reichten besorgte Bürger im
März 2016 eine Initiative ein, die den «Ausstieg aus dem gescheiterten
‹Passepartout›-Fremdsprachenprojekt» und ein Verbot von dessen Lehrmitteln
fordert.
Im vergangenen Februar hiess der basellandschaftliche Landrat die Initiative
knapp gut. Vor kurzem hat nun der Bildungsrat seine
Empfehlungen zur Umsetzung in die Anhörung geschickt. Er schlägt eine freie
Wahl der Lehrmittel vor: Jede Lehrperson soll künftig aus einer kantonalen
Liste von Lehrmitteln frei auswählen können. Es sei ihm ein ausdrückliches
Anliegen, schreibt dazu der Bildungsrat, «jeder Lehrperson in möglichst allen
Fächern und Schulstufen ein methodisch und didaktisch vielfältiges Angebot an
Lehrmitteln zur Auswahl zu stellen». Das Ziel, das er mit dieser «geleiteten
Lehrmittelfreiheit» verfolgt, ist auf die Volksschule der gesamten
Deutschschweiz anwendbar: Die fachlich-berufliche Verantwortung der
Lehrpersonen und ihre Methodenfreiheit sollen gestärkt werden.
Jedem Kanton seine Lehrmittel
Kaum sind in den Kantonen die Wogen um Harmos, den Lehrplan 21 und den
Sprachenunterricht in der Primarschule verebbt, geraten somit die Lehrmittel in
den Fokus. Am Projekt «Passepartout» sind neben Basel-Landschaft sechs weitere
Kantone beteiligt: Basel-Stadt, Bern, Solothurn, Freiburg, das Wallis und
Graubünden, wobei die Bündner nur das Englisch-Lehrmittel verwenden. Lehrkräfte
und Schüler müssen sich im engen Korsett eines auf breiter Basis als untauglich
empfundenen Einheitslehrmittels bewegen. Kritik gibt es in allen beteiligten
Kantonen. Sie führt dazu, dass die «Passepartout»-Lehrmittel nachgebessert oder
– etwa per Volksentscheid in Basel-Landschaft – wieder abgeschafft werden.
Die Diskussion um Qualität und Auswahl der Lehrmittel betrifft indes alle
21 Deutschschweizer Kantone sowie das Fürstentum Liechtenstein. Sie sind der
Interkantonalen Lehrmittelzentrale angeschlossen, welche die Angebote der
Lehrmittelverlage zusammenfasst und eine Übersicht über die in den Kantonen eingesetzten
Lehrmittel liefert. Längst nicht in jedem Kanton gibt es, wie
etwa in Zürich, einen eigenen Verlag. Doch jeder Kanton entscheidet für sich,
welche Lehrmittel in seinen Schulen eingesetzt werden können oder müssen. Dabei
besteht, wie das üblich ist in der föderalistischen Schweizer
Bildungslandschaft, eine kunterbunte Vielfalt. Eine kantonsübergreifende
Lehrmittelpolitik ist nur gerade in Ob- und Nidwalden ersichtlich.
Monokultur statt Methodenfreiheit
Von Lehrmittelfreiheit, wie sie der Baselbieter Bildungsrat vorschlägt,
kann in manchen Kantonen keine Rede sein. «In der schulischen Realität
existieren rigide Vorschriften zur Wahl der Lehrmittel. Das führt dazu, dass
die Methodenfreiheit eingeschränkt wird, die gemäss Lehrplan 21 eigentlich
gewährleistet sein muss», sagt der Bündner Sprachdidaktiker und Sekundarlehrer
Urs Kalberer. Er kritisiert intransparente Beschaffungsentscheide, bei denen
andere als pädagogische Interessen mitspielen können, und beklagt sich über
Monopollehrmittel, welche die Lehrkräfte bevormunden.
Kalberer, der den Blog «Schule Schweiz» betreibt, ist
überzeugt: «Lehrmittel kontrollieren den Unterricht viel effizienter als ein
Lehrplan.» Würden Einheitslehrmittel eingesetzt, fördere diese eine didaktische
Monokultur in den Schulen.
Als besonders störend empfindet er den Lehrmittelzwang bei den Sprachen.
Das gelte nicht nur für Französisch und Englisch, sondern auch für Deutsch,
etwa in den Kantonen Graubünden, Wallis und Zug, wo ein einziges Lehrmittel im
Einsatz ist. Kalberer taxiert es als «unbrauchbar». Unbefriedigend sei die
Situation auch bei neuen Fächern des Lehrplans 21: In den Bereichen Geschichte,
Geografie, Medien und Informatik oder bei Wirtschaft/Arbeit/Haushalt müsse man
angesichts der geringen Auswahl an Lehrmitteln nehmen, was erhältlich sei. In
manchen Kantonen sei ein einziges Geschichtsbuch im Einsatz, das inhaltlich
überladen und dessen Sprache zu schwierig sei.
Auswahl der Lehrkraft überlassen
Mit seiner Kritik steht Urs Kalberer nicht allein da. «Lehrpersonen der
Volksschule sind in der Wahl ihrer Lehrmittel und Lehrmethoden stark
eingeschränkt», bestätigt Beat Schwendimann vom Dachverband der Schweizer
Lehrerinnen und Lehrer (LCH), wo er die pädagogische Arbeitsstelle leitet. In
den meisten Kantonen werde das Lehrmittel vorgegeben.
Der LCH fordert deshalb seit Jahren, dass Lehrpersonen das passende
Lehrmittel frei oder aus einer anerkannten Liste auswählen können. «Niemand
kennt eine Klasse besser als deren Lehrperson», sagt Schwendimann. Deshalb
solle die Lehrkraft entscheiden können, welches Lehrmittel und welche
Lehrmethode sich für eine Klasse am besten eigneten. Beat Schwendimann würde es
begrüssen, wenn die Empfehlung des Baselbieter Bildungsrats auch in anderen
Kantonen umgesetzt würde. Handlungsbedarf sieht er zudem bei den
Zulassungsbedingungen für Lehrmittel in der Volksschule: «Bis heute fehlt ein
allgemeinverbindliches Verfahren auf sprachregionaler Ebene.»
Freiheit nicht eingeschränkt
Eine andere Sichtweise nimmt die Pädagogische Hochschule Zürich ein. «Im
Grundsatz besteht eine grosse Lehrmittelfreiheit in der Deutschschweiz», sagt
Alexandra Totter, die stellvertretende Leiterin des Zentrums für
Schulentwicklung. Obligatorische Lehrmittel seien zwar unterrichtsleitend, die
Methodenfreiheit werde jedoch nicht eingeschränkt. Totter ist überzeugt, dass
sich die neuen Lehrmittel «im Vergleich zu früheren Schulbüchern enorm
weiterentwickelt haben und den Lehrpersonen ein sehr breites methodisches
Spektrum eröffnen». Zudem dürften die Lehrpersonen ergänzend zu den
obligatorischen Lehrmitteln auch andere Unterrichtsmittel einsetzen.
Alexandra Totter bestätigt, dass grosse kantonale Unterschiede bestehen.
Während etwa der Kanton Bern obligatorische Lehrmittel nur für Mathematik und
die Fremdsprachen vorschreibe, tue dies der Kanton St. Gallen für neun
Fächer. Zürich befinde sich im Mittelfeld: Hier gebe es ein Obligatorium für
Deutsch, Französisch, Englisch, Mathematik, Natur und Technik sowie Religionen,
Kultur und Ethik.
Praxistauglich: Ja oder Nein?
Marcel Gübeli, der die interkantonale Lehrmittelzentrale leitet,
beobachtet seinerseits eine Tendenz in Richtung Öffnung, was dem Eindruck
Kalberers, zunehmend Einheitslehrmittel verwenden zu müssen, ebenfalls
widerspricht. «Selbst bei Fremdsprachen und Mathematik, wo früher überall
Obligatorien bestanden, werden heute teilweise Alternativobligatorien
definiert», sagt Gübeli. Insgesamt stelle er fest, dass grundsätzlich in allen
Kantonen eine hohe Mitsprache der Lehrpersonen bei der Auswahl der Lehrmittel bestehe.
Dabei werde besonders auf die Praxistauglichkeit geachtet. Daran habe auch der
Lehrplan 21 nichts geändert.
Urs Kalberer sieht dies anders. Er verweist auf die pädagogischen
Hochschulen, die teilweise «weltfremde Methoden aushecken und den Verlagen
vorschreiben, wie die Lehrmittel auszusehen haben». Auch deshalb freue er sich
über die Empfehlungen des basel-landschaftlichen Bildungsrats: «Sollten sich
diese auf breiter Basis durchsetzen, würde die Macht der pädagogischen
Hochschulen beschnitten, und die Verlage wären wieder freier, Lehrmittel zu
produzieren, die in der Praxis bestehen.»
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